DIE AFFAIRE ALDO MORO. EIN ROMAN/L´AFFAIRE MORO
Ein Relikt aus einer lang vergangenen Zeit? Mitnichten...
In Deutschland sind die späten 70er Jahre oftmals als „bleierne Zeit“ bezeichnet worden: Jahre, geprägt durch den Terror der RAF, durch Unsicherheit, Rasterfahndung, die Schleyer-Entführung und die einer Lufthansa-Maschine nach Mogadischu, wo ein Kommando der GSG9 die Geiseln befreien konnte; darauffolgend die Selbstmorde der in Stammheim einsitzenden RAF-Häftlinge Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe, die bis heute in Frage gestellt werden. All dies geschah im Jahr 1977. Ein Jahr, welches für diese Zeit wie eine Chiffre steht. Vergessen wird in diesem Narrativ häufig, dass auch andere europäische Länder mit Linksterrorismus zu kämpfen hatten – in Frankreich war es die Action directe, in Italien waren es die Brigate Rosse, die Roten Brigaden, die dem Staat und seinen Repräsentanten den Krieg erklärt hatten. Letztere entführten im Jahr 1978 Aldo Moro, den ehemaligen Ministerpräsidenten des Landes, der zum Zeitpunkt des extrem brutalen Überfalls auf seinen Wagen, bei dem seine fünf Leibwächter ums Leben kamen, Präsident des Nationalrats der DC, der Democrazia Cristiana, der christdemokratischen Partei Italiens war.
Die Literatur zum Thema umfasst – ähnlich wie in der Bundesrepublik jene zur RAF und den Terrorjahren – Regalkilometer, doch einige Werke stechen heraus, waren im Laufe der Jahre prägender als andere. Dazu zählt gewiss Leonardo Sciascias DIE AFFÄRE ALDO MORO. EIN ROMAN (L´AFFAIRE MORO, Original erschienen 1978; Dt. hier 2023 bei Edition Converso, neu übersetzt von Monika Lustig und erweitert um den „Bericht einer Parlamentarischen Minderheit“ durch den Autor selbst und einen Essay von Fabio Stassi). Es ist ein gerade wegen der zeitlichen Nähe unmittelbar auf die Geschehnisse reagierender Text, dessen deutscher Untertitel „Ein Roman“ irreführend ist, auch wenn Sciascia – ansonsten berühmt für seine Romane über die sizilianische Mafia wie bspw. DER TAG DER EULE (1961) – aufgrund des häufig spekulativen Inhalts demgegenüber nicht abgeneigt gewesen sein dürfte. Dazu aber später noch eine ausführlichere Erläuterung.
Im Kern ist dies vielmehr ein Langessay, der sich nicht nur mit dem Geschehen direkt auseinandersetzt, sondern auch und vor allem semantisch sich selbst befragt, die eigenen Beweggründe, die eigene Herangehensweise als Text. Vor allem aber ist es eine sehr genaue Untersuchung der Semantik dieser Entführung und ihrer vordergründigen Kommunikationsmittel. Sicher ist hier das eigentliche und unmittelbare Kommunikationsmittel die gnadenlose Gewalt, die die Entführer am Tatort selbst angewandt haben und schließlich auch gegen ihr Opfer anzuwenden bereit waren. Doch ließen seine Entführer Aldo Moro jede Menge Briefe schreiben. Etliche davon, bekannt sind über fünfzig, an befreundete Politiker der DC in der Hoffnung, diese dazu zu überreden, den Bedingungen seiner Kerkermeister zuzustimmen, ihn gegen Gefangene auszutauschen. Diese – späte – Forderung wurde zum Kern der politischen Überlegungen. Die Briefe an sich allerdings sind der Gegenstand, auf den es Leonardo Sciascia ankommt, stellen sie doch das subtilere Kommunikationsmittel in diesem ganzen Fall, in dieser Affäre, dar.
