DAS SCHRECKLICHE MÄDCHEN
Michael Verhoeven erinnert daran, wie Erinnerung manipuliert oder gar gleich verdrängt werden kann
In einer bayrischen Stadt Ende der 60er, anfangs der 70er Jahre, gewinnt die junge Sonja (Lena Stolze), Tochter eines im Kern konservativen Lehrerehepaars, einen Aufsatzwettbewerb. Dies spornt sie an. Die an sich schon gute Schülerin wird in der Stadt herumgezeigt und geehrt. Ihre Eltern gehören hier zu den Honoratioren, seit der Vater Schulleiter ist.
Sonja nimmt einige Zeit später an einem weiteren, vom Bundespräsidenten ausgeschriebenen Wettbewerb teil, diesmal lautet das Thema „Meine Stadt im Dritten Reich“. Doch entgegen ihren ersten Erfahrungen muss Sonja nun feststellen, dass sich die Türen der offiziellen Stellen und vor allem der Archive nun schlagartig vor ihr schließen.
Hier und da fallen Bemerkungen, so deutet Sonjas Oma (Elisabeth Bertram) an, dass es Ungerechtigkeiten gegen Juden gegeben habe und der ehemalige Pastor, auch über seinen Tod hinaus allseits beliebt in der Stadt, in Denunziationen verwickelt gewesen sein könnte.
Doch weder Dr. Juckenack (Hans-Reinhard Müller), der zu den führenden Gestalten der Stadt gehört, ist er doch nicht nur Herausgeber des örtlichen Lokalblatts, sondern auch eines der führenden Kirchenhäupter hier, noch Archivar Schulz (Rudolf Thomer) oder der Bürgermeister (Richard Süßmeier) sind bereit, Sonja zu helfen, geschweige denn Auskunft zu geben. Im Gegenteil: Besonders Archivar Schulz ist ausgesprochen erfindungsreich, wenn es darum geht, dauernd neue Ausreden zu finden, um Sonja die entsprechenden Akten, die sie für ihre Recherchen bräuchte, nicht aushändigen zu müssen. Mal sind die verlegt, mal bereits verliehen, mal zu brüchig, mal zu neu.
Die Zeit vergeht und die junge, pubertierende Frau, die mit ihren Freundinnen natürlich auch die herkömmlichen Interessen Jugendlicher teilt – Tanz, erste Verliebtheit, Gekicher, heimliche Ausflüge – verliert den Mut, je schwieriger sich die Suche nach Akten und in Archiven gestaltet. Zudem lernt sie mit dem Referendar Martin (Robert Giggenbach) ihren zukünftigen Ehemann kennen.
Die Jahre ziehen ins Land, Sonja wird mehrfache Mutter, die Ehe erweist sich als vielleicht langweilig aber beständig. Grundlegend hat sie aber ihr Interesse an der Geschichte ihrer Stadt nie verloren. Also macht sie irgendwann weiter, nun mit der Autorität einer Erwachsenen und vor allem den finanziellen Möglichkeiten. Sie führt mehrere Prozesse, bis die Stadt gezwungen ist, ihr die fraglichen Dokumente auszuhändigen.
Obwohl Sonja es nicht letztinstanzlich beweisen kann, findet sie eine Menge Indizien dafür, dass Dr. Juckenack und dessen langjähriger Freund und Kollege Pfarrer Brummel (Willy Schultes) einst maßgeblich an der Vertreibung eines jüdischen Händlers beteiligt gewesen sind.
Sonja schreibt ein Buch, wodurch sich die Situation in ihrer Heimatstadt, in der sie und ihre Familie nach wie vor leben, grundlegend für sie verändert: Sie wird offen angefeindet, es gibt eindeutig rechtsradikale Kreise, die sie sogar mehrfach bedrohen. Martin gibt auf und geht nach München, Sonja muss nun ihren Kampf allein durchstehen. Selbst ihre Familie rückt nach und nach von ihr ab.
Bei einer städtischen Anhörung kommt es zu einem Eklat, da Sonja ankündigt, als nächstes über die Geschichte der Juden in der Stadt zu schreiben. Den Honoratioren reicht es, es müsse nun endlich Schluss sein mit der Nestbeschmutzerei.
Es gibt danach tatsächlich körperliche Angriffe auf Sonja und ihre Familie, Brandbomben werden auf ihr Haus geworfen, sie und ein Zeuge – der Altkommunist Mergenthaler (Ludwig Wühr) – werden von den Neonazis körperlich angegangen.
