DIE ABWICKLUNG/THE UNWINDING: AN INNER HISTORY OF THE NEW AMERICA

From the Monongahela valley/To the Mesabi iron range/To the coal mines of Appalachia/The story's always the same...

„…Seven hundred tons of metal a day
Now sir you tell me the world’s changed
Once I made you rich enough
Rich enough to forget my name…“

~ Bruce Springsteen YOUNGSTOWN
Nun ist es ja im Europa nach dem Kalten Krieg (spätestens) schick geworden, sich eines gepflegten Antiamerikanismus zu befleißigen. Wer auf sich hält, mag die USA nicht, sind sie doch für alles Böse auf der Welt verantwortlich. Es ist v.a. deshalb so einfach (und so wohlfeil), weil die USA nach 9/11 natürlich so ziemlich jeden Fehler begangen haben, den man begehen muß, um ein solches Urteil zu rechtfertigen. Daß dabei auch alte antiamerikanische (und nebenbei antisemitische) Vorurteile wieder aufleben, wird hingenommen, ist sicherlich von manchen auch stillschweigend erwünscht. Doch für diejenigen, die Amerika – also die USA – etwas differenzierter betrachten – sei es, weil sie das Land kennen, sei es, weil sie einfach noch aus einer Generation stammen, für die die amerikanische Popkultur nicht einfach nur „Kulturimperialismus“ bedeutete, sondern eben doch auch diesen Geschmack hatte von Freiheit (was immer das bedeutete), davon, daß man sich in Bewegung setzen konnte und mit dieser Bewegung niemals mehr aufhören mußte, für die Amerika trotz all seiner Mißstände und unzweifelhaften Fehler eben auch ein großartiges Versprechen barg – für all diese ist das, was mit Amerika seit geraumer Zeit geschieht vor allem traurig. Das Land befindet sich im Niedergang und der Rest der Welt sieht zu – teils mit einer Träne im Auge, teils hämisch. George Packer hat ein Buch geschrieben für all jene, die eine Träne im Auge haben und für jene, die, ganz realpolitisch denkend schlicht auch wissen, welche Gefahren ein an sich selbst erstickendes, sich nur mit sich selbst beschäftigendes Amerika für die Welt bedeutet.

Vorneweg: Dies ist kein Roman! Der Autor George Packer legt großen Wert auf diese Feststellung, die er im Nachwort trifft. Dennoch möchte er sein Werk aufgrund der Collagetechnik, die er anwendet, in einer Reihe mit John Dos Passos U.S.A.-Trilogie gestellt sehen: THE 42nd PARALLEL (1930), NINETEEN NINETEEN (1932) und THE BIG MONEY (1936). Waren es dort die Jahrhundertwende und die Folgen des Ersten Weltkrieges, die den Autoren mit großem Pessimismus auf sein Land blicken ließen, so beschäftigt Packer die Zeit der amerikanischen „Abwicklung“ seit den späten 70ern, als mit der zweiten Ölkrise nach 1973 auch den Nichtexperten ins Bewußtsein drang, daß stetes Wachstum, ewiger wirtschaftlicher Aufschwung und Prosperität kein Naturzustand sind. Als der Club of Rome 1972 auf die „Grenzen des Wachstums“ aufmerksam gemacht hatte, war dies in der westlichen Welt, vor allem in den USA, wie die erste Ölkrise, ebenfalls ein wahrer Schock. Und gerade die USA erlebten in jenen Jahren auch den Niedergang demokratischer Gewißheiten: Der Vietnamkrieg wurde zunehmend eine nationale Belastung sowohl moralischer als auch politischer und wirtschaftlicher Natur; als Nixon mit seinem Rücktritt seiner Amtsenthebung zuvorkam, wusste auch der letzte Republikaner, Konservative oder Patriot, daß das Land moralisch bankrott war. Diese Erkenntnis bescherte dem Land eine – auch kulturelle – Depression, aus der erst Ronald Reagan es wieder herauszuführen wusste. Doch zu welchem Preis?

