GANZ NORMALE ORGANISATIONEN

Ein soziologischer Blick auf die Verbrechen des NS-Regimes

Der Bielefelder Soziologe Stefan Kühl bietet in seinem Band GANZ NORMALE ORGANISATIONEN. ZUR SOZIOLOGIE DES HOLOCAUST anhand der Fragen nach der Beschaffenheit, der Form ihrer inneren Struktur und der Motivlage, nach der die Mitglieder einzelner NS-Organisationen handelten, eine Möglichkeit des systemtheoretischen Zugriffs auf die Geschichte des Holocaust. Spezifisch entwickelt er hier in Anlehnung an Niklas Luhmann und dessen Thesen und methodische Überlegungen eine Fragestellung und Methodik, die es uns möglich macht, neue, erweiternde und ergänzende Perspektiven auf das Geschehen unter der NS-Diktatur zu werfen. Und er liefert uns eine Möglichkeit, uns einmal mehr jener Frage anzunähern, die 70 Jahre nach Kriegsende weniger beantwortbar scheint, als je zuvor und die jede Generation von Historikern, Politologen, Psychologen oder eben Soziologen, die sich mit diesem Komplex deutscher (und europäischer) Geschichte befassen, neu umtreibt: Wie konnte das geschehen, wie konnten „ganz normale Deutsche“ sich zu den Gräueltaten hinreißen lassen, die sie sowohl in den Vernichtungslagern wie Treblinka, Sobibor und Chelmo, in Auschwitz-Birkenau und den andern  „Fabriken des Todes“ verrichtet haben, als auch hinter der Front im Sicherheitsdienst (SD), in den Polizeibataillonen, die die „Säuberungen“ und Sonderaktionen, die Massenerschießungen, die Ghettoräumungen und „Judenjagden“ durchführten?

Eine Frage, deren Antwort sich lediglich einkreisen läßt, die jedoch nie wirklich abschließend wird beantwortet werden können, wie zu befürchten steht. Die aber – vor allem, nachdem Historiker wie Hans Mommsen oder Martin Broszat in den 70er und 80er Jahren den Blick auf die strukturale und funktionale Analyse der NS-Herrschaft gerichtet hatten, weg von den Einzeltätern, weg von der Idee, die Deutschen seien „Hitlers erste Opfer“ gewesen, Gefangene einer Camarilla, die sich des Staates bemächtigt habe – immer wieder schmerzhaft in den Vordergrund drängt. Gerade in den 1990er Jahren wurde sie mit Wucht neu gestellt, nachdem Christopher Browning dazu 1992/93 eine bahnbrechende Studie vorgelegt hatte[1], die sich auf das Hamburger Polizeibataillon 101 bezog, welches in Akten und Unterlagen relativ gut dokumentiert ist. Auf diese Studie reagierte neben anderen der amerikanische Soziologe Daniel Jonah Goldhagen mit seinem höchst umstrittenen Werk über „Hitlers willige Vollstrecker“ – die Deutschen – und deren spezifisch eliminatorischen Antisemitismus[2]. Der damals entbrannte Streit zwischen den unterschiedlichsten Historikern, Soziologen und Politikwissenschaftlern unterschiedlichster Coleur und ideologischer Ausrichtung, hat erstaunlich wenig Spuren in den Fachbereichen hinterlassen. Allgemein einigte man sich – vor allem in Deutschland – relativ schnell darauf, daß die Thesen des (damals) jungen Mannes – Goldhagen – ein wenig steil geraten seien und selbst jene, die ihm zunächst durchaus wohlwollend begegneten, nahmen schnell wieder Abstand. So hinterließ diese Debatte weitaus weniger Nachhall und Spuren als zum Beispiel die fast zehn Jahre ältere um die Frage nach der Singularität von Auschwitz, die sich dann zum ‚Historikerstreit‘ ausweitete, dessen Antagonisten sich noch heute, fast 30 Jahre danach, nahezu feindlich gegenüberstehen.

