BIESTER/LA CÉRÉMONIE

Ein Höhepunkt im (Spät)Werk des französischen Meisterregisseurs Claude Chabrol

Sophie (Sandrine Bonnaire) sagt schnell zu, als Catherine Lelièvre (Jacqueline Bisset) ihr einen Job als Hausmädchen in der herrschaftlichen Villa ihrer Familie anbietet. Die Lelièvres sind in der kleinen Stadt in der Bretagne eine der vornehmsten Familien; mit ihrer Konservenfabrik, der Vater Georges (Jean-Pierre Cassel) vorsteht, sind sie zu Reichtum und Ansehen gekommen. Doch gibt man sich, ganz auf der Höhe der Zeit, liberal und fortschrittlich.

Doch bald muss Sophie feststellen, dass bei aller vordergründigen Liberalität und trotz der Freundlichkeit, die ihr vor allem Catherine entgegenbringt, die in der Stadt eine kleine Galerie betreibt, vor allem Georges Lelièvre und Sohnemann Gilles (Valentin Merlet) ganz alter Geldadel, reine Bourgeoisie sind und keine Scham kennen, sich in ihrer Hörweite nicht nur über ihre Fähigkeiten in der Küche und beim Servieren der Speisen auszulassen, sondern auch ihre körperlichen Vorzüge zu bewerten. Die gelegentlich aus der Hauptstadt hinzukommende Tochter Mélinda (Virginie Ledoyen) findet das Verhalten ihres Vaters und des Bruders zwar abgeschmackt, wirklich begehrt sie aber nicht gegen die beiden auf.

Sophie ist Analphabetin, was zu verstecken ihr bisher gut gelungen ist. Mit allerlei Tricks kann sie ihre Lese- und Schreibschwäche vor anderen verbergen, im äußersten Notfall tut sie einfach so, als habe sie schriftliche Anweisungen nicht gesehen, gern flieht sie vor den Fernseher und dreht ihn so laut auf, dass sie bspw. Anweisungen zum Einkauf überhören kann. Sie ist auch nicht willens, die von der Familie angebotenen Hilfen anzunehmen, weder will sie eine Brille (als sie Sehschwäche vorschützt), noch möchte sie auf Kosten der Lelièvres den Führerschein erwerben.

Eines Tages begegnet sie der Postangestellten Jeanne (Isabelle Huppert), eine lebenslustige junge Frau, die zugleich aber auch eine latente Aggressivität ausstrahlt. Sophie fasst Vertrauen und so wendet sie sich auch an Jeanne, wenn sie bspw. einen Einkaufszettel nicht lesen kann. Jeanne wiederum zeigt besonderes Interesse an der Familie Lelièvre, die sie offenbar nicht ausstehen kann. Dies beruht, zumindest was Georges Lelièvre betrifft, auf Gegenseitigkeit. Er hält Jeanne für durchtrieben und verdächtigt sie, seine Post zu öffnen und zu lesen. Durch Georges erfährt Sophie auch, dass Jeanne im Verdacht steht, einst ihr Kind getötet zu haben.

Jeanne taucht bei einer ihrer Postzustellungen an der Villa auf, Sophie lässt sie ins Haus und ihre Freundin beginnt sofort, selbiges zu durchsuchen. Sie durchstöbert die Bibliothek, entwendet ein Buch und zerfleddert Catherines Kleiderschrank. Die Dame des Hauses bezeichnet sie als ehemaliges Modell, mit der sie einst gemeinsam gearbeitet habe, doch während es für die eine – Catherine, die von Jeanne als Flittchen, später, gegenüber Georges, gar als Hure bezeichnet wird – immer nur aufwärts gegangen sei, habe es bei ihr, Jeanne, nur zur kleinen Angestellten gereicht.

Nicht nur bei dieser Gelegenheit wiegelt Jeanne Sophie auf und erklärt ihr immer wieder, sie solle sich gegen das bourgeoise Gebaren der Lelièvres zur Wehr setzen und nicht jeden Auftrag annehmen, den man ihr gäbe. Sophie nimmt diese Tipps scheinbar teilnahmslos zur Kenntnis, zeigt sich in der Folge allerdings tatsächlich widerständiger gegen die Familie.

Als Sophie mit Jeanne ihren Geburtstag feiern will, kommt es erstmals zu einer wirklichen Auseinandersetzung mit ihren Arbeitgebern, die die Verbindung zwischen den beiden Frauen nicht gern sehen, obwohl sie zulassen, dass Jeanne Sophie regelmäßig auf ihrem Zimmer besucht, wo die beiden fernsehen. Am Abend ihres Geburtstags schleicht sich Sophie davon, obwohl sie im Haus gebraucht würde, wo eine Gesellschaft stattfindet. Dieses Verhalten führt später zu einer ersten ernsthaften Rüge durch den Hausherrn.