Moro wies in den entscheidenden Briefen, derer einige im Buch in voller Länge abgedruckt sind, immer wieder darauf hin, dass er mehrfach für die Option eines Gefangenenaustauschs votiert hatte, auch und vor allem aus christlichen Überlegungen heraus. So bspw. in Folge der Nachgiebigkeit der bundesdeutschen Regierung im Jahr 1975, als mit der Entführung des CDU-Politikers Peter Lorenz einige Terroristen der RAF sowie der Bewegung 2. Juni, die für die Tat auch verantwortlich war, freigepresst wurden. Die mit scharfem Intellekt und genauer, fast kühler Kenntnis der eigenen Lage geschriebenen Briefe Moros sind auch Jahrzehnte nach ihrem Erscheinen immer noch schwer erträglich. Denn je länger die Entführung andauerte und je stärker Moro spürte, dass die Regierung unter Giulio Andreotti hart bleiben würde und damit – so Sciascias Analyse und Kernthese des Buchs, die schließlich weitreichende Folgen haben sollte – dem von den Brigate Rosse verhängten „Todesurteil“ letztlich zuzustimmen bereit war, desto verzweifelter wird das Flehen des Gefangenen, bis er geradezu um sein Leben zu betteln scheint. Die Strategie der Entführer war perfide, denn sie ließen ihn auch Briefe an seine Familie schreiben – und auch diese gelangten an die Öffentlichkeit und zeigten einen Menschen, keinen Politiker mehr; ein nacktes, auf den Kern seines Wesens reduziertes, einsames menschliches Wesen, welches schlicht Angst hat, um sein Leben bangt und dennoch weiß, dass es bereits tot ist.
Die Brigate Rosse selbst hatten angekündigt, Moro einem „Volksgericht“ vorzustellen, welches transparent handelnd über ihn und seine Vergehen als Politiker urteilen und ihn schließlich verurteilen solle. Eine Anmaßung sondergleichen, für den Autor allerdings nicht wirklich wichtig oder gar entscheidend. Sciascia befasst sich recht wenig mit den Anliegen der Terroristen, wesentlich werden sie für ihn immer dort, wo sie sich in Widersprüche verstricken. Unter anderem, wenn von der „Transparenz“, die sie für sich in Anspruch nahmen, im Verlauf der fünfundfünfzig Tage währenden Entführung zwischen dem 16. März 1978 und dem 9. Mai desselben Jahres, an welchem der Leichnam des Politikers in einem Renault 4 gefunden wurde, immer weniger übrigblieb. Wohl spekuliert Sciascia darüber, dass es Unstimmigkeiten innerhalb des Kommandos gegeben haben könnte; er ist der Ansicht, dass einige der Entführer sich Moro gegenüber menschlicher, „humaner“, verhielten als andere, offenbar bereit waren, ihrem Opfer halbwegs Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, während der harte Flügel längst ein Todesurteil gefällt haben mag, lange vor der Entführung womöglich. Dass er, Sciascia, nichts, aber auch rein gar nichts mit den Entführern teilt oder gemeinhabe, auch wenn sie sich links und volksnah geben mochten, verdeutlicht der Autor immer wieder; ja, er verachtet die Terroristen geradezu, das ist spürbar und an einer Stelle im Buch wird er auch mehr als deutlich, geradezu drastisch.
Doch die eigentliche Auseinandersetzung dieses Texts findet in der engeren politischen Diskussion statt. Sciascia stellt sich – und damit dem Leser – die Frage, weshalb die DC derart hart blieb. Nie wird er in dieser Frage explizit, nie formuliert er eine wirkliche Verschwörungserzählung – dass hier bspw. eine Entführung vielleicht ganz recht kam, um ein von Moro geschmiedetes Regierungsbündnis der Konservativen mit der Kommunistischen Partei zu verhindern – doch immer wieder spielt der Text genau darauf unterschwellig an. Immer wieder wird das unchristliche Verhalten der rechtskonservativen Politiker der DC angeprangert, die, ähnlich der CDU in Deutschland, das „Christliche“ schon im Namen trägt, und die irgendwann die Chuzpe hatten, öffentlich zu behaupten, aus den Briefen spräche nicht der „echte“ Aldo Moro, sondern ein verängstigter, durch die Geiselhaft gebrochener Mensch (ohne je zu erklären, weshalb der eine und der andere, sei es auch so, wie sie behaupteten, nicht ein und derselbe Mensch sein könne).
Sciascia nutzt für seine Anklage gegen die Politiker geschickter Weise die der Öffentlichkeit zugänglichen Briefe Moros, bleibt damit also immer im Bereich der Evidenz, des Nachprüfbaren, und enthält sich wilder Spekulationen, die als unseriös betrachtet und abgetan werden könnten. Aus den Briefen geht an einigen Stellen die Annahme Moros hervor, dass er ganz bewusst in die Position gedrängt worden war, die er zum Zeitpunkt seiner Entführung in der Partei eingenommen und die er nicht gewollt hatte (vielmehr hatte er sich bereits aus der aktiven Politik zurückgezogen), und dass dieses Drängen – spezifischer wird er nicht – möglicherweise damit zu tun gehabt haben könnte, dass es ein sehr exponierter und auch umstrittener Posten gewesen sei. Zumindest deutet er somit selbst an, dass die Verantwortlichen, darunter sogar persönliche Freunde, ihn in eine Situation gedrängt hätten, die eine unmittelbare Gefahr mit sich gebracht habe. Sciascia muss nicht raunen, das Raunen geht bereits aus Moros eigenen Äußerungen hervor.
