DAS BAND, DAS UNS HÄLT/THE TIE THAT BINDS

Der erste Roman des Holt-Zyklus von Kent Haruf

Es gibt einen Song des amerikanischen Rockmusikers Bruce Springsteen, dessen Titel lautet Reason to believe und handelt davon, wie Menschen, denen das Schicksal – wenn man so will – übel mitspielt, die wenig Glück haben, denen die Liebe misslingt und schließlich das ganze Leben und die dennoch Tag für Tag aufstehen und wieder anfangen und weitermachen und irgendwie immer einen Grund finden, zu hoffen, zu glauben. Springsteen hat aber auch einen Song geschrieben, dessen Titel lautet The Ties That Bind. Dieser Song handelt davon, wie man versucht, sich aus allen Bindungen, die das Leben für einen bereit hält zu lösen, wie man den Bändern, die einen halten – wobei „halten“ und „fesseln“ hier austauschbare Begriffe sind – zu entkommen sucht. Der amerikanische Autor Kent Haruf, dem nur sechs Romane zu schreiben vergönnt war, weil er viel zu früh starb, nannte den ersten dieser sechs Romane THE TIE THAT BINDS (Original 1984; Dt. DAS BAND, DAS UNS HÄLT, 2023). Dieser Roman erzählt trotz der Ähnlichkeit des Titels erstaunlich genau davon, was Springsteen in Reason to believe besingt: Wie man wieder und wieder weitermacht, trotz aller Widerstände. Und den Leser, der sowohl die Songs wie auch den Roman kennt, beschleicht das Gefühl, dass diese Korrelationen nicht ganz zufällig sind.

Edith Goodnough hat ihren Bruder getötet. Nun interessieren sich alle möglichen Leute für die Frau aus der Kleinstadt Holt, die irgendwo im Staat Colorado liegt. Sogar aus der Hauptstadt Denver kommen Reporter, um bei den Mitbürgern von Edith zu erfragen, was es mit der alten Frau und ihrer Tat auf sich hat. Doch bei Sanders Roscoe, Ediths Nachbar und viel mehr als das – Sanders ist der Sohn der unerfüllten Liebe in Ediths Leben – stoßen sie auf beharrlichen Widerstand, er ist nicht bereit, diese Geschichte so ohne weiteres preiszugeben. Und so erzählt er sie uns, den Lesern von Harufs Debütroman. Dabei vermittelt er uns immer wieder das Gefühl, an seinem Küchentisch zu sitzen, einen starken, heißen Kaffee vor uns, und seiner Erzählung zu lauschen. Und diese Erzählung bestimmt Sanders. Im Tempo, in der Betonung und darin, was er herausstellt und was er herunterspielt. Und er wird den Teufel tun, dies zu ändern, daran lässt er keinen Zweifel aufkommen. Und so bekommen wir eine lange, tiefe Lebensgeschichte geboten, die schon vor Ediths Geburt oder der ihres Bruders Lyman beginnt und auch nicht mit Lymans Tod wirklich enden wird.