Sophie spricht Jeanne auf den angeblichen Kindsmord an, den diese begangen haben soll. Jeanne hält sich zurück, erklärt jedoch, man habe ihr nie etwas beweisen können. Dann konfrontiert sie Sophie mit einem Zeitungsausschnitt, in welchem davon berichtet wird, dass ein Haus abgebrannt und dabei ein alter Mann ums Leben gekommen sei. Auf dem zum Artikel gehörigen Foto ist die Tochter des Mannes abgebildet, die im Verdacht stand, dem Vater entweder nicht geholfen oder aber das Feuer gar selbst gelegt zu haben. Eindeutig ist es Sophie, die auf dem Bild zu erkennen ist. Sie lacht und erklärt ebenfalls, das Gericht habe ihr nichts nachweisen können.

Mélinda bringt ihren Freund Jéremie (Julien Rochefort) mit nachhause, der von der Familie freundlich aufgenommen wird. Dennoch ist Georges der Meinung, seine Tochter solle sich Zeit lassen mit einer ernsthaften Bindung, auch Catherine unterstützt diese Haltung, das Leben liege noch vor Mélinda, sie solle sich erst einmal ausprobieren.

Bei einer Auseinandersetzung im Postamt, wo Georges Jeanne wegen der seiner Meinung nach wiederholt geöffneten Post Vorwürfe macht, eskaliert die Situation und Georges ohrfeigt sie. Erbost verlässt er das Amt und sucht daheim die Aussprache mit Sophie. Diese solle den Kontakt mit Jeanne einstellen, zumindest wolle er, Georges, die andere Frau nicht mehr in seinem Haus wissen, die Fernsehabende seien einzustellen.

Während einer der langen Fahrten, die Jeanne und Sophie in Jeannes Citroën 2CV unternehmen, erzählt Sophie Jeanne von Georges Anweisung. Sie will wissen, weshalb ihr Arbeitgeber Jeanne derart ablehnt. Jeanne erzählt daraufhin, dass sie im Dorf wegen des Todes ihres Kindes schlecht beleumundet, allerdings unschuldig an dessen Tod sei. Sie schildert Sophie, was sich wirklich abgespielt hat und dass es ein tragischer Unfall gewesen sei, der den Tod ihres Kindes verursacht habe. Als sie Sophie fragt, wie sich das mit deren Vater wirklich abgespielt habe, lacht Sophie auch diesmal nur und geht nicht weiter auf die Frage ein.

Jeanne, aufgebracht ob Georges Gewalt gegen sie und erst recht, weil er Sophie den Umgang mit ihr verbieten will, was sie zurecht als übergriffig betrachtet, fordert ihre Freundin auf, die Familie auszuforschen. So belauscht Sophie ein Telefonat zwischen Mélinda und Jéremie, bei dem die Tochter des Hauses ihrem Freund gesteht, schwanger zu sein. Später kommt Mélinda in die Küche, wo Sophie damit beschäftigt ist, einige Sachen zu nähen. Die beiden kommen ins Gespräch, doch als Mélinda dabei eher zufällig herausfindet, dass Sophie weder lesen noch schreiben kann und ihr anbietet, es ihr beizubringen, erklärt die ihr, dass sie, sollte Mélinda nicht schweigen, den Eltern von der Schwangerschaft erzählen werde.

Mélinda ist vollkommen aufgelöst, weil sie Sophies harsche Zurückweisung, ihr helfen zu wollen, nicht versteht. Als Georges und Catherine ihre Tochter in diesem Zustand antreffen, erzählt diese ihnen alles – von ihrer Schwangerschaft, von Sophies Analphabetismus und dem Erpressungsversuch. Georges stellt Sophie zur Rede und erklärt ihr, dass das Arbeitsverhältnis gekündigt sei, sie habe eine Woche, um das Haus zu verlassen.

Sophie geht zu Jeanne und berichtet ihr von dem Rausschmiss. Jeanne bietet der Freundin an, bei ihr zu wohnen, bis sie einen neuen Job habe und sich etwas Eigenes leisten könne. Die beiden brechen auf und fahren zur Villa, um Sophies Sachen zu holen.

Die Familie Lelièvre hat sich gemeinsam vorm Fernseher niedergelassen, um eine Aufführung des Don Giovanni anzuschauen. Gilles hat extra ein Aufnahmegerät besorgt und so vorm Fernseher platziert, dass er die Oper mitschneiden kann.

