URSULE MIROUET
Balzac in der Provinz: Menschliche Abgründe, menschliche Verkommenheit
In der Kleinstadt Nemours ist nahezu jeder mit jedem verwandt, vier Familien bestimmen mehr oder weniger die Geschicke. Als der alte Arzt Minoret in die Stadt zurück kehrt, um sich dort für sein Alter niederzulassen, sorgt dies für einige Aufregung, hat er doch keine leiblichen Nachkommen aber ein vermeintlich großes Vermögen, welches unter den verschiedenen Nichten und Neffen nach seinem Ableben aufzuteilen sei. Allerdings gibt es ein Problem: Der Alte hat ein Mündel, die Titelheldin Ursule Mirouet, die seit frühesten Kindertagen bei ihm aufwächst. Er kümmert sich liebevoll um ihre Erziehung und wird dabei vom Pfarrer und dem Friedensrichter unterstützt. Als alter Atheist liefert er sich mit dem Pfarrer heftige Schlagabtausche, doch schafft es die Kleine, sein Herz soweit zu erweichen, daß er eines Sonntages mit ihr zur Kirche geht. An dieser Stelle setzt der Roman ein, denn dies ist für alle Erben das Signal, daß die Kleine einen enormen Einfluß auf ihn ausübt und deshalb auch das Erbe erschleichen will…so setzt vor allem der ehemalige Postmeister der Stadt alles daran, nach dem Tode des Alten das Erbe an sich zu bringen und Ursule um ihr Vermögen zu prellen. Mit Hilfe ihrer Freunde und des Mannes, den sie liebt, der aber standesmäßig weit über ihr steht, gelingt es schließlich, alle Ränke aufzuklären und alles in seine geordneten Bahnen zu lenken.
Innerhalb seiner menschlichen Komödie hatte Balzac drei Romane darauf angelegt, Bilder der Provinz zu malen und deren Geschichten zu erzählen. Die Geschichte, die Balzac hier erzählt, ist in gewisser Weise sehr einfach: Ein unschuldiges Wesen wird von bösen Menschen um ihr rechtmäßiges Erbe gebracht. Interessant wird sie zum einen durch die Figuren, zum anderen – wie immer beim großen Franzosen – durch seine genaue Beobachtung. Dabei fällt hier zweierlei auf: Einmal das enorme Gewicht, das Vermögen, Leibrente und Besitz spielen und im Zeitalter der Bürgerlichen definieren, wer wie viel Macht innehat, zum anderen, daß Balzac hier fast Sympathien für den Adel erkennen läßt, sind doch alle, die Ursule Böses wollen Bürgerliche, während ihre Retter, bis auf den Friedensrichter, entweder adelig sind oder aber dem Klerus angehören. Eine auch für Balzac eher ungewöhnliche Konstellation. Er zeigt hier deutlich wie selten die Habgier und auch die Sehnsucht des „Dritten Standes“ danach, als „etwas“ zu gelten.
Einmal mehr sind es die Bösewichter, die einem beim Lesen fast am meisten Spaß bereiten. Der Schreiber Goupil, der Ursule ruinieren soll und als Belohnung ein Notariat in Aussicht gestellt bekommt, ist in Balzacs Kosmos einer der herrlichsten Verkommenen. Allerdings gestattet der Autor ihm Läuterung.
Wollte man hier etwas kritisieren, dann, daß es, damit alles an ein gutes Ende kommen kann, eines Kunstgriffes bedarf, der haarscharf an einer Schauergeschichte entlang schrammt: Alle Beweise für Ursules Erbe sind im Handlungsverlauf derart gründlich vernichtet worden, daß ihr einstiger Beschützer und Förderer ihr schon im Traum erscheinen muß, um für Aufklärung zu sorgen. Solche Konstruktionen kennt man sonst fast nur von Charles Dickens. So, wie die enorme Fixierung auf Geld und Pfründe – ganze Seiten werden mit Hin- und Herrechnereien gefüllt, wer wodurch wieviel Leibrente erhält und deswegen für wieviel gelten kann – stark an Jane Austen erinnert, bei der ein jeder ja auch ständig darüber nachdenkt, wen er heiraten soll um welchen gesellschaftlichen Status zu erreichen.
Dennoch – vielleicht nicht das schönste oder beste Buch des ungeheuerlichen Unternhemens COMÉDIE HUMAINE, unterhält auch dieses Werk mit Witz, Genauigkeit, einem gewissen Tempo der Geschichte, die sich über Jahre, fast Jahrzehnte erstreckt und der expliziten Beobachtung menschlicher Abgründe. In den Pariser Epsioden tauchen mit Rastignac und anderen auch Figuren aus anderen Teilen der COMÉDIE auf, was wie immer innerhalb des Balzac’schen Kosmos‘ für Dichte und Komplexität sorgt.
Daß Ursule natürlich ein engelsgleiches Wesen ist, welches sozusagen unter die Unholde des Gewöhnlichen fällt, versteht sich von selbst. So erscheint sie uns Heutigen auch gnadenlos langweilig, aber dies ist nunmal ein Roman Balzacs aus dem 19. Jahrhundert. Und natürlich heiratet sie ihren standesgemäß weit über ihr stehenden Angebeteten – aus Liebe. Und natürlich muß sie allein dadurch, wie gut sie ist, dessen dem Adel verpflichteten Mutter zunächst das Herz erweichen.
Aber Gott, ja, manchmal ist man bereit auch die unglaublichsten Figuren einfach zu akzeptieren, wenn denn alles und alle drum herum so genau und vielschichtig ausgemalt werden.