Auf gut 500 Seiten läßt George Packer den geneigten Leser am Untergang des modernen Amerika seit den 70er Jahren teilnehmen und Seite für Seite wird einem bei der Lektüre kälter. Denn schnell wird uns klar, daß der vermeintliche Aufschwung des Landes in den 80er Jahren und dann bis hinein in die 90er genau jene Blasen schuf, die anfangs der 2000er Jahre platzten und dann schließlich 2008 mit der Implosion der Immobilienblase in eine Finanzkrise globalen Ausmaßes führten. Und zugleich setzte der Niedergang der Institutionen ein. Ob Bildung oder Gesundheitswesen, ob Gerichtsbarkeit oder die Verfassung – das, was das Land einst groß gemacht hatte und auch zu einem Traum werden ließ, der global geträumt worden war, ging nicht einfach den Bach hinunter, nein – es wurde zu großen Teilen bewußt bekämpft, schlecht gemacht und vernichtet. Und zwar nicht von den allseits stets vermuteten und immer als Gefahr wahrgenommenen Kommunisten und anderen „Feinden der (vermeintlichen) Freiheit“, sondern von genau jenen Konservativen, die für sich stets in Anspruch genommen haben, das „eigentliche“ oder „echte“ Amerika zu repräsentieren. Jene Amerikaner, die sich in den vergangenen zehn Jahren in Graswurzelbewegungen wie der „Tea Party“ sammelten und es schafften, die ‚Grand Ol‘ Party‘, als die sich die Republikaner sehen, derart zu unterminieren, daß diese mittlerweile nahezu vor der Spaltung steht.

Packer greift in seinem Text auf Gespräche zurück, die er mit „ganz normalen Menschen“ geführt hat. Menschen, die ihr Leben dort gelebt haben, wo das „einfache“ Amerika sich immer gesehen hat: Im Heartland, jenen Staaten, wo einst die Kornkammern lagen, später auch die Industrie- und Stahlgürtel, die dann zu „rust belts“ wurden, als die Stahlindustrie anfangs der 80er zu erodieren begann und Städte wie Youngstown, Ohio nicht mehr Wohlstand auch für Arbeiter versprachen, sondern plötzlich zu Fallen wurden für die Zurückgelassenen, die natürlich oft schwarz waren oder lateinamerikanisch.

Tammy Thomas ist eine dieser schwarzen Frauen, die auf ein Erbe starker Vorfahren zurückblicken konnten, die gelernt hatten, sich nicht unterkriegen zu lassen, die ihr Leben lang gekämpft haben – für die Ausbildung und sichere Lebensräume für ihre Kinder, für ein paar Dollar extra, damit man sich ein Haus, ein Heim leisten konnte und vor allem: Um ihre Würde. Frauen, die nicht aufsteckten und auch im beginnenden Alter noch bereit waren, Neues auszuprobieren, in diesem Falle politisches Engagement.

Dean Price ist ein solcher Mann, der eine Idee hat, wie man sich mit Biodiesel das lästige Rohöl vom Hals schaffen könnte, der der Meinung ist, in Amerika immer noch im Land der unbegrenzten Möglichkeiten zu leben, wo eine gute Idee belohnt wird, wo man aus einem Spleen ein Vermögen machen kann, wenn man nur hartnäckig bleibt und bereit ist, wirklich hart zu arbeiten. Und selbst nachdem ihn ein Geschäftspartner übers Ohr gehauen hat und die Krisen der Wirklichkeit seine Geschäftsideen ausbremsen, ist er nicht bereit, klein beizugeben.

Wir lernen Jeff Connaughton kennen, der mit einer sehr guten Ausbildung und großem Talent wie geschaffen scheint für eine Karriere an der Wall Street, wie geschaffen scheint für das ganz große Geld, und der dennoch lieber in die Politik geht, der lieber etwas bewegen möchte, der sich als Biden-Mann sieht und für den Senator nahezu 30 Jahre lang in Wahlkämpfen Spenden zu sammeln bereit ist, auch wenn Joe Biden ihn letztlich nie ernst genommen und einige Male sogar gedemütigt hat.

