DER ZWANG ZUM BÖSEN/COMPULSION
Eine klare Haltung zur Todessrafe
Die beiden jungen, hochintelligenten Studenten Arthur Strauss (Bradford Dillman) und Judd Steiner (Dean Stockwell) sehen sich ob ihrer erwiesenen Intelligenz als ihren Mitmenschen überlegen an und leiten daraus ab, daß menschliche Gesetzte für sie nicht gelten würden, da sie im Nietzscheanischen Sinne ‚Übermenschen‘ seien, die sich aus der Enge mittelmäßiger Moral befreit hätten; Raskolnikows, für die andere Gesetzmäßigkeiten gelten, als für den durchschnittlichen Bürger, da sie zu Großem, Größerem berufen seien. Als Beleg ihrer Unantastbarkeit begehen sie immer wieder kleine Bagatelldelikte, wissen aber, daß ein wahres Verbrechen, etwas Unumkehrbares erst ein wirklicher Beweis ihrer These wäre. So beschließen sie, den perfekten Mord zu begehen. Sie bringen einen Jungen aus der unmittelbaren, sehr wohlhabenden Nachbarschaft um. Doch der zwischen unnahbarer Arroganz und äußerster Unsicherheit pendelnde Steiner hat seine Brille bei dem Opfer vergessen. Strauss wähnt sich derart überlegen, daß er die Polizei mit falschen oder rein spekulativen Hinweisen meint füttern zu können und einmal mehr seine Macht genießt, als durch ihn fälschlich Beschuldigte massiven Ärger mit der Polizei bekommen und teils ihre Arbeit verlieren. Steiner hingegen verliert zusehends seine Balance. Schließlich zieht sich die Schlinge um ihn immer enger zusammen. Doch die Beamten sind klug genug, nicht nur gegen einen der Jungen zu ermitteln und so gelingt es ihnen, einen Keil zwischen die beiden zu treiben und sie gegeneinander auszuspielen. Arthur Strauss und Judd Steiner werden des kaltblütigen Mordes angeklagt und vor Gericht gestellt. Ihre Familien bemühen sich um den in diesem Fall besten Anwalt, den berüchtigten Jonathan Wilk (Orson Welles). Dieser ist ein erbitterter Gegner der Todesstrafe und so können die beiden Angeklagten zumindest damit rechnen, daß ihr Verteidiger alles Menschenmögliche tun wird, sie vor dem Strang zu bewahren. Und es gelingt ihm wirklich, anhand eines juristischen Tricks. Da nicht zuletzt durch den ehemaligen Klassenkameraden der beiden, Sid (Martin Milner), der mittlerweile für eine lokale Zeitung arbeitet, die öffentliche Meinung extrem gegen seine Mandanten eingestellt ist, plädiert Wilks auf schuldig, wodurch das Gericht nicht mehr auf Geschworene angewiesen ist, sondern nur noch vor einem Richter um das Strafmaß verhandelt wird. Davon verspricht Wilk sich größere Chancen, das Leben der Jungs zu retten. Und so geschieht es: In einem mitreißenden Schlußplädoyer tritt Wilk vehement für eine Zivilgesellschaft ein, die das Prinzip der Rache nicht mehr benötigt, die in der Lage ist, auch scheinbaren Unmenschen menschliche – im christlichen Sinne – Urteile zuteilwerden zu lassen. Für das Leben selbst stünde er hier ein, reklamiert Wilk – und kann den Richter damit schließlich überzeugen.
