DER NIEMAND VON DER NARCISSUS/THE NIGGER OF THE NARCISSUS

Der dritte Roman von Joseph Conrad - umstritten und großartig

Will man symbolisch im Duktus dessen bleiben, worüber er schrieb, könnte man sagen, Joseph Conrad stach erst mit seinem dritten Roman „in See“. Hatten seine ersten beiden Werke an der Mündung eines Flusses irgendwo im malaiischen Archipel gespielt, wagte sich der Seemann und Sprachkenner Conrad nun also an Bord eines Schiffes – der Narcissus, auf der er selbst tatsächlich 1884 angeheuert hatte – und erzählte von den Begebenheiten während der Umrundung des Kaps der Guten Hoffnung, bei denen beinah eine Meuterei ausgebrochen wäre.

So entstand Conrads Roman THE NIGGER OF THE NARCISSUS (1897; Dt. In der Neu-Übersetzung von Mirko Bonné DER NIEMAND VON DER NARZISSUS/2020). In der Wissenschaft als die vielleicht beste Erzählung seiner Frühphase anerkannt, erzählte der Autor hier also offenbar in autobiographischen Bezügen von den Vorkommnissen auf jenem Schiff. Er nutzt hier die für ihn immer typischere Erzählperspektive eines, durchaus prekären, Ich-Erzählers, der deutlich mehr weiß, als er wissen kann und also auch ein auktorialer Erzähler ist. Ein gelegentliches „wir“, noch seltener ein „ich“ erinnern den Leser immer mal wieder daran, daß hier ein Seemann von etwas berichtet, das er selbst erlebt und beobachtet hat – auch wenn der Erzähler mit der eigentlichen Handlung kaum etwas zu tun hat und wirklich nur ein „stiller Beobachter“ gewesen sein kann. Natürlich kann man Conrad auch unterstellen, daß er bewusst mit der Möglichkeit des „Seemanngarns“ spielt, den Leser also dahingehend an der Nase herumführt, indem er erkennbar auch von den Dingen erzählt, die er nicht wissen kann. Dialogen in geschlossenen Räumen, mehr noch den Gedanken in den Köpfen bspw. der Offiziere an Bord.

Inhaltlich begibt sich Conrad hier auf jenes Feld, das er zukünftig wie kaum ein zweiter seiner Generation beackern würde: Das Spannungsfeld aus Loyalität, Freundschaft, Verbundenheit, aber auch Pflicht, Verantwortung und dem möglichen Verrat, den diese Tugenden immer schon in sich tragen. Das Schiff wird bei Conrad also immer auch zum Symbol einer Gesellschaft, die sich wandelt, die sich mit Ereignissen konfrontiert sieht, die sie nicht erwartet hat, bzw. die sie fürchtet; zugleich erzählt Conrad aber auch ganz konkret davon, was eine Schiffsreise in jenen Jahren des Übergangs von der Segelschifffahrt zur dampfbetriebenen Schifffahrt bedeutete. Von den Gefahren und Anforderungen, die die Seefahrt mit sich bringt.

Bevor die Narcissus von Bombay aus ablegt, um sich auf die lange und gefährliche Reise gen London aufzumachen, begutachten der Kapitän und seine Offiziere die Mannschaft. Neben den erfahrenen Seeleuten, die bereits auf dem Schiff gedient haben, stoßen der Matrose Donkin und ein hünenhafter Schwarzer namens James Wait zur Mannschaft. Während Wait schnell klarmacht, daß er im Grunde nicht arbeiten kann, da er schwer krank ist – obwohl die Krankheit im Roman nie genauer beschrieben und auch nicht benannt wird, scheint es sich wohl um Tuberkulose zu handeln, da Wait selbst sich in eine Art Quarantäne begibt und immer wieder seine fürchterlichen Hustenanfälle beschrieben werden – und bald sterben wird, betätigt sich Donkin schnell als Aufrührer. Immer wieder versucht er, die Mannschaft gegen die Offiziere aufzuwiegeln, die an Bord herrschende Ungerechtigkeit aufzuzeigen und das hierarchische System aus Befehl und Gehorsam in Frage zu stellen.