Sanders beginnt seine Geschichte damit, wie die Eltern der Geschwister, Ada und Roy, mit einem Planwagen in den Weiten Colorados, den sogenannten High Plains, ankamen. Roy hatte Ada gebeten, ihn zu begleiten, es gebe gutes Land da draußen und so verließ sie ihre Heimat Iowa, die sie den Rest ihres arbeitssamen und wenig glücklichen Lebens vermissen, aber nie mehr wiedersehen sollte. In den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts beginnt diese Geschichte und sie hatte viel Unglück im Gepäck: Wie Ada schließlich starb, vielleicht an Entkräftung, vielleicht an einem gebrochenen Herzen, wer kann das schon sagen? Wie Roy versuchte, die Farm mit seinen Kindern Edith, der Erstgeborenen, und Lyman allein zu bestellen und dies vor allem mit der Hilfe ihres Nachbarn John Roscoe tat. John Roscoe seinerseits war der Vater des Erzählers dieser Geschichte, Sanders Roscoe. Schließlich gab es einen fürchterlichen Unfall und der kostete Roy seine Finger. Von nun an war er ein verbitterter, oft betrunkener Farmer, der sein Land nicht mehr bestellen konnte und der ob dessen seine Kinder, die nun die Arbeit allein verrichten mussten, nur noch beschimpfen und verfluchen konnte. Sanders reiht all diese Geschichten aneinander und gibt tiefe Einblicke in die Härten dieses Lebens. Zwischen seinem Vater und Edith entspann sich eine zarte Liebesgeschichte, die aber kein glückliches Ende nahm und endgültig ihren Abschluss fand, nachdem Lyman sich – mit bereits einundvierzig Lebensjahren auf dem Buckel – in die Welt aufgemacht hatte und über zwanzig Jahre verschwunden blieb. Nur Postkarten und ein jährlich zum Weihnachtsfest zugestelltes Geldgeschenk kündeten von seinen Reisen durch den nordamerikanischen Kontinent. Und Edith blieb bei ihrem verkrüppelten Vater und bestellte die Farm nun tatsächlich allein, mit gelegentlicher Hilfe von John und Sanders, der für sie wie ein eigener Sohn war. Bis Lyman eines Tages plötzlich wieder vor der Tür stand – ein Tag, auf den Edith immer gewartet hatte und der, vielleicht, der glücklichste ihres Lebens war.

Wer Kent Haruf kennt – der Diogenes-Verlag folgte einer seltsamen Veröffentlichungspolitik (was rechtliche Grundlagen haben mag) und bringt diesen ersten Roman der Reihe nun also als letzten heraus – der findet hier schon all die Anlagen, die dessen Schreiben aus- und so ungewöhnlich machen, nur sind sie noch etwas weniger ausgefeilt als in den späteren Werken, etwas roher, etwas rauer, etwas ungehobelter. Da ist diese lakonische Sprache, der es gelingt, so genaue, so treffende Bilder der Härte, der Not und der Schmach zu zeichnen, da ist der unprätentiöse Stil, dessen sich hier der Erzähler, aber eben auch Kent Haruf selbst bedient und die das Sprechen und die Haltung der Menschen, die dieses unglaublich weite Land bewohnen, scheinbar so genau wiedergibt, da ist das Understatement, mit welchem hier eine Geschichte erzählt wird, die voller Schmerz, voller Elend und Verlust steckt. Eine Sprache, der es aber eben auch immer wieder gelingt, Freude, einfache Freuden, Momente voller Glück und menschlicher Zugewandtheit zu erzählen, was ebenfalls vor allem gelingt, weil Haruf nie dazu neigt, etwas zu übertreiben, auszumalen, auch nur ein Deut größer zu machen, als es ist. Alle seine Bücher sind von dieser fast demütigen Haltung geprägt, die er als Autor gegenüber dem Leben – einfachem Leben, gelebtem Leben, dessen einzige Auszeichnung manchmal ist, dass es ohne zu murren, ohne zu jammern ertragen wurde – einnimmt und die immer auch mit der Demut korreliert, die er gegenüber diesem Land einnimmt. Eine Haltung, die er mit den meisten seiner Protagonisten teilt. Denn es ist ein verdammt weites Land und es ist ein weiter, weiter Himmel und der einzelne kann darunter sehr, sehr klein werden.

Kent Haruf ist ein zutiefst humanistischer Autor, voller Zuneigung zu den Menschen. Er scheint jede einzelne seiner Figuren geliebt zu haben, und wo es zu Liebe nicht reichte (denn hier und da tritt wahrhaftig auch mal ein echter Schurke auf), da bringt er ihnen zumindest immer noch ein Mindestmaß an Respekt entgegen. Denn er ahnt – und vermittelt seinen Lesern ebenfalls eine Ahnung davon – dass auch diese Figuren Geschichten haben, die sie werden ließen, wie sie sich uns durch seine Darstellung präsentieren. Und manchmal gibt er uns auch Einsichten in diese Geschichten – worin sich dann wieder seine tief menschliche Seite offenbart.

Es ist schön, dass nun sein Romanwerk komplett auf Deutsch vorliegt. Nun kann man, ausgehend von DAS BAND, DAS UNS HÄLT, wieder von vorn beginnen und sich Stück für Stück, Buch für Buch, in die Geschichte von Holt, Colorado einlesen.

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