Dennoch findet die ‚Goldhagen-Debatte‘ heute Resonanz. Kühl stützt sich explizit auf die Vorarbeit Brownings und letztlich auch Goldhagens, wenn er einleitend die Frage nach der Differenzierung zwischen „ganz normalen Deutschen“ oder „ganz normalen Männern“ herausarbeitet und von dort aus eine klar soziologische Methodik darlegt, um sich an eine Erklärung des Holocaust zu wagen. Wie oben bereits erwähnt, betrachtet er dabei einen, allerdings wesentlichen, Teilaspekt, nämlich den der Organisationen: Wie waren Organisationen aufgebaut und wie funktionierten sie, um ihre Mitglieder in Tätigkeiten einzubinden, die sich deren Erwartungshorizont deutlich entzogen und sogar ihrem moralischen Empfinden  entgegengestanden haben mögen. Ja, wie Browning so schockierend herausgearbeitet hat, war es den Männern auch des Polizeibataillons 101 sogar lange freigestellt, sich an den Massenerschießungen und anderen Gräueltaten, bei denen oft Kinder, Frauen und Alte die Opfer waren, nicht zu beteiligen. Umso erschreckender, daß keines der Mitglieder DIESER Organisation davon Gebrauch machte[3]. Allerdings arbeitet Kühl im Folgenden heraus, wie Einzelne in die Strukturen von Organisationen eingebunden wurde, ohne dabei davon auszugehen, daß jeder, der bereit war, sich so zu verhalten auch ein überzeugter Antisemit gewesen sei. Und damit kommt er der grausigen Wahrheit wahrscheinlich doch näher, als Goldhagens Singularitätsthesen hinsichtlich des spezifischen, eliminatorischen deutschen Antisemitismus es je waren. Es wäre fast einfacher, man könnte es mit Goldhagen erklären, als die beunruhigende Tatsache zu gegenwärtigen, daß es wahrscheinlich nicht einmal besondere ideologische Verblendung braucht, um zu tun, was die Polizeibataillone oder der SD zu tun bereit waren.

Es sind genau dies die Gründe, die eine Untersuchung wie diese so bitter nötig machen. Der soziologische, spezieller noch der systemtheoretische Blick auf das Wesen der Organisation, darauf, wie sie funktioniert, was ihre äußeren und inneren Motoren und was die Motive ihrer Angehörigen sind und vor allem, wie sie ihre Mitglieder einbinden und agieren lassen, eröffnet dem Leser gute Perspektiven auf einen zentralen Bereich dessen, was die NS-Herrschaft an die Macht zu bringen, diese Macht zu konsolidieren und schließlich zu festigen half.

Daß das NS-Regime die Gesellschaft durch die schiere Masse an Organisationen eng an sich band, daß die Vereinnahmung bereits bestehender Organisationen durch jene des Parteiapparats und die Vereinnahmung des Einzelnen durch die Partei, bzw. ihr angegliederter Organisationen schon schnell nach der Machtübernahme 1933 geschah, haben u.a. Ian Kershaw in Bänden wie HITLERS MACHT[4] oder DER HITLER-MYTHOS[5] oder Götz Aly in seinem Band HITLERS VOLKSSTAAT[6] deutlich herausgearbeitet. Und genau diese Bände mit ihren jeweiligen Schwerpunkten sind es, zu denen der vorliegende eine sehr gute Ergänzung bietet. Denn anders als Kershaws Erklärungsansatz, DASS Organisationen diesen Bindeeffekt gehabt haben – bei dem er auch durchaus erklärt, wie durch Graubereiche und, wie Kühl sie nennt, „Indifferenzzonen“, teils mehrfache Kompetenzzuschreibungen und ständige Machtvakua, das Kompetenzgerangel permanent gefördert und letztlich nahezu jede Entscheidung führerbezogen und -abhängig wurden –  erklärt Kühl, WIE diese Organisationen funktionierten und WIE sie ihre Mitglieder einbanden und auch gefügig machten.

In einem langen und ausgesprochen ausführlichen Einleitungskapitel werden die soziologischen Begrifflichkeiten geklärt, wobei gerade solche Termini wie „Indifferenzzone“ besondere Beachtung finden, da Kühl sie häufig in Abgrenzung zu solchen aus anderen Fachbereichen – der Historiker v.a., aber auch der Politologen u.a. – , aber auch gegenüber anderen soziologischen Zugriffen und Theorien nutzt. Luhmanns Systemtheorie dient hier deutlich als Orientierungshilfe und Vorbild. Hier, im Einführungskapitel, werden dem Leser auch mehrfach die spezifischen Perspektiven des Soziologen in Abgrenzung zu anderen sich mit historischen Entwicklungen beschäftigenden Fachbereichen herausgearbeitet. Dazu sei allerdings auch angemerkt, daß Kühl, der einen enormen Apparat zur Verfügung stellt – die Fußnoten sind erschöpfend und stören in ihrem Erläuterungseifer manches Mal durchaus den Lesefluß, was bei einem rein wissenschaftlichen Werk natürlich nicht überraschen sollte – , einen Teil des Appendix vielleicht besser ebenfalls dem Text vorangestellt hätte. Seine Erläuterungen zur Quellenlage und der Art der Nutzung/der Methodik stellen noch durchaus Basiswissen zur soziologischen Herangehensweise dar.