Sophie und Jeanne betreten das Haus durch die Küche, um unbemerkt zu bleiben. Sie trinken einen Kakao, gehen dann in Sophies Zimmer, danach ins Schlafzimmer der Lelièvres, wo Jeanne beginnt, zu randalieren und Catherines Kleider zu zerreißen. Nach kurzem Zögern schließt Sophie sich ihr an. Dann gehen die beiden zurück in die Küche, wo Jeanne in einem Nebenraum Georges´ Jagdgewehre findet und in einer wilden Parodie so tut, als schösse sie auf alles und jeden. Sophie, die Georges dabei beobachtet hatte, wie er die Gewehre lud, erklärt Jeanne, wie man die Waffen zu handhaben hat.

Georges, aufgeschreckt durch die Geräusche, die zuvor schon aus dem oberen Stockwerk drangen, kommt in die Küche, findet die beiden Frauen vor, fordert sie auf, sofort die Gewehre hinzulegen und das Haus zu verlassen. Sophie erschießt Georges. Dann gehen die beiden Frauen ins Wohnzimmer und erschießen Catherine, Mélinda und Gilles. Um sicher zu gehen, auch wirklich alle getötet zu haben, schießt Jeanne den Dreien noch jeweils eine Kugel in den Leib und kommentiert dies.

Die beiden Frauen beschließen, dass Jeanne fährt und Sophie aufräumt, alle Spuren verwischt und dann die Polizei ruft und behauptet, sie habe die Familie bei ihrer Heimkehr tot aufgefunden. Jeanne macht sich auf den Weg, nimmt allerdings den Rekorder mit, den Gilles aufgestellt hatte, da der ihr gefällt und sie keinen hat.

Doch als Jeanne mit ihrem Wagen rückwärts aus der Einfahrt setzt, wird sie von einem heranrasenden Wagen gerammt, der sie nicht sieht und nicht rechtzeitig abbremsen kann. Jeanne stirbt.

Als Sophie den Tatort soweit präpariert hat, will sie zur Polizei gehen und melden, was sie vorgefunden habe, sieht aber nun die Unfallstelle und wie ein Krankenwagen Jeannes Leiche abtransportiert. Sie beobachtet, wie der 2CV durchsucht wird und ein Polizist das Aufnahmegerät an sich nimmt und die Abspieltaste drückt. Man hört Jeannes Stimme, ebenso die der Familie Lelièvre und schließlich die Schüsse, dann wieder Jeanne, die die Morde kommentiert.

Sophie stiehlt sich unerkannt an der Unfallsstelle vorbei und verschwindet in der Nacht.

 

Als „letzten marxistischen Film“ pflegte Claude Chabrol sein Werk LA CÉRÉMONIE (1995) zu bezeichnen – und erlaubte sich ein Späßchen mit seinem Publikum, denn natürlich ließ er es sich nicht gefallen, den Zuschauer*innen einen propagandistischen, möglicherweise an Trivialdialektik ausgerichteten Lehrfilm vorzusetzen. Oder vielleicht doch? Denn Dialektik bietet dieses nüchtern erzählte, sich ausgesprochen still abspielende Duell zwischen einer großbürgerlichen Familie, die sich nach außen gern liberal gibt (wie sollte es bei Chabrol auch anderes sein?), und der neuen Haushaltshilfe, die sich möglichst unauffällig durchs Leben zu schlagen und dabei ihren Analphabetismus zu verstecken versucht, reichlich. Und Chabrol wäre nicht Chabrol, wenn er nicht auch in seinen späte(re)n Tagen großen Spaß daran gehabt hätte, es seinem Publikum möglichst nicht einfach zu machen, im Gegenteil. Denn wie so oft bietet er auch hier eine kühl-distanzierte Analyse, ohne sich dabei als Künstler unbedingt auf eine Seite zu schlagen oder seine Sympathien eindeutig zu verteilen. Sicher, in gewisser Weise könnte man dem Film die moralische These, dass „sowas von so was kommt“ zugrunde legen, doch selbst das wäre letztlich zu banal gedacht und formuliert. Vielmehr hat man es hier mit der Chabrol´schen Variante des Verhältnisses von Herr und Knecht zu tun.

Basierend auf dem Roman A JUDGEMENT IN STONE (erschienen 1977) der Thriller- und Kriminalautorin Ruth Rendell, entwickelte Chabrol gemeinsam mit Caroline Eliacheff ein Drehbuch, in welchem die Story aus dem ländlichen England in die Bretagne verlegt und französischen Verhältnissen angepasst wurde. Zurückhaltend, fast nüchtern-analytisch, wird die Geschichte der jungen, von Sandrine Bonnaire gespielten Sophie erzählt, die im vor den Toren einer Provinzstadt gelegenen, hochherrschaftlichen Haus der Familie Lelièvre – eine lokale Dynastie, deren Wohlstand auf der Herstellung von Fischkonserven beruht – Anstellung findet. Der Vorlage folgend – allerdings in der Figurenzeichnung weniger eindeutig als diese, vielmehr ambivalent, fast mysteriös – verschwistert sich Sophie mit der von Isabelle Huppert gespielte Postangestellte Jeanne, die bald herausfindet, dass die ebenso undurchschaubare wie unnahbare Sophie möglicherweise ihren Vater umgebracht hat. Dieses Geheimnis schafft eine Verbindung mit Jeanne, da diese ihrerseits im Verdacht steht, einst ihr Kind getötet zu haben.

