WIE DEMOKRATIEN STERBEN/HOW DEMOCRACIES DIE
Eine kluge und wegweisende Studie und Analyse gegenwärtiger autoritärer gesellschaftlicher Veränderungen
In der Vergangenheit starben Demokratien weniger, als daß sie gemeuchelt wurden. Chile, 1973, ist das klassische Beispiel der Nachkriegsgeschichte. Ein Militärputsch, der Präsidentenpalast, der Flughafen und die wichtigen Sender werden besetzt, das (meist gewählte) Staatsoberhaupt wird abgesetzt. Doch hat sich in den vergangenen 40 Jahren an der Front der Putschisten einiges getan. Heute werden Demokratien zumeist nicht mehr mit Gewalt zu Fall gebracht, sondern sie werden mit ihren eigenen Mitteln angegriffen, sukzessive ausgehöhlt und bestehen dann meist als Scheindemokratien fort, wie ein Wirtskörper, in dem längst ein Parasit lebt und sich labt.
Steven Levitsky und Daniel Ziblatt sind Professoren für Regierungslehre an der Harvard-Universität. Mit WIE DEMOKRATIEN STERBEN legen sie einen alarmierenden Bericht darüber vor, wie sich der eben beschriebene Prozess auch und gerade in ihrem eigenen Land, den U.S.A., vollzieht. Seit der Wahl von Donald Trump zum 45. Präsidenten des Landes, kann man so deutlich wie nie zuvor beobachten, wie die staatlichen Organe angegriffen, wie demokratische Gepflogenheiten bewusst mißachtet, wie aus politischen Gegnern Feinde konstruiert werden – nicht nur Feinde des Präsidenten, sondern Feinde „des Volkes“. Die autoritäre Versuchung hat schließlich auch Amerika eingeholt.
Doch sind diese Entwicklungen ebenso in Südamerika – oft unter vorgeblich „linken“ Paradigmen – wie auch in Europa und Afrika zu beobachten. In Europa tritt dabei vermehrt wieder die rechte, nationalistisch-völkische Variante des Angriffs auf die Demokratie zu Tage. Ob Russland, die Türkei, einige der ehemaligen Staaten des Warschauer Pakts, wie Ungarn oder Polen – sie alle weisen einen enormen Ruck nach rechts auf. Sie alle spielen mit den scheinbar einfachen Lösungen autoritärer Verlockung. Die Autoren, deren Fachgebiete u.a. Südamerika und Europa sind, können anhand etlicher Beispiele belegen, wie sich autoritäre Muster abzeichnen und verfestigen.
Anhand von vier Indikatoren haben sie ein Raster erstellt, das ihrer Meinung nach mit hoher Wahrscheinlichkeit auf autoritäre Politiker/Politik hinweist. Das wäre zunächst die Ablehnung demokratischer Spielregeln – darunter fallen u.a. die Ablehnung der Verfassung, die Anzweiflung der Legitimität von Wahlen oder antidemokratische Maßnahmen, die Wahlen verhindern, Verbote von Organisationen etc. Der zweite Indikator ist die Legitimitätsverweigerung gegenüber dem politischen Gegner – wie oben dargestellt, wird der politische Gegner zum Volksfeind u.ä. erklärt. Der dritte Indikator ist die Tolerierung oder gar Ermutigung zur Gewalt. Der vierte Indikator ist die Beschneidung oder gar Abschaffung bürgerlicher Rechte/Freiheiten, der Opposition und der Medien.
Im Falle Donald Trumps stellen die Autoren bei allen vier Indikatoren fest, daß der Präsident eindeutige Belege dafür liefert, sie zu erfüllen. Oft tut er dies erst einmal verbal unter Androhungen, allerdings hat er subkutan längst damit begonnen, indem Hunderte von Richtern ausgetauscht wurden, Stellen in den Behörden unbesetzt bleiben, was die institutionelle Arbeit massiv einschränkt, und nicht zuletzt immer wieder gegen einzelne Medienvertreter wie auch die Presse im Allgemeinen gehetzt wird. Auch Gewaltdrohungen hat es bereits gegeben. Vor allem aber unterläuft Trump sämtliche „weichen“ Gepflogenheiten der Demokratie. Er beleidigt, er provoziert, er lügt derart offen, daß man sich fragt, ob dies notorisch oder gar schon eine Strategie ist. Die Verletzung demokratischer und zivilgesellschaftlicher Anstandsregeln ist allerdings ein bewußter Angriff auf die Demokratie, da sie unablässig zu einer Spaltung der Gesellschaft beiträgt und etwaige Versöhnungsangebote nahezu unmöglich macht. Auch diesem Phänomen widmen sich die Autoren in ihrer Studie.
Levitsky und Ziblatt machen es sich allerdings nicht leicht, indem sie Trump zum alleinigen Problem erklären. In einer weitausholenden Beschreibung der Entwicklung der amerikanischen Demokratie verdeutlichen sie, daß es immer schon Angriffe auf demokratische Grundrechte und Institutionen gegeben hat – darunter am eklatantesten wahrscheinlich jene Änderungen des Wahlrechts in den ehemaligen Südstaaten, die es der schwarzen Bevölkerung auf Dekaden hinaus nahezu unmöglich machte, ihr nach dem Bürgerkrieg garantiertes Recht zu wählen auszuüben und damit der demokratischen Partei dort bis weit in die 1960er Jahre hinein quasi ein Machtmonopol sicherte. Mehr noch aber gelingt es ihnen, anhand einer genaueren Analyse des Verfalls der demokratischen Sitten in den 1990er Jahren ff. zu erklären, wie es zu der gegenwärtigen Feindschaft der beiden großen Parteien im amerikanischen System gekommen ist.