In fünf längeren Kapiteln werden dem Leser die Anreize und Motivationen erläutert, die den Einzelnen an eine Organisation binden, wobei spätestens ab hier zu bedenken gilt, daß wir es nicht mit irgendwelchen Organisationen zu tun haben, also nicht mit dem NS-Lehrerbund o.ä., sondern mit militärischen, bzw. polizeilichen Organisationen, auf jeden Fall mit solchen, die Gewalt ausüben sollten und mussten. ‚Zweckidentifikation‘, ‚Zwang‘, ‚Kameradschaft‘, ‚Geld‘, die ‚Handlungsattraktivität‘ – dies sind jene Motivationsansätze, die einzeln, gebündelt oder sich gegenseitig bedingend das Individuum an Organisationen wie die Wehrmacht oder aber, wie im vorliegenden Fall, ein Polizeibataillon binden und auch dafür sorgen, daß selbst dann, wenn der Erfahrungshorizont – den z.B. jemand, der der Polizei beitritt, erwartet – deutlich bis unverhältnismäßig ausgeweitet wird, der Organisation die Treue halten. Dabei gibt es durchaus bekanntere Motivlagen, gerade was Vergütung, also Geld und was die Frage des Zwangs angeht, anderes, wie die Frage nach der Identifikation mit den ideologischen Zielen einer Organisation, werfen zumindest neue Schlaglichter auf die behandelten Fragenkomplexe. Wobei gerade in diesen Themenfeldern die soziologische Sichtweise einerseits neue Blickwinkel eröffnet und somit auch durchaus zu neuen Ergebnissen in der Forschung gelangt, andererseits aber auch eine ausgesprochene Nähe zu psychologischen Abhandlungen einnimmt. Gerade was Fragen nach Selbstwahrnehmung oder Kameradschaft und Kameradschaftsgeist betrifft.

Zwei weitere erläuternde Kapitel verdichten noch einmal die Möglichkeiten, die das Individuum hat(te), um sich vor sich selbst für Aufgaben zu verantworten, die – wie das Töten Unschuldiger – keineswegs in das „eigentliche“ Anforderungsprofil gerade eines Polizisten fielen. Dabei wird im 7. Kapitel – ‚Generalisierung von Motiven‘ – auf den ganz wesentlichen Aspekt der Selbstdarstellung VOR, WÄHREND und NACH den Taten und dem Kontext (z.B. dem legalistischen) eingegangen. Ebenso wichtig erscheinen die Untersuchungen dazu, wie die Rollen, die zu spielen eine Organisation vorgibt, den Einzelnen schon im Moment der Tat entlasten, wie die Distanz, die die Rolle, die das Individuum einzunehmen hat, im Kontext dessen, was geschieht, hilft, Distanz zu sich und den eigenen Taten herzustellen.

Schließlich wendet sich Kühl der Frage danach zu, wie aus „Tötern“ Täter werden, wo also der Übergang stattfindet, daß der Einzelne sich nicht mehr hinter Befehlsnotstand und ähnlichen Rechtskonstrukten verstecken kann, um sich der eigenen Verantwortlichkeit nicht stellen zu müssen. Gerade hier werden auch noch einmal jene Fragen angeschnitten, die auch Kershaw und Aly, aber auch andere Soziologen wie Harald Welzer[7] umtrieben: Wie wird die Gesellschaft in ihrem Legalitätsprinzip schlicht an die „neuen Werte“ angepasst? Wie werden diese „neuen Werte“ in Gesetze gegossen, oder aber, was in Bezug auf die Polizei (generell) unter dem Hakenkreuz wesentlich ist, in Relationen gesetzt, die es den Mitgliedern dieser Organisationen erlauben, sich geschmeidig den neuen Anforderungen anzupassen. Gerade die Polizei wurde des Legalitätsprinzips enthoben und angehalten, im „Interesse des deutschen Volks“, also in rein völkischem Sinne zu handeln, wobei sich das Völkische durchaus schon in einem „deutschen Gefühl“ ausdrücken konnte, welches dann durchaus reichte, um gegen Juden, Sozialisten, Homosexuelle oder andere „Volksschädlinge“ vorzugehen. Es reichte gar so sehr, daß es einem Beamten eher Probleme bereiten konnte, in entsprechenden Situationen NICHT diesem Gefühl folgend zu handeln, sondern sich auf Legalitäts-, also rechtsstaatliche Prinzipien zu berufen.

