DAS LIED DES PROPHETEN/PROPHET SONG

"Das Buch zur Stunde" - ausnahmsweise stimmt die Beschreibung

Immer vorsichtig, wenn Bücher – und die Begründungen für die ihnen verliehenen Preise – damit beworben werden, dass man es hier mit dem „Buch der Stunde“ zu tun habe. Zu häufig sind solcher Art gewundene Elogen arg an den Haaren herbeigezogen. Doch im Falle des Booker-Price-Gewinners von 2023 trifft die Aussage ausnahmsweise voll und ganz zu. Paul Lynch hat mit seinem Roman DAS LIED DES PROPHETEN (PROPHET SONG, 2023, Dt. 2024) tatsächlich so etwas wie das Buch zur Stunde, weil zur aktuellen politischen Lage in einem immer stärker zum Autoritarismus neigenden Europa, geschrieben. Anhand einer durchschnittlichen irischen Familie schildert er, wie sich der ganz normale Alltag unter einem – regulär durch Wahlen an die Macht gelangten – nationalistischen, populistischen und autoritären Regime schleichend verändert, wie das Gift des scheinbar anonymen Drucks langsam in die Familie, also die privateste und intimste Sphäre eindringt und die Mitglieder dieser kleinsten gesellschaftlichen Zelle physisch und vor allem psychisch zu zersetzen droht.

Da Vater Larry Gewerkschafter ist, zudem Lehrer, wird er bald nach dem Regierungsantritt abgeholt und taucht nicht wieder auf. Die anfängliche Unterstützung von Genossen und Freunden lässt nach, je stärker die Unterdrückungsmechanismen der neuen Regierung greifen. Der öffentliche wie private Druck auf Mutter Eilish, die sich um die Kinder – den pubertierenden Mark, den auf der Schwelle zwischen Kindheit und Adoleszenz stehenden Bailey, die etwas jüngere aber durchaus reife Molly und Baby Ben – kümmert und sich unter allen noch so widrigen Umständen bemüht, die Familie zusammen zu halten, nimmt ununterbrochen zu. Hinzu kommt die Sorge um ihren zusehends der Demenz verfallenden Vater Simon. Und zunächst unmerklich, dann immer weniger subtil, verdeutlicht das Regime, dass es weder Gnade noch Mitleid kennt, lässt die letzten Masken fallen und offenbart sein faschistisches, brutales Gesicht.

Lynchs eigentliche Meisterschaft besteht darin, diese politischen Schrecken wie nebenbei in den geschilderten Alltag dieser „ganz normalen“ Familie einsickern zu lassen und dem Leser dadurch zu verdeutlichen, wie sie funktionieren könnte, diese schleichende Machtübernahme. Erst kommen sie mit einem freundlichen, wenn auch kalten Lächeln, dann ist das Lächeln verschwunden, die Drohungen bleiben jedoch unter der Schwelle des klar Benennbaren, schließlich wird sie immer offensichtlicher, die Be-Drohung, und spätestens wenn der Notstand ausgerufen wurde und die entsprechenden Notstandsgesetze in Kraft treten, versteht auch der Letzte, was es bedeutet, die eigene Freiheit und Sicherheit – und das bedeutet auch und vor allem: Rechtssicherheit – abgewählt zu haben.

Man kann Lynch vorwerfen, dass das nicht im eigentlichen Sinne politisch ist, dass der Blick aufs Private, den er – oder der auktoriale Erzähler – einnimmt, die politische Perspektive verstellt, nicht klar wird, wie es einer solchen Regierung gerade im katholischen Irland gelungen sein sollte, an die (alleinige?) Regierung zu gelangen. Und wirklich streift der Roman diese Fragen – danach, welche Umstände eine Bevölkerung dazu verleiten, eine entsprechende Partei überhaupt zu wählen – auch nur am Rande. Offenbar ist das Anliegen des Autors auch ein anderes. Er will sich eben nicht auf die politische Analyse einlassen und damit das Risiko eingehen, einen Thesenroman zu schreiben. Lynch will seine Leser*innen emotional ansprechen. Die Warnung, die von seinem Roman ausgeht, soll sie nicht (nur) im Kopf, sondern auch und vor allem im Herzen packen.

Und das gelingt. Allerdings nur, indem er sein Publikum immer tiefer in die Abgründe führt, die sich dort auftun, wo keine Hoffnung mehr existiert. Mit dem ausgerufenen Notstand wird auch der Alltag immer unerträglicher. Und obwohl Eilish versucht, eine Normalität zu behaupten, wo längst keine mehr ist, haben zumindest Mark und Molly längst begriffen, dass sich hier etwas Fundamentales verändert hat. Unwiederbringlich. Und als sich Rebellen formieren und zum Angriff auf die neue Regierung blasen, schließt sich Mark ihnen an. Zunächst lässt er seiner Mutter und seiner Schwester noch regelmäßig Nachrichten zukommen, dann bricht der Kontakt ab. Neben Larry verschwindet auch Mark aus Eilishs und dem Familien-Leben. Molly versinkt zusehends in Depressionen und totaler Apathie, während Bailey auf die Geschehnisse und Entwicklungen zusehends aggressiv reagiert. Er lebt normale pubertäre Trotzreaktionen aus, die immer gefährlicher für ihn werden, obwohl er durchaus versteht, dass diese Regierung keine Rücksicht nimmt auf die Bedürfnisse von jungen Menschen, die sich ausprobieren wollen.