Während die Mannschaft ihren Aufgaben nachgeht, kümmern sich einige der Matrosen geradezu hingebungsvoll um den kranken Wait. Doch einige der Männer verdächtigen den Schwarzen, der ihnen zugleich wie die Verkörperung des Fremden vorkommt, der Simulation. Sie glauben ihm weder, daß er wirklich krank sei, noch daß er sterben muß. Tatsächlich ist Waits Benehmen nur schwer einzuschätzen: Sowohl die Männer des Schiffs als auch der Leser werden lange im Unklaren darüber gehalten, wie es sich mit Wait und seiner Krankheit in Wirklichkeit verhält. Zudem ist das Verhalten des Mannes zutiefst erratisch. Gegenüber seinem mittlerweile zu einer Art Freund aufgestiegenen Kollegen Belfast äußert er einmal, daß er nicht wirklich glaube, sterben zu müssen, von Donkin mit dessen Verdacht konfrontiert, daß er ein Hochstapler sei, bestätigt Wait die Annahme und gibt an, er habe das schon öfter genau so gemacht – sich als krank ausgegeben, dann einige Tage vor Ende der Fahrt Genesung angemeldet und dadurch die volle Heuer eingefahren. Es mag also daran liegen, daß Donkin in dem schwarzen Mann, der den Obrigen eine Art Schnippchen zu schlagen scheint (wenn auch auf Kosten seiner Kollegen), eine Art Verbündeten sieht. Denn Donkins Reden ähneln oft jenen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Sozialisten und teils auch Anarchisten zu vernehmen waren.

Daß Conrad wachen Bewusstseins auch für die politischen Entwicklungen seiner Zeit war, hat er in mehreren seiner späteren Romane bewiesen. Daß er ebenfalls über ein sehr waches Bewusstsein für die Folgen des Imperialismus, des Kolonialismus und des damit einhergehenden Rassismus verfügte, hatte er bereits in seinen ersten beiden Romanen nachgewiesen. So darf die Konstellation, die er an Bord der Narcissus entwirft – die allerdings, soweit die Conrad-Forschung, ebenfalls in zwei selbst erlebten Ereignissen während seiner Zeit als Seemann gründeten – keineswegs als zufällig betrachtet werden. Conrad, ein eher konservativer Mann, der dennoch um die Fehlbarkeiten des Menschen und der Gesellschaften wusste, die der Mensch hervorbringt, wird keinerlei Sympathien für den Sozialismus gehegt haben; zugleich wird er aber verstanden haben, daß die Anliegen der arbeitenden Massen – gerade in England, wo die industrielle Revolution teils verheerende Folgen für das Individuum wie die Gesellschaft hatte – durchaus berechtigt gewesen sind. So erscheinen Donkins Tiraden zwar geifernd und hasserfüllt, in ihren Aussagen aber nicht vollends verrückt, sondern durchaus angemessen. Daß an Bord eines Schiffes allerdings ein System aus Befehl und Gehorsam dringend nötig ist, zeigt Conrad seinem Publikum dann anhand der aufregendsten Passage des für Conrads Verhältnisse eher kurzen Romans. Denn als das Schiff am Kap der Guten Hoffnung in einen furchtbaren Sturm gerät und dabei in eine wahrlich gefährliche Schieflage, die zu einem Kentern zu führen droht, halten sich die Männer der Narcissus trotz aller Bedenken an die Angaben des Kapitäns, der sich weigert, die Masten zu kappen und das Schiff eine ganze Nacht und einen weiteren Tag lang nur mit der Kraft seines Blickes und des sich darin ausdrückenden Willens vor der Katastrophe zu bewahren scheint.

Literarisch gelingen dem Schriftsteller hier einige der besten Passagen, die sein gesamtes Werk aufweisen. Wie es ihm gelang, dem Leser in den Vorgängerromanen die schwüle Hitze Malaysias zu vermitteln, so gelingt es ihm nun, sein Publikum mit einer Mischung aus naturalistischen Beschreibungen der stürmischen See und metaphysischen Betrachtungen dessen, was sich in den Köpfen der Matrosen abspielt, zu fesseln. Das Schiff wird zu einer Schicksalsgemeinschaft. Und James Wait, eingesperrt, verbarrikadiert in eine kleine Kajüte, wird für die Mannschaft zu einem Symbol des eigenen Überlebens. In einer verzweifelten Aktion bemühen sich die von Conrad dem Leser als Hauptprotagonisten der Handlung vorgestellten Männer, Wait aus dem sicheren Grab zu retten, in welchem er zu ertrinken droht.