Mit dem letzten Kapitel – ‚Normalität und Anormalität von Organisationen‘ – kehrt Kühl schließlich ganz auf soziologischen Grund zurück und erläutert dem Leser noch einmal im Überblick seine Überlegungen. Der Leser wiederum muß sich im Klaren darüber sein, es hier mit der gültigen Arbeit eines Wissenschaftlers zu tun zu haben. Es ist eine manchmal schwer erträgliche Sprache vor dem Hintergrund dessen, worum es geht. Man erinnert sich plötzlich auch deshalb noch einmal an die Goldhagen-Debatte Mitte der 90er Jahre und daran, wie diesem u.a. dadurch die Seriosität abgesprochen wurde, weil man seinen Stil, der durchaus auf Drastik in mancher Beschreibung der Gräuel in den Lagern setzte, als effektheischend beanstandete. Sicher, anders als in den USA, auch Großbritannien, sind es deutsche Universitäten und deren Personal nicht gewohnt, daß wissenschaftliche Werke durchaus stilistisch von der trockenen Wissenschaftssprache abweichen können und dürfen, derer sich gerade die sozialwissenschaftlichen Fächer und Fachbereiche befleißigen. Doch wäre es vielleicht durchaus einmal eine Diskussion wert, sich zu fragen, ob es nicht gerade bei diesem Thema angebracht wäre, von jener Sprache abzuweichen, die auch gern mal mit Begriffen wie „das Zivil“ arbeitet, wenn jene Opfer eines Bombardements gemeint sind, die eben nicht unter militärische Belange fallen. Kurzum: eine Sprache, die sich trotz aller wissenschaftlichen Ansprüche auf Genauigkeit, auf Ausgewogenheit und Neutralität bewußt zu sein scheint, daß es um ungeheuerliche Verbrechen geht. Es ist Kühl durchaus dafür zu danken, daß er seinen gesamten Text weitestgehend (soweit irgend möglich) frei hält von Fachsprache, wodurch er auch dem Laien verständlich und zugänglich bleibt, darüber hinaus aber auch dort deutlich Stellung z.B. wider Luhmann bezieht, wo der Doyen der Systemtheorie in fast apologetische Sprachbilder verfiel. Ohne die uralten Fässer erneut aufmachen zu wollen, ist schlicht nicht zu leugnen, daß der Systemtheoretiker des Öfteren Probleme mit der klaren Abgrenzung gegenüber der jüngeren deutschen Geschichte hatte.

Ohne Alleingültigkeitsansprüche zu stellen oder auch nur zu behaupten, das Thema letztgültig erschöpfend behandelt zu haben, bietet der vorliegende Band einen ebenso präzisen wie einleuchtenden Beitrag zur Erforschung des Holocaust, doch darüber hinaus ist dies vor allem ein hervorragender Ergänzungsband zu den oben genannten. Die Fragen  werden immer wieder gestellt werden: Wie konnte das geschehen? Wie konnten „ganz normale Deutsche“ – ganz „normale“ Männer – den größten ideologisierten, organisierten und industrialisierten Massenmord der Menschheitsgeschichte durchführen? Es werden immer nur Teilantworten sein, die uns eben auch immer nur zum Teil befriedigen werden. So wird es immer weiter Vertreter aller möglichen Geistes- und Sozialwissenschaften geben müssen, die die Bereitschaft aufbringen, diese Fragen neu zu formulieren und immer wieder neue Ansätze für Antworten zu erarbeiten, damit das Mosaik, dieses nie endende, jede Rahmung sprengende Mosaik, Stück für Stück zusammengesetzt werden kann. Stefan Kühls Beitrag ist allemal lesenswert und eröffnet dazu durchaus neue Perspektiven auf den Gegenstand.

 

[1]Browning, Christopher: GANZ NORMALE MÄNNER. DAS RESERVE-POLIZEIBATAILLON 101UND DIE „ENDLÖSUNG“ IN POLEN. Reinbek, 1993.

[2]Goldhagen, Daniel Jonah: HITLERS WILLIGE VOLLSTRECKER. GANZ GEWÖHNLICHE DEUTSCHE UND DER HOLOCAUST. München, 2000.

[3]Und als dann doch einzelne darum baten, freigestellt zu werden, waren die Begründungen in keinem Fall von moralischer Empörung getragen, vielmehr von Sorge um die Kleidung und Ermüdung der Schußhand/des Schußarms.

[4] Kershaw, Ian: HITLERS MACHT. DAS PROFIL DER NS-HERRSCHAFT. München, 1999.

[5]Kershaw, Ian: DER HITLER-MYTHOS. VOLKSMEINUNG UND PROPAGANDA IM DRITTEN REICH/FÜHRERKULT UND VOLKSMEINUNG. Stuttgart, 1980/1999.

[6]Aly, Götz: HITLERS VOLKSSTAAT. RAUB, RASSENKRIEG UND NATIONALER SOZIALISMUS. Frankfurt a.M., 2005.

[7]Welzer, Harald: TÄTER. WIE AUS GANZ NORMALEN MENSCHEN MASSENMÖRDER WERDEN. Frankfurt/M., 2005.

 

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