Um diese drei Biographien herum, die das ganze Buch hindurch über den Zeitraum von ca. 30 Jahren verfolgt werden und an deren Lebensumständen der Niedergang der Industrie und der Städte, der politischen Klasse und ihrer Vertreter sowie der des amerikanischen Traums generell exemplifiziert werden, gibt Packer uns ebenso exemplarische Einblicke in die Entwicklung gewisser Städte, die ebenfalls mehrmals im Laufe der ‚Handlung‘ aufgegriffen werden – Tampa (als Beispiel einer jener Städte, in denen die Immobilienblase besonders hart einschlug) oder des Silicon Valley, wo wiederum Menschen wie Peter Thiel, Mitbegründer des Paypal-Systems an ganz anderen, für Demokraten äußerst erschreckenden Zukunftsvisionen arbeiten, die das ach so verheißungsvolle kalifornische Tal, das in den 80ern zu einem wahren El Dorado ausgerufen wurde, in ganz anderem, nicht sonderlich sympathischen Lichte erstrahlen läßt.

Und dann sind da Newt Gingrich, Oprah Winfrey, Raymond Carver, Sam Walton (Wal-Mart), Colin Powell, Alice Walters, Robert Rubin (Politiker und Berater Präsident Obamas), Jay-Z, Andrew Breitbart (rechtskonservativer Blogger) und Elizabeth Warren – heute Berühmtheiten, deren Lebensgeschichten für die unterschiedlichsten Wege, Lösungen und Möglichkeiten stehen, die aber auch verdeutlichen, wie sich die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter geöffnet hat und wie nicht nur einst gute Ideen in ihrer Durchführung zunehmend bedrohlich werden können, sondern auch, daß einstmals gültige Gewißheiten der amerikanischen Lebensart – z.B. Solidarität, ohne die man keinen Siedlertreck 2000 Meilen durch Prärien, Wüsten, Schlamm, über Bergketten und durch Flüsse vorantreiben kann – schlicht nicht mehr existieren. Auf eine Oprah Winfrey, so viel sie zu geben haben mag und so wichtig ihr Aufstieg für Schwarze sein mag, kommen Hunderttausende Tammy Thomas‘, deren Leben immer Kampf bedeuten wird. Ein Jay-Z mag es schaffen, aus den Slums der Bronx und den Fängen der Drogenkriminalität, Tausende bleiben auf der Strecke unterwegs. Und sowohl dessen Geschichte, als auch die eines Peter Thiel, zeigen uns, daß jene, die es geschafft haben, keineswegs – wie der klassische amerikanische Milliardär vom Schlage eines Dale Carnegie oder John D. Rockefeller – dazu neigen müssen, sich als Philantrophen einen Namen zu machen. Im Gegenteil: Die neue Generation der Superreichen sieht sich schlicht als Gewinner, denen alles zusteht, während die, die nichts haben, dies zu recht nicht haben. Diese Männer und Frauen haben sich längst entkoppelt von jeder Idee einer Gemeinschaft, die einst – man betrachte nur die Filme eines John Ford – so grundprägend für dieses Land gewesen ist. Ein gnadenloser Verteilungskampf ist da entstanden, hat alle anderen, nicht-monetären Ideen verdrängt, ein Verteilungskampf, den die Ultrakonservativen und Ultrakapitalisten in acht Jahren Ronald Reagan auf den Weg gebracht haben und dabei als „eigentliche amerikanische Tugend“ ausriefen. Zu unrecht. Daß Amerika auch eine große antikapitalistische, solidarische Tradition hat, wird dabei gern und oft vergessen. Vor allem bei europäischen Amerikahassern…