Doch damit nicht genug: Lynch treibt seine Geschichte, die ab einem gewissen Punkt eher die Geschichte vom Überleben unter extrem widrigen Umständen ist, als dass sie noch vom Überleben in unruhigen politischen Zeiten berichtete, in immer düstere Sphären, bis dorthin, wo auch die Leser*innen nur noch pure Verzweiflung empfinden. Gerade am Beispiel von Bailey lässt sich dies beobachten, denn dessen Schicksal ist selbst literarisch betrachtet schon außergewöhnlich. Außergewöhnlich schrecklich. Gnadenlos und ohne Konzessionen an Geschmack oder Bedürfnisse eines auch zur Unterhaltung lesenden Publikums führt Lynch seine Geschichte in immer tiefere Abgründe und lässt uns dann an einem Strand zurück mit der Wahl zwischen Pest und Cholera. Da sind dann die eben noch bürgerlichen Menschen, die dieses Buch bevölkern, plötzlich Flüchtlinge – und es stellt sich die Frage, ob man bspw. in ein Boot steigt und eine äußerst gefährliche Überfahrt wagt, oder ob man bleibt und in Kauf zu nehmen bereit ist, was immer da komme. So endet dieser Roman sozusagen in der brutalst denkbaren europäischen Gegenwart – nur mit vertauschten Protagonisten.

Der einzige Hoffnungsschimmer dieses Romans ist die Sprache des Autors. Er bemüht eine gewollt poetische – dank der Übersetzung von Eike Schönfeld auch im Deutschen funktionierende und packende – Sprache, um Eilishs Gefühlswelt, ihre Interaktion mit und schließlich auch die Distanzierung von ihrer Umwelt, auch der privatesten, weil familiären, zu beschreiben, nein, unangenehm spürbar werden zu lassen. Je schlimmer die Geschehnisse, je größer das Leid, desto größer auch die Entfremdung dieser Frau, die die Hauptfigur in diesem dystopischen Niedergang ist. Wie viel kann ein einzelner Mensch ertragen? Wie viel Leid, wie viel Schmerz? Lynch unterzieht diese Familie einem Martyrium und gibt dabei kein Jota nach. Und so wird auch die Sprache selbst, die anfangs ein wenig Licht in eine sich sozial verdüsternde Welt brachte, mehr und mehr zu einer Bedrohung – für Eilish, für die Kinder und für den Leser. Womit der eingangs dieses Absatzes beschriebene Hoffnungsschimmer dann auch langsam aber stetig verglimmt.

Man legt das Buch wieder und wieder zur Seite, weil es auszuhalten wirklich Kraft kostet. Und wann kann man das schon einmal von einem Stück Literatur wirklich mit Fug und Recht behaupten? Hier trifft es zu. Doch flieht man in Gedanken aus diesem Schrecken, indem man sich vor Augen hält, dass Lynch fiktional erzählt. Und darin liegt der vielleicht einzige wirkliche Kritikpunkt, den man üben kann, vielleicht sogar üben muss. Der Redlichkeit gegenüber dem Stoff halber. Denn so authentisch Eilishs Innenleben auch geschildert wird, so treffend die politischen und gesellschaftlichen Skizzen und Szenarien, die Lynch entwirft, so packend das alles auch erzählt ist – obwohl die Eigenart, all das in geschlossenen Textblöcken wiederzugeben und damit auch die direkte Rede ohne jede Sondermarkierung in den Fließtext einzubetten, die Lektüre zusätzlich erschwert – so ist den Leser*innen immer auch klar, dass dies eine Erfindung ist, dass der Autor auf angelesene Erfahrungen zurückgreift. Sicher, die Zerrüttung einer Familie unter besonderen Umständen mag man durchaus aus eigener Erfahrung schildern können, mag auf eigene Erlebnisse zurückgreifen. Doch was es bedeutet, unter einem faschistischen Regime, also in einer Diktatur leben zu müssen, was Nahrungsmangel, Belagerung, Scharfschützen bedeuten, schließlich auf der Flucht zu existieren und dabei drei Kinder mitzuziehen, nicht den Überblick zu verlieren, die Nerven zu behalten, nicht aufzugeben – all das kann sich Paul Lynch eben nur angelesen haben.

Es gibt Dutzende, ja Hunderte Berichte solcherart. Historische aus den Jahren, in denen Europa in Not und Elend versank, aber auch von Flüchtlingen unserer Tage, die entweder vor Krieg – Bürgerkrieg, wie er schließlich im Roman herrscht und das Land auseinander zu reißen droht – oder Hunger, manchmal aber auch nur vor wirtschaftlichem Elend fliehen. Sie alle sind lesenswert und vor allem authentisch. Doch will man das dem Autor vorwerfen? Dass er auf authentische Berichte zurückgreift und die nutzt, um in einem fiktionalen Werk dem Leser emotionalen Stress zu bereiten? Nicht wirklich. Zumal sehr viele Autoren, die meisten, möchte man meinen, genau so arbeiten. Sie befinden sich damit nur nicht immer direkt an und in der Wirklichkeit ihres Publikums.

Zudem ist Paul Lynch da ein starkes Stück Literatur gelungen, das die Schrecken einer schleichenden politischen, also gesellschaftlichen, also sozialen Veränderung emotional und intellektuell überzeugend zu vermitteln versteht. Nicht zu Unrecht hat Lynch dafür einen der renommiertesten Literaturpreise erhalten, die überhaupt vergeben werden. Den bereits erwähnten Vorwurf, dass dieser Roman im Kern nicht politisch sei, wird sich der Autor vielleicht gefallen lassen müssen. Doch wird es ihn kaum stören. Denn es ist ihm offensichtlich darum zu tun, seinen Leser*innen nahezubringen, wohin führen kann, was sich seit nun doch schon einiger Zeit auch und gerade in Europa andeutet und was schneller Realität werden könnte, als wir glauben. Es ist an der Zeit, ich zu erheben und noch mehr, noch stärker für die Demokratie einzustehen. Da ist ein Buch wie dieses höchst willkommen.

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