DAS ZEITALTER DES ZORNS
Pankaj Mishra erzählt Eine Geschichte der Gegenwart
Will man ein Buch besprechen, das den Titel DAS ZEITALTER DES ZORNS trägt, wird man wohl nicht umhin kommen, Bezug auf die unmittelbare Gegenwart zu nehmen. Zorn, so scheint es, ist das zeitgenössische Movens, die vorherrschende Emotion, weltweit. Zornige Männer wählen andere zornige Männer, die die Welt wieder so einrichten sollen, wie sie nie gewesen ist; junge zornige Männer rotten sich in den verschiedensten Gegenden dieser schönen Welt zusammen und begehren gegen…was auch immer auf. In Syrien und dem Irak treten sie als Banden des IS auf, vorgeblich einen Gottesstaat zu errichten, in den USA macht sich eine abrutschende weiße Mittelschicht, im Kern patriarchal definiert, auf, eine letzte Schlacht in Verteidigung ihrer historischen Vormachtstellung zu schlagen, und in sächsischen Kleinstädten machen wütende, angeblich perspektivlose junge Männer Jagd auf andere junge Männer, die eine dunklere Hautfarbe haben, aus ihrer Heimat vor Krieg, Elend und Hunger geflohen sind und ebenfalls eine gehörige Portion Wut im Bauch tragen: Wut darüber, historisch seit Jahrhunderten zu den Verlierern zu gehören, ausgeliefert an Kräfte, die sich fernab, in europäischen Hauptstädten, über ungenaue Karten beugen und mit schnellen Strichen ganze Regionen neu ordnen, ungeachtet lokaler Besonderheiten oder kultureller Bedürfnisse.
Seit den 1970er Jahren entstand weltweit ein Forschungsgebiet, das man grob mit dem Begriff der cultural studies umschreiben kann, und das sich unter anderem mit den Folgen des Kolonialismus, des europäischen Imperialismus beschäftigte und daraus resultierend (und in Bezug auf die Zeitläufte) oftmals an feministische Untersuchungen zur Rolle der Frau in der damals noch sogenannten „3. Welt“ gekoppelt war. Folgt man Standardwerken wie Edward Saids ORIENTALISM (1978) oder Gayatri Chakravorty Spivaks bahnbrechendem Essay CAN THE SUBALTERN SPEAK? (1988), aber auch neueren Texten vor allem afrikanischer Theoretiker wie Achille Mbembe (POLITIK DER FEINDSCHAFT/2016), lernt man – neben etlichen Gedanken, die das Nach-Denken lohnen – vor allem eines: Wie Geschichte funktioniert. Denn ohne den Rückbezug auf Europa und die europäische Geschichte, vor allem die Kulturgeschichte, sind nah-, wie fernöstliche, afrikanische oder gar südamerikanische Geschichte und Entwicklung kaum mehr zu denken. Und wie auch, wenn die Entwicklung dieser Kontinente und ihrer Länder fast 400 Jahre lang durch die europäische Ausbeutung und Unterdrückung geprägt war, was natürlich auch das Selbstbild der Menschen dieser Kontinente und ihrer Länder maßgeblich mit-gestaltet hat.
Cultural Studies sind also auch immer eine Selbstvergewisserung, identitätsstiftend und ein Beitrag zur gegenwärtigen Standortbestimmung. Pankaj Mishra erfüllt diese Kategorien mit DAS ZEITALTER DES ZORNS. Vielleicht liegt sein Schwerpunkt eher auf tagesaktuellen Entwicklungen, greift er doch gerade den eingangs beschriebenen Zustand globaler Erzürnung auf, doch mit seinem weiten Ausgriff in die europäische Kulturgeschichte vor allem des 19. Jahrhunderts wird sein Text eben auch zu genau der Reflexion, die seine Referenzpunkte in der abendländischen Philosophie spiegelt und in einen außereuropäischen Referenzrahmen stellt, sozusagen neu verortet. Der Wutbürger, global gesehen, wird dabei von Mishra ebenfalls als europäischer Exportartikel ausgestellt, was er vor allem aus den aufklärungs- und zivilisationskritischen Schriften vornehmlich deutscher Autoren des 19. Jahrhunderts ableitet. Ob Theoretiker wie Nietzsche, Marx oder Stirner, oder Vertreter der Tat, wie Bakunin: Die Idee des radikalen Umbruchs, der Revolution, des weltlichen Himmelreichs, das mit Gewalt zu errichten sei, fand ihren Ursprung in den innereuropäischen Kulturkämpfen in Folge der Aufklärung und der Französischen Revolution.