Mergenthaler ist aber dennoch bereit, sie zu unterstützen. Er kann einige der Ereignisse, die sie in ihrem Buch angeführt hatte, bezeugen. So kann Sonja sogar in einem von Dr. Juckenack gegen sie angestrengten Verleumdungsprozess bestehen.
Nun auf einmal wird sie in der Stadt gefeiert. Bei einem offiziellen Empfang kommt es zu einem weiteren Eklat, als sie sich gegen die plötzlichen Ehrungen wehrt. Wild schlägt Sonja um sich und geht sogar ihre Mutter an. Die Verlogenheit all der Leute um sie her reicht ihr endgültig.
DAS SCHRECKLICHE MÄDCHEN (1990) ist eins, das den Mund nicht hält, wenn alle Welt beschließt, dass es nun genug sei. Beispielsweise, wenn es zu genau nachfragt, wie das so war, in der heimatlichen Kleinstadt während des 3. Reichs. Will ja keiner dran erinnert werden, will man sich ja nicht mit auseinandersetzen (müssen). Erst recht nicht, wenn man selbst oder nahe Verwandte oder die maßgeblichen Honoratioren der Stadt in Unrecht, Denunziation und Verfolgung verstrickt war.
Michael Verhoeven hat seinen Film anfangs der 90er Jahre gedreht angelehnt an die wahre Geschichte der Anna Elisabeth Rosmus, die zu Beginn der 80er Jahre in Passau zu genau nachgefragt hat und dabei auf massiven Widerstand der Stadtgesellschaft stieß. Er hat seinen Film also zu einem Zeitpunkt gedreht, als Deutschland – etwas undefiniert nach dem Zusammenbruch der DDR und noch uneins, wie genau es sich nun neu zusammensetzen würde – mit Macht auf die weltpolitische Bühne zurückdrängte. Also eigentlich ein guter Zeitpunkt, um sich noch einmal genauer mit der jüngeren Geschichte des Landes und deren Aufarbeitung auseinanderzusetzen.
Verhoeven – in bester Autorenfilmer-Tradition für das Drehbuch verantwortlich und gemeinsam mit seiner Frau Senta Berger auch ausführender Produzent – entschloss sich, die Geschichte als eine Farce aus der deutschen Provinz zu erzählen. Er griff dabei auf allerhand stilistische Mittel zurück, die das Geschehen entfremden, die Figuren zu Typen, durchaus auch Stereotypen degradieren, und so effektiv auf Distanz hielten. Dies ist ein Thesenstück, eine Bestandsaufnahme bundesrepublikanischer Befindlichkeit in den angeblich so aufgeklärten und linken 70er und 80er Jahren, reflektiert in einem Moment, in dem eine neue Zeit anzubrechen schien. Das Publikum war angehalten, sich seinen eigenen Reim auf das zu machen, was es da präsentiert bekam – und zugleich sollte es unterhalten werden. Verhoevens Film setzt deutlich auf Humor, wenn auch bitterbösen, manchmal wirklich schwarzen.
Der gesamte Film wird von Sonja, so der Name des „schrecklichen Mädchens“, im Voiceover erzählt. Sie führt, als deutlich ältere, reifere Frau gekennzeichnet, durch den Film wie sie durch eine TV-Dokumentation erzählen würde. So spricht sie häufig direkt in die Kamera, führt durch die Stadt, in der sie aufwuchs, erklärt die Zusammenhänge. Der Eindruck wird dadurch verstärkt, dass ein Filmteam sie begleitet; gelegentlich, vor allem in den späteren Momenten, wenn ihr „Fall“ bereits Aufmerksamkeit erregt hat und somit ein öffentlicher ist, tritt das Filmteam auch offen in Erscheinung und die von ihm Portraitierten reagieren auch unmittelbar auf die Kamera und das hier und da ins Bild ragende Mikrofon. Verhoeven wählt also zunächst das Stilmittel der heute so genannten Mockumentary, der „falschen“ Dokumentation, greift aber eben auf eine sehr reale, genau recherchierte und damit die erzählte Geschichte nicht nur grundierende, sondern grundsätzlich bestimmende Begebenheit zurück. So löst er die Form der Dokumentation aber auch immer wieder zugunsten der rein filmischen Form und allerhand experimenteller stilistischer Mittel auf und konfrontiert das Publikum mit einer uneinheitlichen, bewusst offen gehaltenen filmischen Repräsentation.
