DAS LICHT/OUTSIDE LOOKING IN
T.C. Boyle entführt den Leser in die frühen 60er Jahre und an den Ursprung der psychedelischen Revolution
Die Geschichte der amerikanischen Subkulturen der 50er und 60er Jahre ist eine verschlungene, die sich irgendwo zwischen gesellschaftspolitischem Engagement, Kunst und Rockmusik, sexueller Befreiung und Drogenkonsum abspielte. Da gab es in den 50ern die Beatniks, namentlich vertreten durch Autoren und Dichter wie Jack Kerouac (ON THE ROAD/1957), William S. Burroughs (THE NAKED LUNCH/1959) oder Allen Ginsberg (HOWL/1956) mit ihrer Liebe zum Be-Bop. Mitte bis Ende der 60er Jahre etablierte sich dann in San Francisco eine neue Subkultur, deren Vertreter schnell als „Hippies“ bezeichnet wurden – eine Bezeichnung, von denen viele der betroffenen Protagonisten nicht mal wussten, was sie bedeuten sollte. Hier war es weniger die Literatur, die das herausstechende kulturelle Merkmal war, sondern die Rockmusik. Bands wie The Grateful Dead, Quicksilver Messenger Service oder die Jefferson Airplane spielten einen neuartigen Rock, psychedelisch, offenbar von Drogenerfahrungen beeinflusst. Doch gab es auch einige Figuren, die wie Bindeglieder zwischen diesen Gruppierungen dienten.
Ken Kesey, Autor des bis heute viel gelesenen Kultromans ONE FLEW OVER THE CUCKOOS´ NEST (1962) und der vielleicht einzig wirklichen „great american novel“ SOMETIMES A GREAT NOTION (1964), war seinem Alter gemäß eher ein Vertreter der Beatniks, sammelte in den 60ern aber eine Reihe junger Menschen um sich, die mit dem herkömmlichen Leben des amerikanischen Durchschnitts brechen wollten, nannte die Gruppe The Merry Pranksters, kaufte einen alten Schulbus, den die Kommunarden bunt anmalten, und zog mit ihnen durch die Lande. Teile dieser frei flottierenden Kommune waren später wesentlicher Bestandteil der San Francisco Scene – u.a. Carolyn Adams, genannt Mountain Girl, die mit Kesey gemeinsam eine Tochter hatte, und Jerry Garcia, der dann der Leadgitarrist der Grateful Dead wurde und mit seinem außergewöhnlichen und (im Vergleich zu den damals gängigen Blues-Rock-Gitarristen) völlig anderem Gitarrenspiel deren psychedelischen Sound prägte. Tom Wolfe verewigte diesen epochalen Trip „on the bus“ in seinem Werk THE ELECTRIC KOOL-AID ACID TEST (1968).
Eine andere Figur, die für die gesamte Szene äußerst wichtig wurde, war der Harvard-Professor Timothy Leary. Er nahm die psychedelische Revolution – so die Bezeichnung für psychogene Drogen, zunächst Pilze, dann LSD, und deren Auswirkung auf die menschliche Wahrnehmung – sehr ernst und wollte sie akademisch befeuern und vorantreiben. Gerade LSD als Mittel innerer Befreiung wurde seine bevorzugte Droge, die er gemeinsam mit Richard Alpin, ebenfalls ein Harvard-Dozent, zu erforschen gedachte.
Bedenkt man, daß Literatur eine der wesentlichen Ausdrucksformen gerade der Beatniks war, erstaunt es, daß all diese Gestalten nicht selbst viel häufiger Gegenstand literarischer Auseinandersetzungen gewesen sind. Es mag verschiedenen Gründe dafür geben, sicherlich auch den, daß in den vergangenen Jahren einige Fakten bekannt wurden, die viele der ehemaligen Helden – gerade Leary, aber auch Kesey – in ein anderes, nicht immer vorteilhaftes Licht rückten. So wurde Leary, wenn auch nicht mit letzter Sicherheit, immer wieder mit der CIA in Verbindung gebracht – ähnlich wie Kesey. In dem Dokumentarfilm A JOURNEY INTO THE MIND OF P. (2001/02), der sich auf ebenso ernsthafte wie unterhaltsame Weise mit allerlei Verschwörungstheorien rund um den amerikanischen Autoren Thomas Pynchon beschäftigt, wird an mehreren Stellen auf Zusammenhänge zwischen den Protagonisten und dem amerikanischen Geheimdienst hingewiesen. An einer Stelle geht ein Interviewter so weit, der Szene in San Francisco zu unterstellen, sie habe zur Hälfte auf der Pay Roll der CIA gestanden – im Gegensatz zur Szene in Los Angeles, wohin Pynchon sich 1968 abgesetzt hatte, um an seinem Hauptwerk GRAVITY´S RAINBOW (1973) zu arbeiten.