Sciascia unterzieht die Briefe also genauester Lektüre, er interpretiert einzelne Sätze, manchmal spekuliert er über den Gebrauch bestimmter Wörter und Ausdrücke, bzw. darüber, weshalb Moro von einem Brief zum anderen gewisse Ausdrücke verändert oder ersetzt oder aber insistierend wiederholt, manchmal auch in Zusammenhänge setzt, die zunächst und scheinbar keinen Sinn ergeben. Er setzt einzelne Briefe, manchmal einzelne Begriffe in Bezug zu früheren Äußerungen Moros ebenso, wie er sie in Bezug auf die früheren Briefe setzt. Er betrachtet – und dies ist eine der kompliziertesten Passagen dieses Textes und zugleich eine der interessantesten und aufschlussreichsten, gleich zu Beginn – die „Affäre Aldo Moro“ als ein bereits geschriebenes Buch, eine bereits verfasste Geschichte, die er wiedergibt, deren Text sich allerdings – hier beruft sich Sciascia auf Borges, der anhand des DON QUICHOTTE darüber räsoniert, wie ein Text nie mehr derselbe sein kann, wenn er entfremdet wurde, dadurch, dass ein anderer exakt dieselben Worte und dieselbe Syntax verwendet und als eigene, also andere ausgegeben hat – längst selbst geschrieben habe, lange bevor er, Leonardo Sciascia, ihn niederschreiben konnte. Durch diese Brechung lernen die Leser*innen dieses Buchs sehr viel über Literatur, ihr Entstehen und, mehr noch, ihr Wirken. Denn es ist die Fiktion (deshalb auch der Untertitel „Ein Roman“), die insofern über die Wahrheit oder das, was sich „Wirklichkeit“ nennt, triumphiert, weil in der fiktionalen Möglichkeit das Wahre sich ungebrochen zum Ausdruck bringen lässt. War es nicht Norman Mailer, der, obwohl nominell ein Journalist, einst meinte, keine Reportage, kein Artikel, kein Sachbuch könne so genau Auskunft über die Wirklichkeit geben, wie dies ein Roman vermöchte?
DIE AFFÄRE ALDO MORO war ein ungeheuer wirkmächtiges Buch. Sciascia trat eine Lawine los, die ähnliche Verschwörungserzählungen nach sich zog, wie es die diversen Lesarten, die Rezeption der wahrscheinlichen Selbsttötungen in Stammheim in der Bundesrepublik taten. Wie diese halten sich auch in Italien die Narrative, es habe eine geheime Absprache zwischen den Terroristen, der Politik, möglicherweise der Mafia und vielleicht sogar eingeweihten Rechtsterroristen gegeben. Im Gegensatz zur Bundesrepublik und ihrem eher bürokratischen Umgang mit Verbrechen und Bedrohung, gab es in Italien allerdings tatsächlich Verschwörungen und somit begründete Annahme, es auch hier mit einer solchen zu tun zu haben: Sei es die berühmte P2-Loge (Propaganda Due), eine abtrünnige Freimaurerloge, die sich völlig von der Mutterorganisation entkoppelt hatte und in allerlei verbrecherische, aber auch politische Machenschaften verwickelt war; sei es die Aufdeckung der Gladio-Organisation, eine Stay-Behind-Einheit, gegründet von italienischen und amerikanischen Geheimdiensten nach dem 2. Weltkrieg und später der NATO unterstellt, die in Italien, wo erstmals die Existenz einer solchen Organisation bekannt wurde, wahrscheinlich auch in Terroraktionen verwickelt gewesen ist; sei es ein Anschlag wie jener auf den Bahnhof in Bologna im August 1980, bei dem 85 Menschen zu Tode kamen und welcher sowohl links- wie auch rechtsterroristischen Vereinigungen angekreidet wurde, hinter dem tatsächlich aber rechtsgerichtete Kreise steckten, Mitglieder des Geheimdienstes und tatsächlich auch Mitglieder der oben erwähnten P2-Loge. Letzteres Attentat erinnerte an die sogenannte „Strategie der Spannung“, welche rechtsgerichtete Terroristen zu Beginn der 1970er Jahre anwandten, um Attentate immer wieder linken Kreisen in die Schuhe zu schieben, um somit Staat und Gesellschaft unter Spannung zu setzen und auch zu halten.
