LASST MICH LEBEN/I WANT TO LIVE!
Robert Wise´ semidokumentarisches Meisterwerk
Die Gelegenheitsprostituierte Barbara Graham (Susan Hayward) lebt ein relativ beschwingtes Leben. Sie geht mit ihrer Freundin Peg (Virginia Vincent) aus, die beiden treiben sich mit Spielern herum und sind auch bereit, hier und da kleinere Gaunereien mitzumachen. Barbara geht soweit, einem ihrer Gespielen ein Alibi zu verschaffen und einen Meineid zu schwören, der schließlich auffliegt. Sie darf das Gefängnis vorzeitig wegen guter Führung verlassen, verstößt aber sofort gegen ihre Bewährrungsauflagen, als sie die Stadt verlässt. Schließlich versucht sie sich als „bürgerliche Mama“, doch ihr Gatte ist ein Junkie. Sie lässt sich, als ihr das Geld ausgeht, erneut mit Spießgesellen ein und diesmal sind die „kleinen Gaunereien“ schon ein anderes Kaliber. Sie dient sogar als Fahrerin eines Fluchtwagens bei einem Überfall. Dann wird sie des Mordes bezichtigt. Sie und ihre beiden Kumpel werden bei einem Einsatz verhaftet und inhaftiert. Obwohl sie wieder und wieder beteuert – und wir, das Publikum, können das bestätigen – in der betreffenden Nacht mit ihrem Mann daheim gewesen zu sein, wird sie von ihren Kameraden weiterhin als Haupttäterin genannt. Ihr Mann ist nicht aufzutreiben und als sie ihn schließlich erreicht, weigert er sich, ihr ein Alibi zu geben. Zudem hat sich die Presse, allen vorann der Reporter Pat Montgomery (Simon Oakland), auf sie eingeschossen. Sie ist in der Öffentlichkeit nun die „blutige Babs“. Aus Verzweiflung geht Barbara auf das Angebot einer Zellengenossin ein, ihr ein gekauftes Alibi zu verschaffen. Damit der betreffende Kerl ihr Deckung gibt, will der aber wissen, wo sie in jener betreffenden Nacht wirklich war. Sie beteuert auch ihm gegenüber, daheim gewesen zu sein. Er sagt ihr, daß ihm das nicht reiche, das sei ihm alles zu heiß, sie müsse ihm sagen, daß sie mit den Kerlen zusammengewesen ist, die sie bezichtigen. Schließlich gibt sie dies – entgegen dessen, was wirklich war – zu. Der angebliche Alibibeschaffer entpuppt sich dann aber als Polizeispitzel. Nun steht sie vor Gericht als doppelte Lügnerin da und da sie bereits einmal einen Meineid geschworen hatte, glaubt ihr niemand mehr. Barbara Graham wird zum Tode in der Gaskammer verurteilt. Obwohl die Presse nun umschwenkt und selbst Montgomery ihr zu helfen versucht, rückt der Hinrichtugnstermin unausweichlich näher und wird dann doch wieder aufgeschoben, selbst Minuten vor der angesetzten Hinrichtung, wird erneut verschoben, doch schließlich – die letzte Eingabe vor Gericht wurde gemacht und abgelehnt – schreitet man zur Tat. Minutiös wird die Tötung vorbereitet, die Presse auf die Zuschauerränge gelassen und die Delinquentin schließlich festgeschnallt. Barbara Graham stirbt im Gas.
Robert Wise, wie Robert Aldrich oder Richard Brooks einer der als Handwerker verkannten Regisseure jener Phase, die den Übergang des alten klassischen Studiosystems hin zu dem was einst ‚New Hollywood‘ genannt werden sollte und schließlich in die noch heute anhaltende Ära der Blockbuster mündete, Robert Wise konnte in nahezu jedem Genre, das Hollywood zu bieten hat, Erfolge vorweisen. Ob im Western, im Horrorfilm, in der Science Fiction oder dem ‚Film Noir‘ – all diese Bereiche wurden von ihm bedient. Ebenso Dramen und Komödien, Kriegsfilme und Musicals. Es wird nicht allzu viele Regisseure geben, deren Schaffen so weitläufig, so vielseitig war, wie seines.