So haben es die Zuschauer*innen von allem Anfang an mit zwei Außenseitern zu tun, deren Leumund zumindest fragwürdig ist, keine wirklichen Identifikationsfiguren, keine Sympathieträgerinnen. Im Gegensatz zu den beiden Frauen erscheint vor allem Madame Lelièvre freundlich und aufgeschlossen, geradezu bemüht, ihrer Angestellten das Gefühl zu vermitteln, zur Familie zu gehören. Ein aussichtsloses Unterfangen und eine typische Verhaltensweise einer von schlechtem Gewissen getriebenen Bourgeoisie. Aus Angeboten – Finanzierung einer neuen Brille und des Führerscheins – erwachsen Missverständnisse, die von Sophies Seite aus, die sich, durchaus zu recht, herablassend behandelt fühlt und angestachelt durch die auf den Wohlstand der Familie neidische Jeanne, zu Abneigung, wenn nicht gar Hass gegen ihre Arbeitgeber führen. Und letztendlich ist deren Verhalten mindestens gönnerhaft, wenn nicht gar bigott, erst recht, wenn man sieht, wie sich Teile der Familie gegenüber Sophie benehmen. Vater Georges und der Sohnemann Gilles tauschen sich offen über die körperlichen Vorzüge der neuen Angestellten aus – des „Hausmädchens“, wie sie sie nennen. Auch deren Koch- und Servierkünste werden ungeniert in ihrer Hörweite diskutiert und bewertet. Man beruhigt sein herrschaftliches Gewissen, indem man ihr dann – gegen ihren Willen – die erwähnten Angebote macht. Allerdings auch mit dem Hintergedanken, dass damit die Eltern Lelièvre entlastet werden, muss Georges doch tagtäglich in die Fabrik, während Mutter Catherine eine Galerie betreibt und beide ungern als Fahrdienst für die Kinder – neben Gilles gibt es noch Mélinda, die allerdings mittlerweile studiert und einen eigenen Wagen besitzt – fungieren wollen.

Chabrol hält seinem ebenfalls zumeist der Bourgeoisie entstammenden Publikum recht gnadenlos den Spiegel vor – wie er es seine gesamte Karriere hindurch ja immer gern getan hat. Und doch – Rendells Roman muss den Regisseur elektrisiert haben, fand er hier doch etliche thematische Schwerpunkte, die sein Werk seit jeher bestimmten – liegen die Dinge hier eben nicht so eindeutig, wie sie zunächst scheinen. Und sicherlich ist das, was schließlich passiert – der Mord an der Familie Lelièvre durch Sophie und Jeanne, wobei Sophie hier erstmals das Heft des Handelns in die Hand nimmt, nachdem sie zunächst eher passiv Jeannes lebhafter Führung gefolgt war; das übrigens bis hin zur Übernahme von deren Frisur, ein Detail, typisch für Chabrol, dass kommentarlos in den Film eingefügt wird und doch so viel über das Innenleben der Protagonistin aussagt – keine „marxistische“ Tat, die Chabrols eingangs zitiertes Verdikt über den eigenen Film rechtfertigen würde. Es ist keine klassenkämpferische Tat, sondern vielmehr ein Racheakt, sicher auch ein Aufbegehren, jedoch keine ideologisch begründbare Handlung, die einer übergeordneten, theoretischen Idee entspringt. Sie ist einem tiefen subjektiven Gefühl entsprungen, wie die zuvor an der Tochter der Lelièvres erfolgte Erpressung eine Art Notwehr gewesen ist, um die eigenen Geheimnisse zu wahren. Sophie will um jeden Preis verhindern, dass ihr Analphabetismus bekannt wird, obwohl nicht nur Mélinda, sondern auch Jeanne bald ahnt, was es mit dem Geheimnis der Hausangestellten auf sich hat. Also droht sie der ihr eigentlich wohl gesonnenen Tochter des Hauses damit, deren Schwangerschaft publik zu machen.