Sciascia und sein Roman stechen dennoch aus herkömmlicher Verschwörungsliteratur heraus, weil der Autor so viel tiefer in die Materie eindringt und sie vor allem unter gänzlich anderen Gesichtspunkten untersucht, so dass seine Analyse bestechend ist, schmerzhaft bestechend. Und erschütternd. Es ist ein historisch und literarisch auf unterschiedlichen Ebenen relevanter Text. Für späte Leser heutiger Tage ist dabei u.a. ein kleines Detail interessant, welches zunächst kaum zum eigentlichen Thema zu gehören scheint und doch mehr ist als eine Fußnote. Sciascia beruft sich schon früh im Buch auf Pier Paolo Pasolini, der mit Aldo Moro vergleichsweise milde ins Gericht gegangen war. Pasolini war zum Zeitpunkt der Entführung des Politikers bereits seit drei Jahren tot, ermordet wahrscheinlich von einem seiner jugendlichen Freier, womöglich aber auch von einem gedungenen Mörder im Auftrag höherer Kreise, denen er, zunehmend verzweifelt und auch verbittert ob der italienischen Wirklichkeit, in seinen „Freibeuterschriften“ und den „Lutherbriefen“, die in verschiedenen liberalen wie linken Zeitungen und Magazinen erschienen, ihr Verhalten spiegelte und vorwarf. Moro war ihm dabei einer der weniger schlimmen konservativen Politiker. Für Sciascia ist Pasolini ein wesentlicher Referenzpunkt, einer, der ihm „brüderlich und doch fern“ ist. Für heutige Leser ist vor allem interessant, welch eine intellektuelle Autorität Pasolini im Italien der 70er Jahre darstellte, weit über seinen Tod hinaus. Es ist aber auch und vor allem interessant, welche Rolle Intellektuelle generell in der politischen – der tagesaktuellen wie der ideologischen – Auseinandersetzung spielten in jenem „roten Jahrzehnt“. Übrigens nicht nur in Italien.
Und doch wirkt dieser Text zunächst wie das Relikt aus einer lang vergangenen Zeit. Gelegentlich kehren Ängste, wie sie DIE AFFÄRE MORO evoziert und belegt, auch heute noch zurück – Ängste vor Terror, vor Zersetzung des Staates und der Gesellschaft. Doch längst ist das Narrativ verkehrt, ist es gleichsam nach außen getragen worden. Heute kommt die Bedrohung angeblich aus dem Islam, nicht von innen. Der Linksterrorismus ist lange passé, der Rechtsterrorismus allerdings nicht. Er zieht sich seit nunmehr nahezu zwanzig Jahren durch die Wirklichkeit westlicher Staaten und wird immer virulenter, scheint es. Wird aber dennoch immer gern geleugnet, auch von staatlicher Seite. Vielleicht wird es eines Tages wieder ein Buch wie dieses brauchen, das sich dann aber an ein anderes Publikum wenden wird. Ein ähnlich aufnahmebereites wie jenes, das 1978 diesen Text las? Wahrscheinlich mit Erschrecken las? Wohl kaum. Dieser Text ist nämlich auch – und damit schließt sich der Kreis zu Pasolini – ein Beweis für sie Skrupel, die Selbstvorwürfe, die Selbstbefragung, derer sich Linke immer wieder ausgesetzt und unterzogen haben. Wahrscheinlich ist nicht zuletzt dies einer der Gründe für das häufige Scheitern linker Projekte.
Leonardo Sciascia als Linken zu bezeichnen, ist wahrscheinlich ein Fehler. Doch war er zeitlebens ein Liberaler, der mit der italienischen Wirklichkeit gerungen hat und der darunter litt, dass der Diskurs nicht zuletzt durch die Aktionen der Brigate Rosse und ähnlicher Gruppierungen zunehmend erschwert wurde – und zugleich das Geschäft derer, die sich den Staat zu eigen machen wollten, Männern wie Giulio Andreotti, erleichtert wurde. Bis schließlich Typen wie Silvio Berlusconi übernehmen konnten. Eine Folgerichtigkeit, nachdem die Democrazia Cristiana sich in Folge etlicher Korruptionsskandale Mitte der 90er Jahre aufgelöst hatte und im Orkus der Geschichte verschwunden war. Es führt ein direkter Weg von den Ereignissen der 70er Jahre in das gegenwärtige Italien unter der Post- (oder Neo-) Faschistin Giorgia Meloni. DIE AFFÄRE MORO ist einer der Texte, die ein Schlaglicht auf diesen Weg, diese Entwicklung werfen. In Echtzeit und deshalb ebenso brisant wie aktuell. Oft sind Relikte aus fernen Zeiten uns ja näher und vermögen uns mehr über uns selbst zu erzählen, als den meisten von uns lieb ist. So verhält es sich mit diesem hier.