I WANT TO LIVE! (1958) bewegt sich formal in den Grenzen des ‚Film Noir‘, zumindest die ersten zwei Drittel, seine Handlung und vor allem die inszenatorische Umsetzung erinnern meist an Dramen oder sogar Melos, mit denen der Noir so oder so eng verwandt ist. Das ‚Wrong-Man‘-Motiv, auf eine Frau übertragen, erinnert wiederum an den Noir, doch spätestens, wenn Barbara Graham verhaftet und inhaftiert wurde, ändert sich der Modus des Films. Es wird das Gerichtsmelodram gestreift, schließlich haben wir es mit einem Gefängnisfilm zu tun. Und wir haben es mit einer distanzierten, sachlichen und in ihrer Sachlichkeit manchmal unerträglich dokumentarischen Betrachtungsweise zu tun. Die Hinrichtung Grahams nahezu in Echtzeit, die distanzierte Betrachtung der Handgriffe der Henker, die das Giftgas unter dem Stuhl in der Gaskammer anbringen, die nüchternen Griffe, mit denen die Delinquentin festgeschnallt wird und schließlich der freundlich gemeinte Hinweis, sie solle, wenn sie die Kugeln klappern höre, bis zehn zählen und tief einatmen, das mache es leichter – die Inszenierung gerade des letzten Drittels und des Filmendes sorgen dafür, daß es dem Zuschauer alles andere als leicht gemacht wird.
Wise, dem es trotz seines Status als Auftragsregisseur immer gelang, eigene Belange in seinen Filmen unterzubringen[1], hatte offensichtlich ein Anliegen und liefert einen der konsequentesten und härtesten Filme des (noch) klassischen Hollywood ab. So rasant er – unterstützt durch den treibenden Jazz-Sound von Johnny Mandel – in der ersten halben Stunde Grahams durchaus fragwürdiges Leben skizziert, so nutzt er dann die Mittel des Noir, um Barbaras Abstieg ins wirkliche Gangstermilieu zu zeigen, nachdem ihr Versuch, ein „bürgerliches“ Leben mit Kind und Gatten zu führen, an dessen Drogensucht gescheitert ist. In diesen ersten Teilen des Films wirken Wise distanzierter, dem Soundtrack entsprechender Inszenierungsstil und die Bilder, die Lionel Lindon für ihn einfängt, wie der Wochenschaubericht über das wilde Leben. Graham hat ein solches „wildes“ Leben als Partygirl und Gelegenheitsprostituierte, sie beteiligt sich an kleinen Deals mit gefälschten Schecks und ab und an mal einer Betrügerei, ihr schlimmstes Vergehen ist ein Meineid – der sie schließlich ihre Glaubwürdigkeit bei den Geschworenen kosten wird. Im Grunde ist sie eine für ihre Zeit moderne Frau, die sich wenig vormachen lässt, keine Angst aber immer einen Spruch parat hat und ihr Leben genießen will. Die Art, wie Wise dies darstellt und wie er Hayward, die zu recht den Oscar für ihre Leistung bekommen hat, die Rolle ausfüllen lässt, so daß kein Bruch entsteht zwischen dem „leichten Mädchen“, das gern feiern geht, der Mutter und der angeblich so „blutrünstigen“ Babs, ist brillant hinsichtlich der kohärenten Erzählung dieser Frau. Obwohl das Publikum weiß, daß ihre Geschichte stimmt und sie den Mord nicht begangen hat, ist es schließlich weniger diese himmelschreiende Ungerechtigkeit, die uns zu schaffen macht, sondern die Erkenntnis, daß wir uns anmaßen, bei viel zu viel Unwägbarkeit dennoch zu urteilen. Dabei verdeutlicht der Film, daß man, einmal auf die sogenannte „schiefe“ Bahn geraten, immer wieder von früheren Vergehen (Meineid) eingeholt wird, er verdeutlicht, wie schnell wir abgestempelt sind bei den „ehrbaren“ Bürgern und nicht zuletzt, auch wenn dies damals eher ein Nebenprodukt gewesen sein dürfte, verdeutlicht der Film, daß man einer Frau noch lange nicht durchgehen lässt, was man Männern wie selbstverständlich nachsieht.
Anders als Richard Fleischers COMPULSION (1959), der uns zwei überführte Mörder präsentiert und seine deutlich wider die Todesstrafe gerichtete Argumentation intellektuell, hoch abstrakt führt, moralisch gar, wenn er seinem Publikum verdeutlicht, daß es unsere Pflicht ist, uns über die Taten der Mörder zu erheben, eben indem wir nicht zu finalen Mitteln greifen und damit immer die humanitäre Hoheit behalten, arbeitet I WANT TO LIVE! bei aller Distanz durchaus emotional. Wir verstehen, wie eine Frau wie Barbara Graham in die Gesellschaft gekommen ist, in der sie sich nun mal aufgehalten hat, wir begreifen, daß in dieser Gesellschaft Menschen nach Nutzen taxiert werden. Barbara ist ihren Gefährten vor allem nützlich als Hauptangeklagte, so, wie sie ihnen als Ablenkung, als Fahrer bei kleinen Diebereien und als Alibiverschafferin nützlich gewesen ist. Im Grunde haben wir es mit einem politischen Akt zu tun. Der Reporter Montgomery, auf dessen Artikeln Teile des Drehbuchs beruhen, sagt es an einer Stelle des Films ganz explizit: Solange Graham nicht hingerichtet wurde, können sich ihre beiden Mitverschwörer hinter ihr verstecken. Die werden also den Teufel tun, sie zu entlasten.