Chabrol spinnt also ein immer dichteres Netz aus Missverständnissen, falsch verstandener Zugewandtheit, Trotz und eben den Geheimnissen, die ein jeder mit sich trägt. So gewinnt man in einer Auseinandersetzung zwischen Jeanne und Georges Lelièvre den Eindruck, deren gegenseitige Abneigung könnte andere, tiefer liegende, gar persönliche Gründe haben; erst recht, wenn man begreift, dass Jeanne und Catherine Lelièvre sich offenbar einmal näher kannten, beide als Models gearbeitet haben und sich irgendwann ihre Wege getrennt haben. So bekommt gerade Jeannes Hass auf die Familie eine zutiefst persönliche Note, nämlich die des Neids, was wiederum die hehre Vorstellung einer ideologischen Befreiung aus unterdrückerischen sozialen Zuständen ein wenig unterläuft. Zugleich eindeutiger und uneindeutiger – ganz dialektisch – sind die Widersprüchlichkeiten und Hintergründe bei Sophie gelagert. Sie bleibt das Mysterium im Zentrum des Films. Ihre Tat – hat sie den Vater getötet? – bleibt zwar unbewiesen, ihr Verhalten – auch auf Nachfrage ihrer Freundin Jeanne räumt sie den Verdacht nicht aus, sondern lacht nur, was ihn eher erhärtet – jedoch wirkt eher bestätigend. Ihr Verhalten ist allerdings von Beginn an erratisch, man begreift nie, in welchem inneren Verhältnis sie zu ihren Arbeitgebern, zu ihrer Umwelt generell steht. Etwas Unterwürfiges, fast Devotes haftet ihr an, sie scheint vor allem froh zu sein, wenn man sie schlicht ihre Arbeit machen und ansonsten in Ruhe lässt. Der Fernseher ist für sie ein Fixpunkt, immer wieder zeigt Chabrol sie gebannt irgendwelchen, oft banalen Sendungen folgen.

Doch ist vor allem die Tatsache, dass Sophie weder Lesen noch Schreiben kann – im Roman wird schon auf der ersten Seite darauf verwiesen, dass dies der Grund für eine Serie von Missverständnissen und letztlich für einen Mord sei – der Ausgangspunkt für eine nahezu schicksalhafte Verwicklung. Ohne, dass das Drehbuch oder Chabrols Inszenierung sich tiefergehender psychologischer Betrachtung hingäben, wird uns ein extrem unsicherer Charakter vorgeführt, der erst in der Selbstermächtigung durch die Waffe und des damit ausgelösten Tötens Stärke gewinnt, ein Gefühl der Macht erfährt. Ein Gefühl, dass Sophie zuvor schon einmal empfunden haben muss: Als sie ihren Vater entweder tötete, indem sie das Haus in dem er, bettlägerig, hilflos gefangen war anzündete, oder aber darauf verzichtete, ihn aus den Flammen zu retten. Anders als Jeanne, die von Huppert als selbstbewusste, manchmal freche, trotz der Tragödie um ihr totes Kind lebensfrohe und lebensbejahende Frau gespielt wird, scheint es tatsächlich so, dass Sophie der Tat, die ihr nicht nachgewiesen werden konnte, schuldig ist. Jeanne hingegen erklärt ihr auf einer gemeinsamen Fahrt in ihrem Citroën 2CV, dass sie ihr Kind selbstredend nicht absichtlich getötet habe, vielmehr sei es ein schrecklicher Unfall gewesen. Und Huppert zeigt hier ihre ganze Klasse als Schauspielerin, wenn diese Frau das, was ihr da widerfahren ist, möglichst gefasst, fast schon mit einem Lächeln zu erzählen versucht und ihr zwischendurch doch immer wieder die Gesichtszüge entgleisen und man begreift, welch ein Schmerz sich hinter der Fassade der Fröhlichkeit (die in dem nie wirklich begründeten Hass auf die Familie Lelièvre auch immer etwas latent Aggressives vorweist) verbirgt.

Es ist Chabrols Genie geschuldet, dass der Film leise, fast still daherkommt, zurückhaltend, und zugleich etwas Unheimliches, zumindest Unheilvolles verbreitend, etwas nicht Fassbares, das die Zuschauer*innen zusehends in Unruhe versetzt. Letztlich ist nicht nur Sophie, vielmehr sind all diese Figuren auf seltsame Art undurchschaubar und wirken dadurch auch ein wenig durchtrieben. Am wenigsten mag dies noch auf Mutter Catherine zutreffen, die von Jacqueline Bisset als offene, freundliche Madame gespielt wird, der dennoch eine gewisse Unsicherheit in Bezug auf die sie umgebende Welt anzumerken ist. Das mag der Tatsache geschuldet sein, dass sie, wie Jeanne, einer anderen Klasse entstammt und sich in der bürgerlichen Oberschicht, in die sie eingeheiratet hat und die Vater Georges so selbstverständlich vertritt, nicht wirklich zuhause fühlt. Auch Tochter Mélinda wirkt zumindest arglos, ein wenig naiv vielleicht, sich ihrer gesellschaftlichen Position nicht wirklich bewusst, weshalb ihr auch nicht klar ist, dass ihr Verhalten Sophie gegenüber verletzend sein könnte. So wird sie dann auch eher zufällig zu einem Faktor in dem sich anbahnenden Kampf zwischen Sophie und dem Ehepaar Lelièvre.