Auch dazu unternimmt Mishra einen langen Exkurs und vollzieht die Entwicklung des Aufklärungs-Projekts (das ein solches nie war, eher nachträglich aufgegriffen so verstanden wurde) als eines nach, das im Kern nie als Massenbewegung gedacht gewesen sei. Natürlich hat er damit nicht unrecht, nach modernen Maßstäben dachten auch die Vertreter der europäischen Aufklärung den „Menschen“ als universelles Wesen vor allem weiß. Und meist auch männlich. Mishra zeigt noch einmal die verschlungenen Wege auf, die Ideen wie „Volk“ und „Nation“ auch und gerade durch Aufklärer, die sich zugleich schon als Kritiker des aufklärerischen Gedankens verstanden, wie Rousseau, in die europäische Welt kamen und weshalb diese Ideen gerade in Deutschland nach den Erfahrungen mit Napoleon schnell attraktiv wurden und um sich griffen. Fast organisch ist die Hinführung zu den Reaktionen des 19. Jahrhunderts und den wiederum daraus folgenden Entwicklungen hin zu den Nationalismen und Ideologien des 20. Jahrhunderts. Ebenso verdeutlicht Mishra, daß wesentliche Vertreter der Aufklärung – namentlich Voltaire – oftmals Wasser predigten und Wein tranken. So werden natürlich selbst die Denker als Zeugen wider ihre eigenen Ideen angeführt. Allerdings wagt Mishra es, auf diesem Wege die Ideen selbst zumindest in Frage zu stellen, wenn nicht zum Teil offen anzuzweifeln. Eine für den europäischen Rezipienten schwer zu ertragender Standpunkt, der sich allerdings aus der Perspektive Mishras durchaus erklärt.
Hier tut sich das eigentliche Spannungsfeld des Buches auf. Denn obwohl sich Mishras Text durch eine enorme Kenntnis europäischer Philosophie auszeichnet, seine Hinführung also durchaus zwingend erscheint, liegt eine – vielleicht die einzige – Gefahr seines Textes auch genau darin. Ein kenntnisreicher Leser, der gerade die Geschichte der Aufklärung – also vor allem die oft verschlungene, manchmal durchaus widersprüchliche Geschichte, die in den Kernländern der Aufklärung wie Frankreich, England und einzelnen deutschen Kleinstaaten sowie Preußen jeweils eine sehr eigene Ausprägung gewann – kennt, wird schnell merken, daß dies eine Engführung ist, die genau die Thesen bedient, die Mishra vertritt. So werden einzelne Topoi, wie der „edle Wilde“ herausgegriffen – zugegeben ein wirklich schwieriger Begriff, der seinen ganz eigenen Beitrag zum europäischen Blick auf fremde Völker und Kulturen beigetragen hat, der allerdings einer sehr genauen Untersuchung in seinem zeitlichen, auch seinem linguistischen Kontext und eine differenzierte Definition zwischen seinem historischen Gebrauch und seinem gegenwärtigen Bedeutungsrahmen verlangte – , um inhaltlich zu unterfüttern, worauf der Autor hinauswill. Und er hat natürlich recht, wenn er andeutet, daß europäische Lösungen für europäische Probleme möglicherweise nicht für die Lösungen asiatischer oder afrikanischer Länder taugen. Die Ideen als solche aber anzugreifen, kann nicht der Weg sein, stellt sich doch schnell die Frage nach dem Umkehrschluß: Was bedeutet es, in einer Welt, einer Gesellschaft zu leben, in der nicht die Regeln der Aufklärung gelten?