Aus gegebenem Anlaß sollte man noch einmal einen Blick auf jene Werke Hollywoods werfen, die, liberal, wie sich diese Stadt gern gibt, eine der größten Widersprüchlichkeiten anprangern, die die amerikanische Demokratie, die amerikanische Gesellschaft und das amerikanische Rechtssystem zu bieten haben: Die Todesstrafe. Neben Robert Wise‘ Klassiker I WANT TO LIVE (1958) muß sicherlich auch Richard Fleischers COMPULSION (1959) dazu gerechnet werden. Vielleicht ist er in seiner Konstruktion sogar etwas geschickter, da er uns zwei eindeutige, überführte Mörder vorführt und sich somit wirklich am Thema abarbeiten kann, keine weiterführenden Fragen nach Schuld und Unschuld stellen muß. Was bei Wise eine himmelschreiende Ungerechtigkeit ist, da wir ahnen, daß Susan Haywards Charakter wirklich Opfer eines Justizirrtums wird, spielt bei Fleischer keine Rolle und so kann sich der Film Grundsätzlichem zuwenden. Der Film, die Regie konzentrieren sich in der letzten halben Stunde dieses packenden Thrillers, Dramas und Gerichtsfilms ganz auf die Frage, was ganz eigentlich für und was im Eigentlichen wider die Todesstrafe spricht. Und dabei können der Film, das Drehbuch, die Regie sehr grundsätzlich und deutlich Stellung beziehen. Daß diese letzte halbe Stunde dabei nicht moralinsauer, sondern vollkommen überzeugend und spannend gelingt, hat ganz sicher damit zu tun, daß Fleischer für die wesentliche Nebenrolle des Films ein Gigant der Schauspielkunst zur Verfügung stand: Orson Welles.
Was aber noch mehr erstaunt, ist die Tatsache, daß es Richard Murphy (Drehbuch) und Richard Fleischers Regie gelingt, noch weit über das angerissene Thema hinaus hervorragende Psychogramme zweier sich in ihren Allmachtsphantasien gegenseitig anstachelnden und emotional voneinander abhängigen jungen Männer zu zeichnen. Dabei spielen unterschwellig homoerotische Motive ebenso eine Rolle, wie Fragen nach juveniler Sehnsucht nach Freundschaft, aber auch solche der Unterwerfung und Macht. Es sind diese Psychogramme, die den Film so glaubwürdig und fesselnd machen, die zwar kein Verständnis für die Täter vermitteln, denen es aber gelingt, uns deren Verhalten in Ansätzen verstehen zu lassen. Einziges Manko dieser Erklärungen und Psychogramme ist ein gelegentlich arg übertriebener Hang zur Freud’schen Analyse.
Seine Spannung bezieht COMPULSION keineswegs aus den Ermittlungen oder der Frage, wer der Mörder ist. Diese Frage ist für den Zuschauer schnell geklärt, verfolgen wir die Täter doch zumindest dabei, wie ihr Plan entsteht. Wir werden nicht Zeuge der Tat, wodurch unsere Aufmerksamkeit nicht so sehr auf den Skandal des Verbrechens, sondern auf das eigentliche, das zwischenmenschliche Drama gelenkt wird. Und dieses Drama kommt im ersten Drittel des Films eher im Gewande eines ‚Film Noir‘ daher: Zwei sich in ihrer Intelligenz suhlende Teenager, unreif, verwöhnt, jung schon alt geworden, die sich für unantastbar halten und gegenseitig anstacheln, bzw. die Nöte des andern auszunutzen wissen, um eigene Belange und Machtansprüche durchzusetzen. Nahezu brillant arbeitet das Drehbuch, welches auf einem Roman des Schriftstellers Meyer Levin beruht, die jugendlich-schnöselige Haltung bewußt vor sich hergetragener Dekadenz heraus; das seltsame Herr-und-Sklave-Verhältnis dieser beiden Jungs wird hingegen wie nebenher erzählt, was es für den Zuschauer umso befremdlicher wirken läßt. Im Grunde eine klassische Ausgangssituation des ‚Film Noir‘, wo die anstachelnde, also dominante Rolle meist eine Frau (Barbara Stanwyck; Joan Crawford) einnimmt. Umso brillanter, wie das Drehbuch diese Konstellation auf diese Männerfreundschaft zu transferieren weiß und sich dies analytisch zu Nutze macht. Wir nehmen selbst dem für die Rolle ein wenig zu alt wirkenden Bradford Dillman diesen dominanten, scheinbar „bösen“ Arthur Strauss ab. Der immer wieder unsichere Judd fleht Arthur mehrmals geradezu an, ihm Befehle zu erteilen, alles würde er für seinen Freund tun. Die sich da leise andeutende Homosexualität, die ja für junge Männer im betreffenden Alter als Reizpunkt durchaus normal ist, wird als Motiv freilich schnell fallen gelassen und eine für Judd vollkommen verunglückte Liebesszene mit Sids Freundin Ruth Evans (Diane Varsi) eingebaut, die seine inneren Zwänge und Ängste verdeutlicht und bestätigt, sicherlich aber auch dazu gedacht war, den Film nicht allzu weit in die Kontroverse abdriften zu lassen. Der Film entstand 1958/59 und noch musste man in Hollywood – gerade was Sexualität betraf – zumindest vorsichtig sein, auch wenn an allen Ecken und Enden an den rigiden Vorgaben des Hays Code gezerrt wurde[1].
