BARROW´S BOYS. EINE UNGLAUBLICHE GESCHICHTE VON WAHREM HELDENMUT UND BRAVOURÖSEM SCHEITERN/BARROW´S BOYS

Fergus Fleming begibt sich auf eine Erkundung der Expeditionen der britischen Admiralität im 19. Jahrhundert

Sir John Barrow (1764-1848) war ein britischer Staatsbeamter, der die längste Zeit seiner beruflichen Karriere das Amt des zweiten Sekretärs der Admiralität der britischen Marine bekleidete und in dieser Funktion vor allem für etliche der für das 19. Jahrhundert so typischen Expeditionen in bis dato unbekannte Regionen der Welt, jene weißen Flecken auf den Landkarten, in die sogenannte Terra incognita verantwortlich zeichnete. Barrow war ein streitbarer Mann, der einer ganzen Reihe meist falscher Annahmen über die für seine Zeit fast zum Fetisch erhobene Nordwestpassage, aber auch das Polarmeer generell, den Nordpol oder den Ursprung und Verlauf des Nigers anhing und diese bis zur Selbstverleugnung vertrat. Er war intrigant und Streit niemals abgeneigt und er war ein sehr kluger Stratege, wenn es um das Erringen, den Erhalt und das Ausüben von Macht ging. Deshalb war er auch nie daran interessiert, in erste Positionen zu gelangen, sozusagen im Licht des Ruhms zu stehen, besser gefiel es ihm, aus dem Hintergrund zu agieren. Um die Fäden dessen, was ihn interessierte, in den Händen zu halten, war die zweite Reihe, war der Posten des zweiten Sekretärs, weitaus effektiver. Die von ihm ausgesandten Expeditionen waren zumeist Fehlschläge, selten brachten sie wesentliche Erkenntnisse, die dadurch errungenen Einsichten waren selten von grundlegendem Nutzen. Und dennoch war die Unbedingtheit, die er ausstrahlte, war sein Wille, Großbritannien auf der Weltkarte als See- und Führungsmacht zu etablieren, war sein fast fanatischer Wunsch, dass es britische Männer sein müssen, die wesentliche Entdeckungen der Weltgeschichte machen, ein ganz bedeutender Antrieb für die imperiale – und letztlich auch koloniale – Ausbreitung des britischen Weltreichs.

Der Autor Fergus Fleming widmete sich in seinem Werk BARROW´S BOYS. EINE UNGLAUBLICHE GESCHICHTE VON WAHREM HELDENMUT UND BRAVOURÖSEM SCHEITERN (BARROW´S BOYS; Original erschienen 1998; Dt. 2002, 2019) diesem umstrittenen Mann. Auf ebenso kenntnisreiche wie auch witzige Art und Weise geht Fleming den entscheidenden von Barrow initiierten Expeditionen nach, wobei das Augenmerk zwar hauptsächlich auf den Seeexpeditionen liegt, der Autor aber auch jenen Landexpeditionen Aufmerksamkeit schenkt, die vor allem das westliche Afrika erkunden sollten. Fleming hat dabei durchaus hohe Achtung vor all den Männern (es waren – zeitbedingt – nun einmal Männer, die diese Reisen und Fahrten unternahmen), die diese Expeditionen führten und oft auch erlitten, doch nimmt er genügend Distanz ein, um ihre Eitelkeiten und die daraus entstehenden Manierismen und Eigenarten angemessen zu beschreiben und – was der historische Abstand zulässt, ohne dass der Autor despektierlich wirkt – auch zu ironisieren. Denn einige derer, die hier beschrieben werden, wurden auch Opfer dieser ihrer Eitelkeiten und Eigenheiten.