Wozu die lange Vorrede in einem Text, der sich doch mit einem Buch von T.C. Boyle auseinandersetzen soll? Nun – es soll schlicht belegen, wie ungemein interessant und spannend die Entwicklungen und die Geschichten eben jener amerikanischen West Coast-Subkultur sind. Boyle hat sich nun in DAS LICHT (OUTSIDE LOOKING IN/2019) Timothy Learys angenommen – zumindest scheint es so, wenn man der Beschreibung des Klappentextes und einigen Rezensionen folgt. Umso verwunderlicher für denjenigen, der sich schon ein wenig Vorwissen angeeignet hat – oder sich gar wirklich für eben jene Szene interessiert – , daß Boyle auf all die oben erwähnten Belange nicht eingeht. Auch Learys Konflikte mit der Polizei und der Staatsanwaltschaft, die ihn nach Mexiko getrieben hatten, spielen hier keine Rolle, ebenso seine spätere Flucht, erneut ins Ausland. Boyle kapriziert sich auf die Jahre 1962-1964, in denen Leary in Harvard lehrte, seinen Lebensmittelpunkt später, nachdem die Universität ihn aufgrund seiner psychedelischen Experimente gefeuert hatte, in das Dorf Millbrook im Staat New York verlegte, von wo er zu seinen weiteren Reisen aufbrach.
Die Hauptfigur des Romans ist allerdings weder Leary, noch sonst jemand aus dessen illustrer Entourage, sondern der Doktorand Fitz, der, gemeinsam mit seiner Frau Joanie, in den Dunstkreis Learys, den „Inner Circle“, aufgenommen wird. Beide fühlen sich geehrt, beide gehen Learys Experimente mit, beide wachsen gemeinsam mit den anderen Vertretern jenes Kreises um den psychedelischen Professor in dessen Kommune hinein, in der zwecks psychedelischer Drogen – zunächst Psylocibin, also Pilzen, also natürlicher Stoffe, dann mit dem rein chemischen LSD, dessen Erfindung/Entdeckung durch Albert Hofmann Boyle in einem herrlich zu lesenden Einführungskapitel beschreibt – Bewußtseinserweiterung betrieben wird, was nahezu zwangsläufig dazu führt, daß sich herkömmliche bürgerliche Standards auflösen, die Teilnehmer sich sexuell „befreien“, jeder mit jedem schläft und doch irgendwie immer ein Unwohlsein in den Hinterköpfen verbleibt, betrachten sich die meisten hier doch als Wissenschaftler, nicht als Freaks.
Boyle hat sich in seiner nun schon lange währenden Schriftstellerkarriere an einigen historischen Figuren abgearbeitet. Sei es der britische Entdecker und Naturforscher Mungo Park, sei es John Harvey Kellogg – heute natürlich dank Kellogg´s Cornflakes in aller Munde – oder Alfred Charles Kinsey, auch heute noch durch den nach ihm benannten Sexualreport bekannt. Auch hat Boyle, der stilistisch durchaus einigen der Autoren nahesteht, die aus der West Coast-Szene hervorgegangen sind, sich bereits mit der amerikanischen Subkultur beschäftigt. In DROP CITY (2003) zieht es eine kalifornische Hippiekommune nach Alaska, wo sie bitter für ihre Naivität hinsichtlich des verschärften Landlebens bezahlt. Zudem verfügt Boyle selbst über allerhand Drogenerfahrungen, er weiß also, wovon er spricht. Doch sind es hier weniger die historisch verbürgten Figuren, die den Reiz des Werkes ausmachen – die bleiben eher blass, gleichen eher Abziehfiguren, denn authentische Charaktere – sondern vielmehr ist es das Ehepaar Fitz/Joanie und ihr Sohn Corey, die hier im Mittelpunkt stehen. Denn ganz so einfach, wie sie es sich vorstellen, funktioniert der Ausbruch aus dem bürgerlichen Leben, funktioniert die sexuelle Befreiung, funktioniert die Erweiterung des Bewußtseins dann eben doch nicht. Und so hat man es hier schließlich mit der Geschichte eines Scheiterns zu tun. Es scheitert eine Ehe, es scheitert ein Experiment und letztlich – selten wurde das in einem einzigen Satz so verdeutlicht, wie anhand des allerletzten dieses Romans – scheitert auch ein Traum, den sich viele bis heute zu bewahren scheinen.
