KOSTBARE TAGE/BENEDICTION
Kent Haruf erzählt von ersten und von letzten Dingen - und dem, was dazwischen kommt
Vielen Menschen wird eine Fahrt durch den mittleren Westen und die Great Plains der USA – jenes riesige Gebiet zwischen dem Mississippi und den Rocky Mountains – wahrscheinlich langweilig vorkommen. Und wahrscheinlich werden diese Menschen die Bücher von Kent Haruf ebenfalls eher langweilig finden, denn der Stil dieses Autors, der viel zu wenig geschrieben hat, entspricht sehr genau der Topographie jener Gegend, in der die fiktive Stadt Holt, Colorado, liegt: lakonisch, gleichmütig, ruhig, manchmal lässig bis zur Lethargie. Dabei ist Haruf immer ein Menschenfreund. Seine Geschichten – wenn man sie denn so nennen will, selten folgen die Bücher einem kohärenten Plot, meist sind die episodisch erzählt und verbinden eher lose verschiedene Handlungsstränge – berichten aus dem „ganz normalen Leben“ und es ist fast gleich, ob es dabei um die Bedürfnisse nahezu stummer Präriebewohner geht, ob um heimliche Liebschaften zwischen alten Menschen, deren Liaison von der Gesellschaft wenig goutiert wird, oder aber um letzte Dinge wie den eigenen Tod und Glaubensverlust, Haruf bleibt seinem Stil treu und er bleibt seiner Haltung treu, seinen Figuren mit viel Liebe und Loyalität zu begegnen und ihnen immer ihre Würde zu lassen.
Das gilt auch und gerade für das zuletzt auf Deutsch erschienene Werk KOSTBARE TAGE (2020, Original erschienen 2012 unter dem Titel BENEDICTION). Gleich auf der ersten Seite kann man eine typische Haruf-Erfahrung machen, etwas lernen über seinen Stil, über die Menschen, die der Autor beschreibt und wie er sie beschreibt. Dad Lewis erhält die Mitteilung, daß sein Krebs nicht mehr heilbar ist und er den Sommer wahrscheinlich nicht überleben wird. Als er und seine Frau Mary ins Auto steigen, um die mehrstündige Fahrt zurück in die Kleinstadt Holt anzutreten, bittet er sie zu fahren. Auf ihre Nachfrage, ob er Schmerzen habe, es ihm schlecht ginge, antwortet er, nein, nicht schlechter als zuvor, er wolle nur die Aussicht genießen während der Fahrt, da er wahrscheinlich nicht mehr hierherkommen werde. Es ist eine Szene, wie sie symbolisch für das Werk dieses Autors stehen könnte. Es geht um Menschen, um Menschliches und es geht darum, wie diese Menschen die Dinge, die ihnen widerfahren, hinnehmen.
Der Leser folgt nun also Dad Lewis und seiner Frau sowie deren Tochter Lorraine durch diese kostbaren letzten Tage, den Sommer und Dads zunehmende Schwäche, er erfährt, daß es auch in dieser Familie fürchterliche Verwerfungen gab, weshalb der Sohn Frank auf und davon ist und auch nicht zurückkehrt, um den sterbenden Vater noch einmal zu sehen. Ebenso erfährt der Leser vom neuen Pfarrer der Gemeinde, Lyle, der auch Dad Lewis angehört, wie dieser eine tiefe Glaubenskrise durchlebt, sein Sohn erste Erfahrungen mit der Liebe, vielleicht auch nur der Sexualität macht, und die kleine Alice durch ihre Großmutter und deren Freunde und Nachbarn ein heimisches Gefühl vermittelt bekommt, nachdem das Leben ihr in ihren wenigen Jahren schon übel mitgespielt hat.