Allerdings – und auch dies erinnert in gewisser Weise an den ‚Film Noir‘ – erzeugt das Drehbuch damit eine ungeheure Ambivalenz. Dem Publikum muß sich der Verdacht aufdrängen, daß Judd sich gerade wegen seiner Unberechenbarkeit gegenüber Frauen und der daraus erwachsenen, ihn bedrängenden Not, fast devot zu dem selbstsicheren, arroganten und scheinbar erfahrenen Arthur hingezogen fühlen muß. Der damals 23jährige Dean Stockwell meistert die Rolle des fast hörigen jungen Genius‘ bravourös. Neben Welles‘ Meisterleistung am Ende des Films ist Stockwell sicherlich die entscheidende Figur, der entscheidende Darsteller an der entscheidenden Stelle, um dem Film die Glaubwürdigkeit zu geben, ohne die sein Anliegen lediglich wohlfeil wäre, moralisierend und somit leicht zu übergehen. Dadurch, daß es beiden Darstellern der Jungen gelingt, ihre Rollen vielschichtig und auch widersprüchlich anzulegen und zu gestalten, wird aus einer Story, wie Wise sie in I WANT TO LIVE erzählt, ein Fall, der Gemeingültigkeit über die reine Spezifik hinaus beanspruchen kann.
Levins Buch lehnte sich mit gewissen dramaturgischen Freiheiten an den wahren Fall ‚Leopold und Loeb‘ an, der in den 20er Jahren für Aufsehen gesorgt hatte. Die Angeklagten hatten ebenfalls den perfekten Mord begehen und sich damit über gesellschaftliches Recht und Gesetz hinwegsetzen wollen, was ihnen Beweis ihrer natürlichen Überlegenheit gewesen wäre. Der damalige Verteidiger Clarence Darrow war wohl ein recht passendes Vorbild für Welles‘ Wilk. Doch die Überzeugung, die der zunächst grantelnde und grummelnde Welles in jenes lange Schlußplädoyer legt, wie er sich mehr und mehr aufschwingt, sein Argumente zunächst sachlich – oder zumindest als Sachliches – vorzutragen, um schließlich in der reinen Empörung darüber, daß Menschen sich anmaßen, Menschen das Leben – das einzige – abzusprechen und zu nehmen – und damit seine Schutzbefohlenen ganz nonchalant als das entlarvt, was sie sind: gemeine Mörder, Verbrecher, sonst nichts – , diese Gefühlsaufwallung so wahrhaftig auf die Leinwand zu bringen, da bedarf es wahrscheinlich wirklich eines Orson Welles, eines Giganten. Auch Dank Welles gelingt Fleischer nach dem anfänglichen schwarzen Thriller, dem zwischenzeitlichen Drama einer verlorenen Seele, schließlich ein packendes Gerichtsdrama. Und Welles gelingt es, die Szene so zu gestalten, daß er einen langen Monolog spricht, dabei den Raum, den er zur Verfügung hat, mit seinem voluminösen Körper durchmisst und Spannung erzeugt, ohne dabei von seinen Worten abzulenken. Und deren Inhalt – der uns ergreift, der uns vollkommen klarmacht, warum es nicht möglich ist, ein Leben zu nehmen, folgte man doch demselben Schema, das diese beiden Mörder anwandten, Intelligenz als Alleinstellungsmerkmal menschlichen Daseins zu bestimmen – dieser Inhalt geht in uns auf, weil wir ihn hören, mehr noch, weil wir ihn sehen können. Welles verkörpert eine Autorität – er ist die einzige Figur dieser Geschichte, die keinen Zweifel zuläßt, keine Ambivalenz ausstrahlt, was ihr Anliegen betrifft – , die die (moralische) Richtigkeit seiner Worte transportiert.