Denn spätestens, wenn man erkennt, daß all die vorgeschobenen Ideen und Theorien – Gibt es einen Gott? Ist Gott eine Entität oder doch nur Ausdruck des menschlichen Geistes? Sind wir in der Lage, uns von vorgegebenen Instanzen und Institutionen zu lösen und uns selbst als göttlich zu betrachten? Gibt es ein kollektives Bewußtsein und wenn ja, wie funktioniert es? – eben nur vorgeschoben sind und die Droge irgendwann zum Selbstzweck wird, spätestens dann ist auch die ganze große, selbstlose Vorstellung von der politischen, kulturellen, menschheitsgeschichtlichen Entwicklung und Veränderung, die da angeblich angestrebt wird, desavouiert. Und T.C. Boyle hat einen diebischen Spaß daran, eben solche Träume zu zerschmettern. Das hat er in DROP CITY vorgeführt, das wurde in einem Roman wie BUDDING PROSPECTS (GRÜN IST DIE HOFFNUNG/1984) mehr als deutlich. Immer wieder ist es die Diskrepanz zwischen der Idee und der banalen Wirklichkeit, auf die er seine Leser manchmal ausgesprochen brachial stößt.
Die Gruppe um Leary versteht sich, wie erwähnt, als wissenschaftlich. Lange hält Fitz an seinem Dissertationsprojekt fest, auch dann noch, wenn er gewahren muß, daß er schon Wochen und Monate nicht mehr dran gearbeitet hat, da er ständig das „Sakrament“, wie Leary die Einnahme des LSD bezeichnet, empfängt. So können er und seine Mitstreiter nur wenig damit anfangen, als eines Tages der weiter oben beschriebene Bus der Merry Pranksters auch in Millbrook aufschlägt. All die im Grunde immer noch in sehr bürgerlichen Denkbahnen verhafteten Teilnehmer an Learys Projekt können rein gar nichts mit Keseys sehr viel freierem Experiment anfangen, die bürgerliche Gesellschaft direkt anzugehen, indem man sie konfrontiert – mit Nacktheit, Musik, Kunst und eben Drogen. Die verabreichten die Pranksters ihren Mitmenschen durchaus auch ohne deren Wissen. Sie verstanden sich als Outlaws, nicht als Wissenschaftler. Boyle gelingt es nicht nur in dieser Szene, denn inneren Spießer in seinen Wissenschaftlern zu entlarven, der letztlich wohl in uns allen steckt.
So auch hinsichtlich der sexuellen Befreiung des einzelnen. Trotz der Erweiterung aller möglichen Sphären, verliebt Fitz sich unsterblich in eine der jüngeren Teilnehmer am Experiment, es kommt zu Eifersuchtsszenen, es wird aber auch beschrieben, wie die Kinder in dieser auf gleichsam natürlichem Wege entstandenen Kommune aus dem Blick geraten usw. Auch kann Boyle anhand eher nebensächlicher Details die kulturellen Spannungen, die Distanz und den Dünkel zeigen, die natürlich auch in Hipster-Kreisen herrschten. So sind nahezu alle in Millbrook entsetzt ob der elektrischen Gitarren, die aus den Lautsprechern auf dem Bus der Pranksters erschallen. Hier, in Millbrook, versteht man sich als kulturell verfeinert, man hört Jazz. Das entspricht in etwa dem tatsächlichen Verhältnis der Beatniks – vor allem Kerouacs – zu den späteren Hippies. Man mochte sich nur bedingt. Daß mit Neal Cassidy eine der zentralen Figuren der Beatnik-Szene, in ON THE ROAD als Dean Moriarty verewigt, am Steuer des Busses saß, ist dabei ein nicht explizit benannter Fakt, der aber ein lustiges Detail abgibt, bedenkt man, daß Kerouacs Buch auch den Leary-Jüngern eine Bibel ist.