Ein kompliziertes Spiel aus juristischen Winkelzügen und ermittlungstechnischen Finten, das da abläuft. Eine dieser Finten ist letztlich die entscheidende: Das LAPD hat ihr im Gefängnis eine Falle gestellt, indem ihr ein falsches Alibi angeboten wurde. Die da schon vollkommen Verzweifelte geht darauf ein und ist sogar bereit, zu gestehen, sie sei in der Nacht mit den anderen Gangstern zusammen gewesen. Was sie nicht war. Wise zeigt Barbara Graham auch als Spielball einer Menge Kräfte, die sich um sie reißen. Sie ahnt es, wenn sie zu Montgomery sagt, jeder wolle etwas von ihr: Die Gangster, die sie als Sündenbock brauchen, die Polizei und die Staatsanwaltschaft, die Erfolge brauchen, die Presse, die Auflagen braucht. Und Montgomery stimmt ihr zu. Und allen diesen Parteien ist letztlich jedes Mittel recht. Die einen Lügen, um den eigenen Hals zu retten, die anderen lügen, weil blutrünstige Geschichten sich besser verkaufen und die nächsten sind bereit, jeder Lüge Glauben zu schenken, weil sie den drögen Alltag spannender gestalten. All diesen Parteien ist Barbara Graham aber letztlich auch egal. So sehr Montgomery, nachdem er zunächst all die Bilder der „blutigen Babs“ evoziert hatte, sich nun bemüht, das Unrecht wieder ungeschehen zu machen und sich auf die Seite Barbaras stellt – auch dies ist eine Verlängerung der Geschichte, auch dies sorgt für Auflage, auch so ist Graham ein Garant für eine Story. Da Montgomery im Vorspann genannt wird und zugleich aber von Simon Oakland als undurchschaubare Sphinx, ewig lächelnd, aber ohne irgendeine Äußerung von Empathie gespielt wird, kann man gern darüber spekulieren, ob der wirkliche Montgomery mit seinem Mitwirken am Film Abbitte leisten wollte. Barbara Graham wurde definitiv zu Unrecht hingerichtet. Damit müssen alle am Fall beteiligten leben.
Anders als COMPULSION oder auch der viel spätere DEAD MAN WALKING (1995), zeigt I WANT TO LIVE! einen wirklichen Justizirrtum und damit auch einen waschechten Justizskandal. Während die anderen Filme es sich weniger einfach machen, da sie den Zuschauer herausfordern, sich der intellektuellen Aufgabe zu stellen, über die Todesstrafe nachzudenken während man es – im Falle des späteren Films einem wirklich üblen, unsympathischen Gesellen, den Sean Penn nahezu genial verkörpert – mit wirklichen, überführten Mördern zu tun hat, zeigt uns Wise den Fall einer zu Unrecht Getöteten. Das macht dem Publikum die Identifikation natürlich leichter, und auch ist es einfacher, die Zuschauer emotional einzufangen, doch ist Wise geschickt, wenn er im ersten Filmdrittel Graham ausschließlich in ihrem sozialen Umfeld zeigt und sie dem Publikum damit doch auch entfremdet, sie weniger zu „einer von uns“ macht, da die meisten Zuschauer mit der Welt, in der sie sich bewegt, nie in Berührung gekommen sein dürften.
So oder so reiht sich I WANT TO LIVE! in die Reihe jener verstörenden Filme ein, die sich kritisch mit dem amerikanischen Rechtssystem auseinandersetzen und dabei deutlich Partei wider die Todesstrafe beziehen. Zugleich ist es aber auch ein ungemein spannender Film, ein Thriller, der in seinem Rhythmus, seinem Tempo und der Rasanz, mit der er bis an einen gewissen Punkt heran inszeniert wird, spannend und äußerst unterhaltsam ist, bevor er, wie erwähnt, seinen Modus ändert und zu einem Gerichts- und Gefängnisdrama wird, welches nicht minder spannend ist, sich allerdings aus tieferen, tragischeren Quellen tränkt. Großartiges Hollywoodkino, vom Feinsten.
[1] In THE DAY THE EARTH STOOD STILL (1951) sind es zutiefst humanitäre und pazifistische Botschaften; in ODDS AGAINST TOMORROW (1959) wird inhaltlich Rassismus verhandelt, zudem war sich Wise nicht zu schade, Abraham Polonsky, einer der berüchtigten ‚Hollywood Ten‘, jener als Kommunisten verschrienen Männer, die eigentlich auf einer schwarzen Liste standen, Arbeit als Drehbuchautor zu verschaffen.