Es ist typisch für Conrad, die moralischen Implikationen seiner Erzählung maximal ambivalent zu halten. Donkin gelingt es fast, eine Meuterei gegen den Kapitän und die Offiziere anzustacheln, als diese Wait, der sich wieder zur Arbeit meldet (nachdem er, folgt man Conrads Text genau, die gesamte Fahrt auf dem Krankenlager zugebracht hat), diese verweigern und ihn als Simulanten bezichtigen, der nun in der Kabine zu bleiben habe. Es kommt sogar zu gelinder Gewalt, doch ungünstige Winde bringen die Matrosen dazu, sich doch dem Schiff zu widmen und den Befehlen der Offiziere zu folgen. Donkin ist dadurch isoliert und schimpft auf die Feigheit seiner Kollegen. Als Wait stirbt und sich seine Prognose hinsichtlich seiner Lebenserwartung letztlich bestätigt, bricht jeglicher Widerstand gegen die Offiziere zusammen. In London angelangt, erhalten die Matrosen ihren Lohn und die Mannschaft geht auseinander. Donkin entschließt sich, von nun an sein Glück mit festem Boden unter den Füßen zu suchen – und richtig, man kann sich den Mann sehr viel besser auf einer Kartoffelkiste vor einem Fabriktor vorstellen, wo er gegen das Kapital agitiert, als an Bord eines Schiffs, wo der Gehorsam, das hat Conrad mit seiner Erzählung hinlänglich bewiesen, letztlich überlebenswichtig ist.

Wie so oft bei diesem Autor, ist die eigentliche Handlung des Romans eher nebensächlich, auch wenn es ihm immer wieder gelingt, aus scheinbar einfachen Geschichten großes Konfliktpotential zu generieren. Im Grunde erzählt er von einer Schiffspassage, bei der ein starker Sturm die Mannschaft gefährdet und davon, wie sich die Männer retten, bzw. wie das Verhalten des Kapitäns, scheinbar wirr, geradezu spirituell, letztlich die Katastrophe verhindert. Doch wie so oft bei Conrad, liegt die eigentliche Geschichte unter der reinen Handlung verborgen. Die Mischung aus einem schwarzen Matrosen, der vielleicht simuliert und dann wirklich krank wird, der vielleicht aber auch wirklich schon krank an Bord kommt und hofft, irgendwie noch einmal die Heimat zu sehen, einer Mannschaft, die sich größtenteils aus erfahrenen Matrosen und Seeleuten zusammensetzt, und einem Aufwiegler, der offenbar kein Matrose ist, zumindest kein erfahrener, dafür aber das Deck eines Handelsschiffs als Bühne für seine Agitation nutzt, birgt enormes Konfliktpotenzial und bietet dem Autor spannungsreichen Stoff für eine seiner oft kühlen Betrachtungen menschlichen Verhaltens in Ausnahmesituationen und moralischen Konflikten. Deutlicher würde diese Sicht im Nachfolger LORD JIM: A TALE (1900 erschienen) werden, wo ein junger Offizier sein Schiff ver- und die Passagiere in einer Gefahrensituation sich selbst überlässt. Dort liegen die moralischen Konflikte klar auf der Hand, in THE NIGGER OF THE NARCISSUS sind diese Konflikte subtiler angeordnet, lassen mehr Interpretationsspielraum.