Stilistisch ist das alles typischer Boyle, allerdings schraubt er seine Metaphernwut zurück, die die Übersetzungen seiner Werke manchmal etwas bemüht wirken lässt. Auch begeht er nicht den Fehler, den Leser seitenlang mit Beschreibungen von Trips und Drogenerfahrungen zu behelligen. Natürlich gibt es hier und da auch Schilderungen dessen, was Fitz und den andern widerfährt, doch hält sich Boyle weitestgehend an das Dogma, daß man gerade LSD-Erfahrungen nur sehr, sehr schwer beschreiben kann. Allein, die Tatsache, daß LSD die Zeiterfahrung nahezu nivelliert, macht es schwierig, in einem chronologisch funktionierenden Medium wie der Literatur wiederzugeben, was der Einzelne erleben kann, lässt er sich denn rückhaltlos darauf ein. Die besten Beschreibungen von LSD-Erfahrungen sind denn auch meist visuelle. In Dave Sheridans Dealer McDope-Comix gibt es solche, teils an M.C. Escher angelehnte, Darstellungen, denen es in etwa gelingt, zumindest ansatzweise Trips darzustellen. Und auch Terry Gilliam gelang in FEAR AND LOATHING IN LAS VEGAS (1998), der Verfilmung des gleichnamigen Kultbuchs von Hunter S. Thompson, eine adäquate Darstellung.
Boyle ist es aber offensichtlich auch nicht darum zu tun, hier ein Hohelied auf die Droge anzustimmen. Vielmehr will er eben untersuchen, wie gerade in den frühen 60ern der Aufbruch, der dann in die Hippiekommunen der späten 60er und der 70er Jahre mündete, begann, wie Menschen, die eigentlich nach ganz herkömmlichen Regeln und Konventionen funktionieren, in etwas hineingeraten, das sie nicht wirklich verstehen und das sie überfordert. Auch, weil es vielleicht gar nicht ihre Idee ist, sondern eben die eines Gurus, eines Führers, eines Propheten (als den Leary sich nachweislich gern sah). Interessant sind Boyles literarische Bewegungen. So wechselt er einige Male vorsichtig die Erzählperspektive – von Fitz zu Joanie und wieder zurück zu Fitz – um die Entfremdung des Paares und die inneren Motive der Figuren näher zu erläutern und den Leser so in die allzu menschlichen Untiefen der Psyche zu führen, wo dann eben doch kleingeistige und lange vorhandene Prägungen das Kommando übernehmen und uns wahrscheinlich doch weitaus stärker bestimmen, als alle Drogen der Welt es aufbrechen könnten. Daß ihm dabei einige Figuren nur recht flach gelingen, ohne einen wirklichen Charakter, ohne eigene Farben zu entwickeln, kennt man so leider auch aus früheren Werken des amerikanischen Kult-Autors.
Das ist gut zu lesen, manchmal auf eine fast grausame Art komisch und doch auch immer in dem Bewußtsein einer gewissen Tragik, die gerade dieser Generation innewohnt. Boyle verrät seine Figuren nicht, er gibt sie nicht der Lächerlichkeit preis, doch führt er recht gnadenlos vor, wie stark wir eben durch unsere Erziehung, unsere Vorbilder, die soziale Schicht geprägt und bestimmt sind, der wir entstammen. So hat man es hier letztlich mit einem Roman zu tun, der eine Ehekrise beschreibt. Unter verschärften Bedingungen. Ein Werk, das uns etwas über das jüngere Amerika erzählt, vielleicht sogar darüber, wo die Entfremdung begonnen hat, die heute zu der Spaltung der amerikanischen Gesellschaft führt, die wir erleben müssen. Nicht Boyles bestes Buch, sicher aber auch nicht sein schlechtestes.