Chabrol verweigert – wie weiter oben schon erwähnt typisch für seinen Stil – jedwede Sympathiebekundungen, er nimmt keine Position, keine Haltung ein, sondern er führt vor, er demonstriert, er gibt den Betrachter*innen scheinbar größtmögliche objektive Informationen zur Hand, denen aber als filmische Darbietung selbstverständlich immer eine gewisse manipulative Herangehensweise innewohnt. Es ist ein Spiel mit scheinbarer Objektivität sowohl in der Handlung, dem Plot, als auch in den von Bernard Zitzermann verantworteten, der distanzierten Inszenierung Chabrols entsprechend zurückhaltenden Bildern, den gewählten szenischen wie bildlichen Ausschnitten, und der Montage, durch welche ein nahezu dokumentarischer Charakter vermittelt wird. Dieses Spiel der inhaltlichen wie formalen filmischen Elemente im Werk des Regisseurs gelangt hier zu vollendeter Meisterschaft. Das Publikum muss sich seinen eigenen Reim machen auf dieses Herr-Knecht-Verhältnis. Und es muss selbst entscheiden, ob die gewalttätigen Handlungen der beiden Frauen eine Tat der Befreiung sind. Vielleicht sind sie keine „marxistische Tat“, vielleicht aber hat Chabrol recht, wenn er seinen Film als „marxistisch“ bezeichnet? Die inszenatorische Distanz lässt den Zuschauer*innen größtmöglichen Raum, eine eigene Interpretation in das Werk hineinzulesen.

Es sind letztlich die schauspielerischen Leistungen von Isabelle Huppert und Sandrine Bonnaire, die hier Identifikation und Sympathieverteilung der Zuschauer*innen fördern und festlegen. Bonnaire glänzt in der Rolle des Hausmädchens Sophie, Huppert – seit Ende der 70er Jahre eine von Chabrols Lieblingsschauspielerinnen – verleiht der Jeanne eben genau jene Aura, die sie so schwer greifbar macht. Wie gesagt, mögen wir diese beiden nicht wirklich. Sophie nicht, da sie zu unnahbar, zu ungreifbar ist, zudem geht auch von ihr eine gewisse passive Aggressivität aus; Jeanne hingegen ist ein wenig zu forsch, sie entspricht nicht dem ihr vom Publikum zugedachten Klischee einer Trauernden, weshalb wir ihr lange nicht trauen können, nicht trauen wollen. Hinzu kommt die Tatsache, dass wir ihren sehr persönlichen Neid auf die Familie Lelièvre und auf Catherine im Besonderen sehr deutlich, zu deutlich spüren.

Und doch wandern unsere Sympathien fast automatisch zu Sophie, sobald wir mitbekommen, wie zumindest die Männer der Familie Lelièvre mit ihr umgehen, mehr noch, wenn wir begreifen, dass sie Analphabetin ist und wir ihre teils verzweifelten Versuche beobachten, dies zu verbergen. Chabrol gelingt es, lange im Ungefähren zu bleiben, was die Vorwürfe betrifft, die man den Frauen macht; und selbst, wenn wir mehr über die Hintergründe zumindest zu Jeannes „Tat“ erfahren haben, bleibt ein Restmisstrauen, ob wir ihrer Erzählung glauben können, trotz der weiter oben erwähnten Trauer, die hinter ihrer fröhlichen Außendarstellung aufscheint. Das eben erwähnte Klischee, wie sich eine trauernde Mutter zu verhalten, wie sie sich zu geben habe, auf das Buch und Regie setzen, spielt dabei natürlich eine wesentliche Rolle. Und auch mit diesem Detail des Drehbuchs gelingt Chabrol ein Spiel mit den Zuschauer*innen, packt er sie doch genau bei ihren Erwartungen und den Klischeevorstellungen, die in ihren Köpfen vorhanden sind und die wahrscheinlich erstaunlich deckungsgleich sind mit denen der Familie Lelièvre. So bleiben wir als Zuschauer*innen immer in einer Halbdistanz zu den Figuren, bleiben immer zwischen Abneigung, einem gewissen Mitleid und doch immer mal wieder auflodernder Sympathie verhaftet, ohne uns wirklich oder gar endgültig verhalten zu können.