Richard Fleischer wiederum läßt, gemessen an der Wahl seiner Mittel, ebenfalls keinen Zweifel daran aufkommen, daß es ihm ernst ist. Er geht durchaus manipulativ vor, um Wilks Position zu stärken, dessen Partei zu ergreifen. Was dessen Position schwächen könnte – das Plädoyer des Staatsanwalts zum Beispiel – zeigt der Film nicht, enthält er dem Zuschauer vor. Es gibt häufiger solche auffallenden Auslassungen. Umso großartiger, wie weit er geht, seine Hauptprotagonisten – Arthur und Judd – mit der nötigen Düsternis auszustatten, um es dem Publikum nicht zu einfach zu machen. Es ist schwer, diese Jungspunde sympathisch zu finden. In großen, wohlsituiert aber leblos wirkenden Villen sind diese Kinder reicher Eltern daheim, hier igeln sie sich ein, hier finden sie Schutz, den Schutz einer Klasse oder Kaste, und hier brüten sie, erstarrt in Traditionen, die unbedingt behauptet werden müssen, ihre zynischen Thesen und zunehmend brutaleren Phantasien und Pläne aus. In diesem Milieu entstehen nicht nur Ideen der Selbstüberhöhung, sondern auch Abhängigkeiten. Diese Häuser, diese Schulen, diese Straßen, die darin entstehenden Freundschaften sind Gefängnisse. Fleischers schwarz-weiß-Bilder, mit der Hilfe des Kameramanns William C. Mellor in sachten Bewegungen eingefangen, machen die Enge erfahrbar, spürbar. Es ist erstaunlich, wie es Fleischer gelingt, den Film kohärent zu halten, ihm einen organischen Fluß zu geben, keine Brüche zuzulassen oder aber diese so zu gestalten, daß sie praktisch nicht auffallen oder gar gewollt wirken.
So entsteht ein bei aller Ernsthaftigkeit des Themas unterhaltsamer, spannender und konfliktreicher Film, der natürlich – wie alle Werke, die sich mit dieser Thematik beschäftigen – in seinem Ansinnen gescheitert ist. Getötet wird in den USA auch heute noch. Und man scheint wahrlich bereit zu sein, auch wieder zu archaischen Formen des Tötens zurückzukehren, um dem – vermeintlichen – Rachewillen der Gesellschaft Genüge zu leisten. Die Klassiker – COMPULSION oder I WANT TO LIVE bis zum modernen Deathrow-Drama DEAD MAN WALKING (1995), mit Abstechern zu den Europäern wie Roberto Rossellini, der in ROMA, CITTÀ APERTA (1945) eine Erschießung zeigt, und zu Krzysztof Kieślowski, der in seinem DEKALOG 5 – KRÓTKI FILM O ZABIJANIU (EIN KURZER FILM ÜBER DAS TÖTEN; 1988) die Fürchterlichkeit des Tötens zeigt und verdeutlicht, daß es eine universelle Fürchterlichkeit ist – sollten vielleicht nochmal ganz genau angeschaut werden, man kann sicherlich noch das ein oder andere damit anfangen.
COMPULSION zumindest überrascht mit seiner zeitlosen Argumentation, die heute kein Deut altbacken wirkt, im Gegenteil. Senatoren, Kongreßabgeordnete, Politiker aller Coleur – schaut diesen Film und entscheidet DANN!
[1]1956 hatte Elia Kazan für einen Skandal gesorgt, als er mit BABY DOLL ein Südstaatendrama inszenierte, in welchem die Verführung Minderjähriger, bzw. geistig Zurückgebliebener angedeutet wurde; im selben Jahr wie Fleischers COMPULSION – 1959 – erschien mit Billy Wilders Komödie SOME LIKE IT HOT ein Film, der ein permanentes Spiel mit Geschlechterrollen und -erwartungen betrieb, der die Vorgaben des Hays Code nahezu auf den Kopf stellte, was nur niemand merkte – Lubitsch Touch. Und selbst im Western durfte ein Knirps dem Helden hinterherrufen „And mother wants you!“ – obwohl es da einen quicklebendigen Vater und Gatten gab. Die moralische Basis Hollywoods erodierte merklich seit dem Ende des 2. Weltkriegs – nicht zuletzt dank des ‚Film Noir‘ und seiner gebrochenen Helden.