Aus den letzten Sätzen geht natürlich auch hervor, dass Fleming hier keinesfalls eine Biographie John Barrows geschrieben hat. Sein Buch heißt ja schließlich auch BARROW´S BOYS, womit der Fokus durchaus hinreichend beschrieben ist. So folgt er also den wesentlichen Männern der britischen Marine jener Tage, die in Barrows Auftrag die Weltmeere besegelten, im Polarmeer kreuzten, die die Sahara und die Urwälder Westafrikas durchquerten und große Teile der weiter oben beschriebenen Terra Incognita erforschten und kartierten. Männer wie William Edward Parry, John Ross und sein Neffe James Ross, John Rae, Gordon Laing, Robert McClure, Richard Collinson und, natürlich, John Franklin, um nur einige zu nennen. Unter den Genannten dürfte Franklin der bekannteste sein, steht sein Name doch für die wohl größte Tragödie und das für lange Zeit wohl auch größte Geheimnis der Suche nach der legendären Nordwestpassage. Spätestens durch Dan Simmons Roman THE TERROR (2007) und die daraus resultierende TV-Serie (2018), dürften diese Erkundungsfahrt und ihre Schrecknisse auch den weniger an der Geschichte britischer Expeditionen des 19. Jahrhunderts Interessierten nähergebracht worden sein.

Mittlerweile ist die Forschung weiter, als sie zur Zeit der Abfassung von Flemings Buch gewesen ist. Sowohl die Terror als auch ihr Schwesterschiff, die Erebus – also jene beiden Schiffe, die Franklin zur Verfügung hatte, als er im Mai 1845 aufbrach, endgültig Barrows Traum von der Entdeckung der Passage, die den Atlantik mit dem Pazifik nördlich des nordamerikanischen Kontinents verbinden sollte, zu erfüllen – wurden inzwischen gefunden, auch der Verlauf der letztlich völlig gescheiterten Expedition konnte in den letzten Jahren nachvollzogen werden und heute wissen wir, dass es tatsächlich zu Kannibalismus und ähnlichen Grauseligkeiten kam; wissen wir aber auch, welch extremen Nöte die Mannschaften auf sich nahmen und welche Qualen die Männer durchleiden mussten. Es gibt mittlerweile etliche Werke zum Thema, eines der besten und schönsten ist jenes, welches das frühere Monty Python-Mitglied Michael Palin mit dem Titel EREBUS. THE STORY OF A SHIP (2019) verfasst hat.

Anhand dieser Fakten und Tatsachen merken geneigte Leser*innen, dass Fergus´ Werk schon einige Tage auf dem Buckel hat. Allerdings schadet das nicht. Vor allem deshalb nicht, weil Fergus´ Augenmerk eben – es wurde weiter oben bereits erwähnt – nicht ausschließlich, besser: kaum, auf Franklins Erfahrungen liegt. Vielmehr widmet er sich ausführlich den frühen Versuchen, die Nordwestpassage zu finden, die bereits 1818 begannen, ebenso ausführlich beschreibt er die unterschiedlichen Versuche, die Quelle des Niger zu finden und zu beweisen, dass er in den Nil mündet.

Fakten wie letztere sorgen immer wieder für Heiterkeit bei der Lektüre, da John Barrow, der in jungen Jahren zwar selbst gereist war – China und auch Südafrika, wo er sich niederzulassen geplant hatte, waren u.a. seine Ziele – dann aber England nie wieder verließ, sehr ausgeprägte Ansichten über die Ziele der jeweiligen Expeditionen hegte. So sah er die verschiedenen Erkundungsmannschaften, die er ausschickte, auch eher damit beauftragt, diese seine Ansichten zu unterstützen oder zu belegen. Jene Männer, die unter oftmals grausigen Bedingungen, nach Jahren, die sie in den Eiswüsten der Arktis ausgeharrt hatten, geplagt von Skorbut und anderen Mangelerkrankungen, nicht die „richtigen“ Ergebnisse nachhause brachten, strafte Barrow oft mit jahre- und jahrzehntelanger Ignoranz, manchmal gar Hass. Er war neben seiner Tätigkeit für die Admiralität auch Publizist und Rezensent und schrieb in dieser Eigenschaft auch Kritiken zu den von der Admiralität veröffentlichten Journalen seiner Kapitäne. So konnte er diese auch durchaus der Lächerlichkeit preisgeben, wenn ihm danach war und sogar ihre Karrieren empfindlich stören oder gar zer-stören.