Ein Meisterstück der Inszenierung, aber auch der Schauspielkunst ist die Darstellung dessen, wie sich langsam die Schwerpunkte zwischen den Freundinnen, aber auch zwischen Sophie und der Familie Lelièvre verschieben. Mit Jeannes Auftauchen in Sophies Leben wird sie langsam freier, sie wird widerstandsfähiger gegenüber der Familie, wobei es dem Film aber gelingt, diesen Widerstand auch als etwas Überschüssiges zu zeigen. Und auch das macht LA CÉRÉMONIE zu mehr als einem „marxistischen“ – oder zu mehr als überhaupt irgendeinem – Lehrstück: Nie zeigt der Film didaktisch eindeutig, wie hier jemand schlecht behandelt wird, nie werden wirklich nachvollziehbare Gründe liefert, die die fürchterliche Tat, wenn sie dann geschieht, „objektiv“ rechtfertigen würden. Man kann Sophies widerständige Haltung oftmals verstehen, zumal sie begreift, dass es eine Feindschaft zwischen den Lelièvres und Jeanne gibt, bei der sie sich natürlich auf die Seite ihrer Freundin schlägt. Und doch versteht man auch die Familie in einigen ihrer An- und Vorwürfe, wenn ihr „Hausmädchen“ sie scheinbar in genau den Momenten im Stich lässt, in denen es am meisten pressiert. Zudem wird Sophie als eine sperrige, auch widerspenstige Person geschildert, mit Eigenheiten wie bspw. der, sich fast manisch angezogen vor jeden Fernseher zu setzen, dessen sie ansichtig wird. In ihrem Analphabetismus ist das Fernsehen ihr Fenster zur Welt, ihr Zugriff auf eine erweiterte Realität. Zumindest scheint sie das anzunehmen. Möglicherweise ist das Fernsehen aber auch genau der Abstand, den Sophie zur Welt braucht, um ihre Taten vor sich selbst zu rechtfertigen – wenn sie denn überhaupt einen Rechtfertigungsdrang empfindet.

Wenn der Mord dann am Ende des Films geschieht, ist es geradezu ein Schock mit ansehen zu müssen, wie diese vielleicht nicht sonderlich sympathische, ansonsten aber eher harmlose Familie regelrecht hingerichtet wird. Der Schock setzt auf unterschiedlichen Ebenen ein: Was als von Jeanne inspiriertes Spiel beginnt, wenn sie sich von den Waffen im Haus der Lelièvres angezogen und fasziniert zeigt, zugleich aber mit ihrem kindlich anmutenden Rumwedeln mit den Gewehren verdeutlicht, dass sie diese Accessoires bourgeoiser Macht und Herrlichkeit eher lächerlich findet, wird zu blutigem Ernst, als Georges die beiden von ihm bereits des Hauses verwiesenen Frauen in der Küche antrifft und sie ultimativ auffordert, die Waffen niederzulegen und endlich zu gehen. Und nun ist es wider die Annahme ihrer Passivität, die sie den Film hindurch gezeigt hat, Sophie, die als erste abdrückt. Sie erschießt Georges, sie ist es, die Jeanne auffordert, ihr in den Salon zu folgen und die dann die Kommandos gibt. Erst als das Töten im Wohnzimmer beginnt, scheint doch wieder Jeanne die Anführerin zu sein und das Kommando zu übernehmen. Und auch, als die Familie tot am Boden liegt, ist sie es, die die Anweisungen erteilt, festlegt, wie Sophie sich zu verhalten habe.

Für das Publikum sind einerseits die Morde ein Schock, da Chabrol das Massaker nahezu beiläufig, ohne jedwede dramaturgische Vorbereitung oder dramatische Steigerung, ohne musikalische Untermalung ins Bild setzt, fast wie etwas Folgerichtiges; andererseits ist es aber die Erkenntnis, dass Sophie – diese schöne, stille Frau – offenbar tatsächlich eine eiskalte Mörderin ist oder zumindest sein kann. Dieser Eindruck wird in den letzten Einstellungen des Films zusätzlich dadurch unterstützt, dass sie, nachdem Jeanne, die den Tatort in ihrem Wagen verlassen wollte, in einen Unfall verwickelt und dabei getötet wurde, in die Nacht verschwindet. Es scheint Sophie nichts wirklich zu berühren, auch nicht der Tod ihrer Freundin, wenn sie Jeanne denn je wirklich als solche betrachtet haben sollte. Jetzt kommt ihr deren Tod gelegen und wie mit dem Mord an ihrem Vater – es konnte nichts bewiesen werden, so ihre Worte gegenüber Jeanne – kommt sie wohl auch mit dem Mord an der Familie Lelièvre davon. Zugute kommt ihr, dass während des Mordes zufällig ein Aufnahmegerät lief, welches Jeanne entwendet hatte und welches ein Polizist in ihrem Wagen findet, einschaltet und so nicht nur die Schüsse, sondern auch Jeannes Stimme hört, die offen darüber spricht, dass und wie sie die Lelièvres tötet.