Mishras Analyse kommt zu dem Schluß, daß ein entfesselter globaler Kapitalismus langsam auch jene frisst, die ihn überhaupt erst im Kontext ihrer Geschichte entworfen, geprägt, entwickelt, verbreitet und schließlich entfesselt haben: Die westlichen Nationen, die sich unter dem Banner von Demokratie, Menschenrechten, Aufklärung und Wohlstand (inklusive dem Recht auf „Glück“) einst aufmachten, die Welt nach ihrem Bild zu formen. Aber war das wirklich so? Wollten sie das? Weder der britische, noch der französische oder der (verspätete) deutsche Kolonialismus haben sich jemals wirklich so verhalten. Eher als daß sie fremde Länder „geformt“ hätten, haben sie sie „mißbraucht“ , ausgepresst und die einheimische Bevölkerung dabei meist als feindlichen Fremdkörper behandelt, wenn nicht gar ausgerottet. Dennoch sickerte europäische Lebensart in die kolonisierten Länder, europäisches Ordnungs- und Bürokratiedenken und somit auch europäische Ideen, die allerdings – Spivaks Essay gibt darüber beredt´ Zeugnis – im Laufe der Jahrhunderte ihre eigenen Ausprägungen und Ausformungen entwickelten und dabei oftmals auch Verbindungen eingingen (religiös-nationalistischer Natur, wie in Indien, wovon Mishra eindringlich berichtet), die so nie vorgesehen waren. Und in dieser Form zum Teil nach Europa zurückschwappten. Denn Europa hatte in den fernen Ländern und seinen Völkern immer auch eine Projektionsfläche, die die eigene Geschichte, aber auch die Ängste und verdrängten Nöte reflektierten. Es ist die Perspektive dieser Wechselwirkung, die Mishra einnimmt und untersucht.
Die Wechselwirkung zwischen europäischen Ideen, europäischen Versprechungen und der Enttäuschung, festzustellen, an diesen Versprechen, gerade was Wohlstand und ökonomische Entwicklung betrifft, nicht teilzuhaben, bringt jenen Zorn hervor, der als scheinbar neues Phänomen Europa, die USA, den Westen, vor allem aber seine Lebensart anzugreifen droht – in Form des Migranten, der seine zur Wüste verödete Heimat verlässt und um jeden Preis in die „Festung Europa“ eindringen will; des „schwarzen Manns“, der eine fremde, vermeintlich wilde, unzivilisierte Kultur repräsentiert; des Moslems, der eine Religion vertritt, die angeblich feindselig und expansiv ist und „den Westen“, „das Abendland“, überrennen will, und schließlich in Form des entfesselten Terroristen, der in einer Horde auftritt, die an Vorbilder aus apokalyptischen Filmen gemahnt, nebst des unscheinbaren, anonymen Einzeltäters, der seinen Körper zum Schlachtfeld erklärt und zum Teil der tödlichen Waffe macht. Und dieser Zorn steht wiederum in Wechselwirkung zu dem Zorn jener im Westen, die, geschichtsvergessen bis offen revisionistisch, Abschottung, Vertreibung Fremder und Austreibung des Islam fordern, darüber hinaus aber auch die liberalen Errungenschaften des Westens – Frauenwahlrecht, Gleichberechtigung, Rechtsstaatlichkeit und eine funktionierende Zivilgesellschaft – angreifen und zurückschrauben möchten. So kommt die Kultur global ins Schlingern und findet sich unter äußerem wie innerem Druck.
Mishra wirft einen interessanten, intensiven Blick auf diese Entwicklungen, droht allerdings in seiner thematischen Engführung gelegentlich in regelrecht antiaufklärerische Gefilde abzudriften, was man ihm allerdings nicht als gewollt unterstellen sollte. Vielleicht ist die offen geübte Kritik an der Entwicklung und an gewissen Auswüchsen der Aufklärung und vor allem der historischen Verarbeitung ihrer politischen Auswüchse als Revolution im 19. Jahrhundert in den Augen eines Europäers ein Sakrileg. Vielleicht sollte man als erstes die eigene Reaktion im Leseprozeß überprüfen. Doch auch bei mehrmaligem Lesen und bei genauerem Durchdringen der Thesen von Pankaj Mishra kommt man zu dem Schluß, daß dies bestenfalls ein Beitrag sein kann, eine These unter vielen, die dem westlichen Rezipienten einen erweiterten Blick auf die eigene Geschichte und die Auswirkung dieser immer noch all zu oft eurozentrisch wahrgenommen Geschichte auf die Welt als globaler Einheit bietet.