Packers Buch hält sich auf Distanz. Er kommt seinen Figuren zwar nah, doch enthält er sich (fast) jeglichen Urteils, was ihr Tun und Lassen betrifft. Dadurch hat der Leser den weitest denkbaren Rahmen, sich der Tragödie dieses „neuen Amerika“, wie der Autor es im Untertitel des Bandes nennt, anzunähern. Und in einen Abgrund zu blicken, der erschrecken läßt. Der Ton, den Packer anschlägt, ist der eines ruhigen Bruce-Springsteen-Songs aus dessen Ära um 1980 und dem Album NEBRASKA, das sich damals schon mit genau diesem Niedergang zu beschäftigen wusste. Wehmut, das ist das Gefühl, das Packer sich erlaubt. Die Wehmut nach einem Land in einer Zeit, das immer schon Gewinner liebte und Verlierer vergaß, das aber zumindest bereit war, den meisten Chancen – auch zweite und dritte – einzuräumen. Folgt man diesen Kapiteln hier, dann haben die meisten schlicht keine Chance mehr. Und das Land hat sich in die Hände derer begeben, die alles dafür tun werden, daß das auch so bleibt. Nicht die Regierung gestaltet, nein, sie verwaltet – die Mißstände. Republikaner wie Newt Gingrich sind ideologisch derart verblendet sind, daß sie selbst dann gegen alles anrennen würden, was sie als „kommunistisch“ oder „sozialistisch“ betrachten, wenn der Nutzen – man denke nur an Obamacare, die Reform der Gesundheitsversorgung – eindeutig positiv für alle ist. Gerade die Konservativen in der politischen Klasse Amerikas haben sich in den vergangenen 20 Jahren mächtig verrannt und finden kaum mehr aus ihren selbstgestellten Fallen heraus. Dieser Verblendung ebenso, wie dem Abfall des Glaubens des Einzelnen von jenem Traum des ‚Pursuit of Happiness‘ trägt Packer mit seinem Werk Rechnung. Gestalten kann vielleicht noch die Wall Street, die aber nichts lernt aus einmal begangenen Fehlern. Und warum auch? Wenn man „gelernt“ hat, daß Gewinne privater Natur, Verluste aber Angelegenheit des Staates sind, wieso sollte man ein solches „Geschäftsmodell“ ändern? Nur, weil ein paar „Kommunisten“ nach Fairness und Gleichheit schreien? Niemals…

Ein abschließendes Wort zur viel bemängelten Übersetzung: Es stimmt, man kann dem Übersetzer Gregor Hens zum Vorwurf machen, manchmal englische Redewendungen zu übernehmen, wodurch ein seltsames Deutsch entsteht. Die Frage ist, was der Übersetzer erreichen will: Will er den Text in ein adäquates Deutsch übertragen, oder will er versuchen, den Geist des Originals einzufangen? An mancher Stelle muß er sich entscheiden. Ich denke, Hens hat sich für den „Geist“ entschieden und hat daran (meist) gut getan.

Dies ist ein wichtiges Buch. Darüber hinaus ist es aber auch eines jener Bücher, die zum Begleiter werden, weil sie einem tiefere Wahrheiten über ein Thema vermitteln, an dem man vielleicht lange schon arbeitet. Man kann sich in diesen Seiten verlieren und – selbst wenn das am Ende dieser Rezension seltsam erschienen mag – man kann gerade in den Geschichten einer Tammy Thomas, eines Dean Price oder eines Jeff Connaughton auch Hoffnung und den Glaube finden, daß sich dieses Amerika irgendwann auch noch einmal besinnen könnte, sich frei machen könnte von den völlig Verblendeten und noch einmal jenes „New Jerusalem“, jene „City on the Hill“ werden könnte, die einst versprach den Hungernden, Armen und Geknechteten ein Zuhause zu sein. Die Hoffnung stirbt zuletzt.
“ Struck me kinda funny/funny yea indeed/how at the end of every hard earned day/you can find some reason to believe“

~ Bruce Springsteen REASON TO BELIEVE

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