Es ist dies ein Ende, wie es für eine Kriminalgeschichte typisch ist. Im ‚Film Noir‘ wäre es die Tonbandaufnahme gewesen, die beide Mörderinnen verraten hätte, auch Chabrols großes Vorbild, Alfred Hitchcock, hätte eine Mörderin oder einen Mörder wahrscheinlich nicht mit solch einer Tat davonkommen lassen. Und auch in der Buchvorlage wird die Protagonistin, die Sophie entspricht, durch diese Aufnahme entlarvt. „Verbrechen zahlt sich nicht aus“ wäre das zugrundeliegende Credo gewesen. Doch Chabrol entscheidet sich anders und bietet dem Publikum eher das fast schon typische Ende eines Patricia-Highsmith-Romans. So, wie Chabrol sich entscheidet, kann man in diesem Ende seines Films sicherlich einen Anklang der Aussage erkennen, dies sei der „letzte marxistische Film“. Dann nämlich, wenn man es sich – was Chabrol, wie nachgewiesen wurde, eben nicht tut – einfach machen und Sophie als unterdrücktes Element des Proletariats (oder gar des Subproletariats?) und die Tat als Befreiung und Selbstermächtigung betrachten möchte.

Eine per mörderischer Selbstermächtigung zum Subjekt gewordene junge Frau, die sich weder vorschreiben lassen möchte, was sie zu tun hat (Fahrerlaubnis erwerben), noch, wie sie sich zu verhalten hat (sich bspw. nicht mit Jeanne anfreunden, weil Vater Georges das nicht goutiert), die in diesem Akt der Selbstermächtigung auch ihre offensichtliche – und damit marxistisch gesehen objektive – Schwäche, den Analphabetismus, wenn nicht überwindet, so aber doch als Hemmnis abstreift und damit beweist, dass sie, mit ihrer Willenskraft und der ihr zur Verfügung stehenden Gewaltbereitschaft in der Lage ist, den Klassenkampf erfolgreich zu Ende zu führen. In solch einer Lesart wäre natürlich der Mord an der Familie Lelièvre schlicht ein revolutionärer Akt; und eine echte Revolution, wir ahnten es schon immer, kann nicht ohne Blutvergießen vonstattengehen.

Zumindest bietet Chabrol diese Interpretation an, soweit ist das schon richtig. Dennoch steht daneben sicherlich gleichberechtigt die Möglichkeit, dass man es bei Sophie schlicht mit einer Psychopathin zu tun hat, die sich jeglicher Verantwortung entzieht, die ohne jede Empathie den eigenen Vorteil sucht in einer Welt, in der sie – auch dafür steht der Analphabetismus stellvertretend – immer schon die Außenseiterin ist und an der sie nicht teilnehmen kann. Dann wären die Morde – der angenommene am Vater ebenso, wie die an der Familie Lelièvre – Racheakte in und an einer Welt, die schlicht so ist, wie sie ist und entsprächen somit (irrationalen) Racheakten an der Wirklichkeit selbst. Weit entfernt von allen ideologischen Implikationen. Wie einige Jahre zuvor in Ridley Scotts Road Movie THELMA & LOUISE (1991), sollte man also vielleicht nicht zu viel Ideologie oder theoretischen Hintergrund in die Figuren hineinlesen. Waren es dort zwei Frauen, die eigentlich nur ein schönes Wochenende erleben wollten und sich dann gegen einen Angreifer zur Wehr setzen mussten, also eher schuldlos schuldig wurden, liegen die Gründe für den Mord an der Familie Lelièvre vielleicht auch eher in den ganz persönlichen Geschichten der Täterinnen. Und wie einige Jahre später in Virginie Despentes´ BAISE-MOI (2000) werden die Täterinnen vielleicht eher wider ihren Willen zu Vorbildern, Symbolen eines weiter gefassten Motivs, das über ihren subjektiven Horizont hinausweist. Offene Enden und lose Möglichkeiten, wohin man schaut.

Chabrol wäre nicht Chabrol, wenn er diese unterschiedlichen Möglichkeiten in der Betrachtungsweise seines Films nicht sehr genau kalkuliert hätte. Nicht zuletzt deshalb ist LA CÉRÉMONIE als ein Höhepunkt im Schaffen Chabrols und ganz sicher als einer der besten, der wesentlichen Filme im späte(re)n Werk des Regisseurs zu betrachten.

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