Vor allem die Beschädigung der sogenannten demokratischen „Leitplanken“ sehen sie als Hauptgrund für die jetzige Situation. Diese Beschädigung hat allerdings eingesetzt lange bevor irgendwer auch nur daran gedacht hat, daß einmal ein gelangweilter und mit einem übergroßen Ego ausgestatteter Millionär und Immobilienhai ins Weiße Haus einziehen könnte. Es hat mit der Radikalisierung der Republikanischen Partei unter Reagan begonnen, als sie mehr und mehr zum Sprachrohr eines Raubtierkapitalismus und des Großkapitals wurde und dann, Ende der 1980er und zu Beginn der 1990er Jahre, immer stärker unter den Einfluß radikaler christlicher Gruppen und der Lobbyisten geriet. In den 90er Jahren waren es einerseits Figuren wie der damalige Fernsehkommentator Pat Buchanan, die mit quasi-faschistoiden Ansichten die Einpeitscher gaben, und junge Politiker wie Newt Gingrich, die sich entschlossen, offen konfrontativ Politik zu betreiben und damit grundlegende demokratische Spielregeln zu mißachten. „Kompromiß“ wurde für diese jungen Republikaner zu einem Schimpfwort.
Das Verändern der Spielregeln und den Austausch der Schiedsrichter – also der institutionell unabhängigen Organe, die neutral über das Spiel der politischen Kräfte wachen sollen – betrachten Levitsky und Ziblatt als eine der maßgeblichen Maßnahmen, um ein demokratisches System anzugreifen und auszuhöhlen. Auch diese Agenda verfolgt Trump mit Hingabe, aber gerade in der Analyse der Entwicklungen der 90er Jahre unter dem Präsidenten Bill Clinton und der Fundamentalopposition der Republikaner gegen diesen, wird deutlich, daß Trump bei Weitem nicht der erste ist oder war, der dieses Spiel betrieb. Er ist so gesehen eher Symptom denn Ursache. Den poltischen Gegner nicht mehr als legitimen Gegenspieler innerhalb eines demokratischen Systems zu begreifen, mit dem es Kompromisse zu erzielen gilt, sondern ihn als grundlegend dem System entäußerten Feind anzusehen, gilt den Autoren dabei als eine der wirkungsvollsten und gefährlichsten Entwicklungen. Die momentane, kaum mehr zu überwindende Kluft zwischen den Parteien in den U.S.A., ist das Ergebnis genau dieser Entwicklung.
Daß es vornehmlich die republikanische Partei war, die diese Spirale in Gang gesetzt und seitdem ununterbrochen befeuert hat, entbindet die Demokraten allerdings nicht ihrer Verantwortung. Zwar musste sie keine Bewegung wie die Tea Party ertragen oder gar integrieren, doch ist auch sie nicht unschuldig an der Entwicklung, ließ sie sich doch allzu gern auf die Verlockung politischer Gegnerschaft ein und zahlte oft mit gleicher Münze heim. Allerdings hat die demokratische Partei – auch das beschreiben Levitsky und Ziblatt anschaulich – ihre große Wandlung bereits in der Mitte des 20. Jahrhunderts vollzogen. Sie löste sich von ihrem teils unsäglichen Erbe als die Partei der Sklavenhalter des 19. Jahrhunderts und näherte sich Stück für Stück liberalen Positionen an, bis sie Mitte der 1960er Jahre zu jener Partei der Bürger- und liberalen Rechte wurde, als die sie heute erscheint.
Ermutigend ist, daß Levitsky und Ziblatt auch durchaus Gegenbeispiele selbst aus den dunkelsten Zeiten Europas aufzählen können, in denen sich Bevölkerungen per Wahl gegen die autoritäre, gar faschistische, Einvernahme gewehrt haben. So geschehen während der Zwischenkriegszeit in Belgien und Finnland. Und sie weisen auch Wege aus der Falle der politischen Feindschaft. Eine verbesserte Sozialpolitik, eine bewusste Einschränkung und Verminderung des Aufklaffens der Schere zwischen Arm und Reich, vor allem aber mahnen sie kommende Politiker, einzufangen, was gegenwärtige Politik angerichtet hat. Daß das nicht einfach wird – gerade in den U.S.A. – ist ihnen klar und sie weisen auch klar daraufhin, daß es ein steiniger und beschwerlicher Weg wird. Doch es ist möglich.
HOW DEMOCRACIES DIE (Originaltitel, erschienen 2018) ist ein kluges Buch zur rechten Zeit. Es ist – natürlich – ein amerikazentriertes Buch, das aber auch deutschen Lesern zumindest gutes Werkzeug und ebenso gute Argumente an die Hand gibt, sich dem Diskurs zu stellen und dabei zu bestehen. Das Problem eines solchen wie aller ähnlichen Bücher, derer Hunderte in den vergangenen Jahren erschienen sind, ist, daß sie natürlich eher von denen gelesen werden, die für die Demokratie einstehen wollen und damit auf der Linie der Autoren liegen. So bekommt diese Art der Sach- und Fachliteratur auch immer etwas Tautologisches, da sie die Leser in deren bereits bestehenden Ansichten bestärkt, manchmal beruhigt, oft auch verängstigt, selten aber zu einer wirklichen politischen oder gesellschaftlichen Veränderung beitragen kann. Es seien diesem Werk gerade deshalb viele Leser gegönnt.