So kann der Leser lange über James Waits Charakter grübeln und sich fragen, was dieser Mann an sich hat, daß er einer Mannschaft, der er weitestgehend feindlich gesonnen begegnet, zum Maskottchen wird. Und wieso tritt Wait in dieser seltsamen Mischung aus Hilfsbedürftigkeit und Angeberei, ja, offener Feindseligkeit, auf? Sieht Conrad etwas in dieser Figur (die ebenfalls auf einer realen Person beruht, deren Sterben Conrad auf einer seiner Reisen erleben musste), was die Heutigen als ein recht neues Phänomen betrachten, nämlich einen Schwarzen, der sich einerseits zu schützen sucht – auch emotional zu schützen sucht – zugleich aber auch bereit ist, seinem Selbstbehauptungswillen Ausdruck zu verleihen? Ist Conrad sich möglicherweise bewusst gewesen, wie groß das Unrecht war, das dunkelhäutigen Menschen widerfuhr, gleich welcher Nationalität, gleich welche Abstufung von Bräune ihre Haut aufweist? Und sah er die Notwendigkeit, sich in einer kolonialisierten, imperialen Welt, die durch europäische Großmächte aufgeteilt wurde, zur Wehr zu setzen, ja sogar auf die eigene Individualität zu pochen und diese zu behaupten und zu verteidigen? Ist Wait also in gewisser Weise ein Vorläufer jener Figuren, die bspw. Jahre später William Faulkner in Romanen wie LIGHT IN AUGUST (1932 erschienen) entwarf? Damit wäre Conrad sicher noch kein Kritiker des Rassismus, dennoch aber beweist er auch in dieser Erzählung, Lang-Novelle oder kurzem Roman, wie man will, ein waches Bewusstsein für die Problematik.

Mirco Bonné hat sich entschlossen, die Problematik des Titels damit zu umgehen, daß er eine Dialogpassage im Roman aufnimmt, in der Donkin Wait erklärt, er sei ein Niemand, ein Nichts. Das N-Wort kommt im Text allerdings mehrfach vor und wird von Bonné auch exakt so übersetzt, doch offenbar wollte er es nicht mehr im Titel haben. So passt die Bezeichnung „Niemand“ zwar, doch zugleich wird eine Bedeutungsebene, die der Roman tatsächlich aufweist, zumindest zurückgestutzt. Denn es muß durchaus davon ausgegangen werden, daß sich Joseph Conrad durchaus bewusst gewesen ist, was das Signalwort N***** bedeutet. Mindestens nämlich markiert es die Distanz zwischen Wait und den anderen „Niemanden“, die die Männer Mannschaft ja ebenfalls sind. Waits „Nicht-Sein“ umfasst aber eine noch ganz andere Ebene, als einfach nur ein Mensch zu sein, der kein Gehör findet, dem keine Gerechtigkeit widerfährt.

Die Diskussion um belastete Worte in älteren Texten treibt momentan die Verlage und das Feuilleton um, ein jeder glaubt, eine Meinung dazu haben zu müssen. Wahrscheinlich sollte man umstrittene Bücher – also auch dieses – mit einem ordentlichen Apparat ausstatten, in welchem auf die Widersprüche und Schwierigkeiten hingewiesen wird. Diese Ausgabe im mare-Verlag weist genau diesen Apparat auf, auch ein Nachwort zum Umgang mit kontaminierter Sprache liegt vor. Bonné hat sich dazu entschlossen, so zu verfahren, wie er es getan hat, das kann man kritisieren, muß es aber nicht. Erst recht nicht, da die Übersetzung wahrlich gelungen ist und Conrads wortgewaltige Sprache angemessen wiedergibt.

Wie man es auch damit halten mag, DER NIEMAND VON DER NARCISSUS ist auch in dieser Form ein wunderbares Beispiel für die Vielschichtigkeit des Autors Joseph Conrad. Der Roman wird nicht zu Unrecht als eines seiner besten Werke bezeichnet, auch, wenn vor allem der direkte Vorläufer, AN OUTCAST OF THE ISLANDS (1896), schon die ganze Könnerschaft des Autors bewies. Hier ist er allerdings noch mehr – im wahrsten Sinne des Wortes – in seinem Element und beweist, auf wie vielen Ebenen er die Welt wahrzunehmen in der Lage war. Elementar, in ihren Sinneseindrücken, aber auch psychologisch, gesellschaftlich und politisch. Joseph Conrad hat es verdient, neu entdeckt und wieder gelesen zu werden.

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