Mal bunt, mal in schwarz-weißen Bildern, für die Axel de Roche verantwortlich zeichnete, mal on Location in einer bayrischen Kleinstadt und damit in einem ausgesprochen realistischen Setting, mal auf einer – deutlich als solche erkennbaren – Bühne vor Rückprojektionen gefilmt, mal surreal entfremdet – wenn bspw. Sonjas Familie samt des Wohnzimmers (offensichtlich auf einem Hänger) durch die Straßen der Stadt gezogen wird und dabei die immer bedrohlicher werdenden Meldungen auf dem Anrufbeantworter abhört, die somit extrem mit der im Hintergrund ablaufenden Alltäglichkeit der Stadt kontrastieren -, gelegentlich auf die Mittel des Brecht´schen Theaters zurückgreifend, wenn die Figuren aus ihren Rollen heraustreten und sich selbst kommentieren oder mindestens Blick-Kontakt zum Publikum aufnehmen, gelingt es Verhoeven, einen an sich unglaublich verwerflichen Vorgang wie ein satirisch angehauchtes, absurdes Theaterstück wirken zu lassen.
Verhoeven nutzt die bayrische Kleinstadt als Kulisse wohl auch, weil sie in den 70er Jahren noch nach Regeln funktionierte, die vergleichbare Städtchen in Nordrhein-Westfalen oder Hessen möglicherweise schon abgelegt hatten. Zwar behauptet er in einer Schrifttafel zu Beginn des Films, die dargestellte Stadt könne überall liegen (und sicher gab es auch überall noch genau die Typen, die er hier vorführt, keine Frage) und er griffe nur deshalb auf eine bayrische Stadt zurück, weil er nun einmal selbst hier lebe und sie kenne, doch das darf man getrost als Koketterie begreifen. Denn Verhoeven zeigt seinem Publikum ja nicht von ungefähr eine Stadt Ende der 60er und in den 70er Jahren, in der die Verklemmtheit aufgrund religiöser Konventionen derart ausgeprägt ist, wie hier in den ersten zwanzig Minuten des Films. Und die reale Geschichte hinter der Filmgeschichte spielte sich nun einmal in Passau ab, also in der tiefsten bayrischen Provinz.
Gerade die religiös bestimmte Verklemmtheit mutet durchaus komisch an, war 1990 allerdings komischer, weil es damals einer in Teilen immer noch herrschenden Realität entsprach. Die kichernden Mädchen am rein weiblichen Gymnasium, wenn ein Mann als Referendar auftritt und im Physikunterricht nahezu alles falsch macht, wenn er von der „Wärme“ spricht, die bei der „Reibung von Körpern“ entstehe, sind da nur die Spitze des humoristischen Eisbergs. Das erinnert allerdings eher an die 50er Jahre. Auch, wenn Sonja davon berichtet, wie sie und ihre Freundinnen samstags mit den Jungs vom Jungen-Gymnasium wild zu fremder Musik getanzt hätten, denkt man eher an die Zeiten von Bill Haley und Elvis, Peter Kraus und Connie Froboess. Von den Aufbrüchen der späten 60er Jahre, von Sex and Drugs and Rock´n´Roll, von politischer Unruhe und studentischen Störgeräuschen ist hier wenig bis nichts zu spüren. Aber genau so mag es in Passau gewesen sein, zwischen 1967 und 1979. Der bayrische Wald war (und ist) allertiefste Provinz und möglicherweise hat man hier wirklich erst zehn Jahre später von den Vorgängen in Berlin, Hamburg und selbst München erfahren.
Hier schmücken sich die Honoratioren der Stadt mit der erfolgreichen Schülerin Sonja, solange die sich brav an die Konventionen hält; sobald sie aber einen eigenen Gedanken oder gar tiefergreifendes Interesse an der Geschichte der Stadt und ihres unmittelbaren Umfelds entwickelt, greifen dieselben Damen und Herren auf das Vokabular des autoritären Kleinbürgers zurück, der sich nicht argumentativ erklären muss, sondern Kraft seines Amts oder seiner gesellschaftlichen Position zu bestimmen weiß. „Halt den Mund!“ ist dann genau der Tenor, der Sonja entgegenschlägt. Wer alt genug ist, der kennt diese Figuren noch, der wird sich noch an diese und ähnliche Sprüche erinnern. 1990 waren sie durchaus noch gängige Stereotypen, mit denen man es allenthalben zu tun bekam, gleich ob in der Schule, in den Kirchen, in Sportvereinen, später bei der Musterung oder im Kreiswehrersatzamt. „Das wird so gemacht, weil ich es sage!“ – ebenfalls ein durchaus gebräuchlicher Spruch einer tautologischen Autorität, die sich aus sich selbst, gleichsam mystisch, zu speisen glaubte. Unheimlich, gelegentlich.