Diese Geschichten sind teilweise tieftraurig, manche auch von der gelegentlichen Gehässigkeit des Lebens geprägt. Haruf beschreibt, er reflektiert nicht als Erzähler. Er lässt seine Figuren reflektieren und in diesen Reflektionen sind sie eben auch immer in ihren Weltanschauungen und Ansichten, in ihren eigenen Leben und ihrem Wesen ge- und befangen. Gerade dadurch wirken sie so lebensnah und vielschichtig. Sie wirken allerdings nicht immer sympathisch, wodurch Haruf den möglichen Fallen des Kitschs und der Oberflächlichkeit entgeht. Dad Lewis, der mit der Zunahme der Schmerzen und dadurch auch der Medikamente, zu halluzinieren beginnt, führt Zwiegespräche mit seinem abwesenden Sohn. Wir erfahren von dessen Homosexualität und seiner Freude am Tragen von Frauenkleidern und wir erfahren, wie ein damals mittelalter Mann aus dem amerikanischen Westen darauf reagiert – und wie unversöhnlich sich beide Parteien auch Jahre danach gegenüberstehen. Und so nett und lieb sich bspw. zwei Freundinnen von Dad Lewis` Frau um die kleine Alice kümmern – es steckt auch immer eine egoistische Note darin, versucht man doch, die Versäumnisse des eigenen Lebens irgendwie auszugleichen, wett zu machen, was man einst verpasst hatte, vielleicht sogar zu vergessen, daß man etwas verpasst hat, das nicht mehr einholbar ist. Harufs literarisches Genie ist es zu verdanken, uns diese Menschen in ihrer Vielschichtigkeit und auch Widersprüchlichkeit näher zu bringen, ohne über sie zu urteilen. Und zugleich etwas Grundlegendes, Allegemeingültiges, über das menschliche Wesen, die berühmte Conditio humana zu erzählen.
Vielleicht ist dies nicht die spannendste Literatur, vielleicht mögen sich viele gar nicht mit den Menschen dieser Weite beschäftigen, was verständlich ist. Doch fängt Kent Haruf etwas ein, das vor allem Kenner und Liebhaber der USA selbst schon erlebt haben dürften: Daß diese unendliche Weite, dieser riesige Himmel über der Prärie, die ziehenden Wolkenschatten, diese Blicke, die in eine scheinbare Unendlichkeit weisen, das Fahren auf den Highways, das zu einem tranceartigen Zustand werden kann, in dem man ein Jünger der Mittelstreifen wird, daß all das das eigene Ego auf ein Maß zurechtstutzt, in welchem es sich in etwas Größeres eingliedert. Die Lakonie, von der weiter oben die Rede war, stellt sich hier nahezu selbstverständlich ein. Menschliche Belange und menschliches Begehren werden dadurch zwar nicht negiert, aber sie werden durchaus relativiert. Wer immer in dieser Weite lebt, wer sie als lebenslangen Zustand erlebt, der wird diese Weite als Teil seines Innern in sich tragen. Und die, die zugezogen sind, halten diese Weite und das, was sie mit dem einzelnen macht, vielleicht gar nicht lange aus. So ergeht es Pfarrer Lyles Sohn und auch seiner Frau. Trotz der erotischen Erfahrungen, die der Junge erstmals macht, will er weg, zurück in eine Großstadt. Und auch seine Mutter ist die Kleinstadt Holt zu eng, trotz – oder gerade wegen – des Raums, der sie umgibt und die Menschen prägt, aber auch deren innere Begrenztheit, ja Enge, markiert und definiert. Vielleicht ist es sogar diese Weite, die Pfarrer Lyle an seiner Profession, mehr noch aber an seinem Glauben zweifeln lässt. Obwohl man gerade unter diesem endlosen Himmel sehr, sehr nah an etwas heranrücken kann, das wir in Ermangelung eines besseren Wortes – oder gar eines besseren Konzepts – „Gott“ genannt haben.
BENEDICTION ist chronologisch Harufs vorletztes Buch über Holt und seine Bewohner. Es wäre dem Diogenes-Verlag zu danken, wenn er nun auch noch die ersten beiden Bände dieser Stadtgeschichten, die manchmal wie eine ländliche Variante von Amistead Maupins Geschichten aus San Francisco wirken, übersetzen ließe und veröffentlichte. Denn es wäre sicherlich eine Freude, alle sechs Bände noch einmal, dann eben chronologisch, zu lesen. Kent Haruf, der 2014 starb, ist einer der großen amerikanischen Erzähler der jüngeren Vergangenheit, die es unbedingt noch zu entdecken gilt.