Die oft interessantesten Aspekte in Flemings Buch sind dann auch solch scheinbare Nebensächlichkeiten: Die Intrigen, die sich innerhalb der Admiralität abspielten, die Ämterhäufungen, die es Männern wie John Barrow ermöglichten ungeheure Macht auszuüben, obwohl sie offiziell gar keine solch machtvollen Positionen einnahmen. Gerade in solchen Momenten sind Flemings Ausführungen eben auch wirklich komisch:

Nach Backs Rückkehr war der Weg für einen neuen Anlauf zur Suche der Nordwestpassage frei und 1836 drängte Sir John Barrow die Royal Geographical Society, deren Vizepräsident er war, der Admiralität, deren Sekretär er war, mit Unterstützung der Royal Society, deren Mitglied er war, eine neue Expedition vorzuschlagen. Es wundert nicht, dass der Vorschlag angenommen wurde.“ (S.403)

Desweiteren ist es eine Fülle scheinbar nebensächlicher Details, die Fleming zusammenträgt und die die Lektüre so wertvoll machen. Dass die britische Marine nach dem Ende der napoleonischen Kriege über eine Unmenge an Offizieren verfügte, für die es kaum Verwendung gab und die zu teils halbierten Löhnen arbeiten – oder einfach herumsitzen – mussten und umso dankbarer waren, auch äußerst gefährliche Aufträge, wie es die Barrow´schen Expeditionen zweifelsohne waren, anzunehmen; wie diese Männer sich gegenüber den ihnen untergebenen Männern verhielten: Einige erwartbar brutal und hart, andere aber sorgten in den endlosen Nächten der arktischen Winter, die sie eingeschlossen im Packeis ausharren mussten, dafür, dass die Männer in ihren Besatzungen Schreiben und Lesen lernten; welch teils vollkommen überfrachteten Erwartungen auch die britische Öffentlichkeit an die Expeditionen stellten und die Enttäuschungen, die deren Fehlschläge oftmals auslösten; dass ein Mann wie Franklin selbst Jahre, nachdem er längst verschollen war, in der Öffentlichkeit noch äußerst populär war und als „Held der Arktis“ galt.

Es entsteht so das Panorama eines wesentlichen Teils der britischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, das maßgeblich zu dessen imperialer Größe, wie auch immer man diese heute beurteilen mag, beitrug. Man versteht diese Männer, die mit großer Härte gegen sich und ihre Untergebenen vorgingen, die sicherlich heute vollkommen überholten Vorstellungen von Männlichkeit und Heldentum anhingen, die dessen ungeachtet aber eben doch auch bereit waren, große Risiken einzugehen, um im Geist der Aufklärung dazu beizutragen, die Welt zu erkunden und besser zu verstehen. Fleming lässt in den Beschreibungen der Begegnungen dieser fast ausschließlich weißen Besatzungen der Schiffe mit den Eingeborenen, den Inuit und den Indigenen, aber auch die Schattenseiten dieser Erkundungen und dieses Wissensdursts aufscheinen. Es wird hier bei allem Respekt vor der Leistung dieser Männer, bei aller ironischen Distanz, eben auch deutlich, dass diese Expeditionen enorme Auswirkungen auf die Welt und die Weltgeschichte hatten.

Nicht zuletzt dadurch wird Flemings Buch ein wirklich herausragendes. Auch zwei Jahrzehnte nach seiner Veröffentlichung trägt es also dazu bei, die Mentalität, den Geist zu verstehen, der die britische Gesellschaft einst antrieb, die Leistungen zu vollbringen, die sie nicht nur zu einer Seemacht aufsteigen, sondern für nahezu zwei Jahrhunderte auch das größte koloniale Imperium der Neuzeit beherrschen ließ. Und durchaus auch zu begreifen, was dies für Teile der Welt bedeutete.

 

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