Und obwohl Sonja lange – auch, weil sie, wie alle Figuren hier, wenig bis gar nicht psychologisiert wird, sondern funktional und zudem mit einem scheinbar nie erlöschenden Lächeln im Gesicht auftritt – von dem, was da geschieht, kaum wirklich berührt scheint, ist es Verhoevens Inszenierung und mehr noch dem brillanten Spiel von Lena Stolze zu verdanken, dass das Unheimliche, das der ganzen Geschichte innewohnt, eben doch spürbar wird. Und zu diesem Unheimlichen gehört eben auch die Härte der Anfeindungen, die Sonja und ihre Familie erleben. Immer wieder schneidet Verhoeven in eine ebenfalls als Theaterkulisse dargestellte Kneipe, in der vor allem junge Männer trinken und sich gegenseitig hochjazzen. Schließlich greifen diese Sonja sogar körperlich an. Der Film scheut sich, diesen Teil der Geschichte übermäßig zu dramatisieren, woran er guttut, denn es geht hier vornehmlich um die Reaktionen des bürgerlichen Teils der Stadt, nicht um die Schläger aus der rechten Szene. Doch hat es diese gegeben (und es gibt sie noch) und sie zu zeigen und damit auch die Gefahr zu zeigen, in der eine ebenfalls vollkommen bürgerliche Familie wie Sonjas plötzlich schweben kann, wenn sie sich in einem begrenzten Kosmos mit den falschen Leuten anlegt und mit den „falschen“ Dingen beschäftigt, ist wichtig und gehört zu dieser Geschichte dazu.
Wesentlicher aber ist die Auseinandersetzung mit der Stadt und denen, die dafür sorgen wollen, dass unter dem Teppich bleibt, was im Lichte der Öffentlichkeit nicht erwünscht ist. Und wie nebenbei erzählt Verhoeven eben auch von der Entwicklung dieser jungen Frau und davon, wie sich ihre Entwicklung auf ihre Familie und das Familienleben auswirkt. Ihr Mann verlässt sie, weil er die Anfeindungen nicht mehr erträgt, ihre Eltern sind irgendwann der Meinung, es müsse einmal gut sein, die Stadtväter und -mütter sind sowieso dieser Meinung.
So ist die Schlussszene des Films umso verstörender. Denn hier tritt Lena Stolze nicht, wie so häufig zuvor im Film, aus ihrer Rolle heraus, vielmehr macht sie den Eindruck, sich die Rolle endgültig anzueignen, eins zu werden mit dieser Sonja und indirekt dann doch wieder die Metaebene der Geschichte zu bedienen: Nachdem ihr Buch veröffentlicht wurde, sie den Verleugnungsprozess gewonnen hat und in Form eines Empfangs bei der Stadt Anerkennung findet, bricht endlich die ganze Wut und Verzweiflung aus ihr heraus, die sich im Laufe der Jahre in dieser jungen Frau und im Laufe des Films in ihrer Darstellerin (und hier ist der von vielen Schauspielern oft als despektierlich empfundene Begriff „Darsteller“ tatsächlich und rein positiv angebracht) aufgestaut haben. Sie bricht hervor, diese Wut und richtet sich gegen alles und jeden: Die Stadtverordneten ebenso wie gegen die Eltern, die bigotte Gesellschaft, die Honoratioren und Schmeichler und Ja-Sager und all jene, die weggeschaut haben. Die weggeschaut haben damals, es „es“ geschah – „es“, worüber keiner reden mag, das Verschwiegene, vielleicht Verdrängte – und die weggeschaut haben, als Sonja „es“ aufarbeiten wollte und dafür belächelt, belogen und schließlich bedroht wurde. Nun bricht sich all diese Wut Bahn und da ist nichts mehr von dem freundlich lächelnden Mädchen, das seinen Eltern und den Lehrern und überhaupt der ganzen Stadt solch eine Freude und Ehre bereitet hat.
Michael Verhoevens Film erschien vor nahezu 35 Jahren und hat sicherlich ein wenig Patina angesetzt was die Typologie und die Darstellung kleinstädtischen Spießertums betrifft. Doch was das Schweigen und Verdrängen und die Geschichtsvergessenheit betrifft, könnte DAS SCHRECKLICHE MÄDCHEN nicht aktueller sein. Es ist ein Film, den anzuschauen alle paar Jahre nur hilfreich sein kann. Nicht nur, weil er darüber aufklärt, wie es war, sondern vielmehr, weil er darüber aufklärt, was uns allen blüht, wenn wir das Erinnern vergessen und vergessen, zu sagen, wie es war. Es ist an der Zeit!