DIE EINKREISUNG/THE ALIENIST
Caleb Carr hat zu Beginn der 90er Jahre diesen heutzutage etwas zäh und zu lang wirkenden Klassiker des Serienkiller-Romans geschrieben
Der deutsche Titel DIE EINKREISUNG des amerikanischen Romans THE ALIENIST (Original erschienen 1994; Dt. hier 2018), ist natürlich keine Übersetzung des Originaltitels ins Deutsche, vielmehr ist es eine programmatische Beschreibung dessen, was Caleb Carr in seinem mittlerweile zum Klassiker avancierter Serienmörder-Roman erzählt. Der deutsche Titel setzt damit aber auch einen anderen Schwerpunkt, stellt der Originaltitel doch vor allem eine der Hauptpersonen – den fiktiven Psychiater Dr. Laszlo Kreisler – besonders heraus, was sicherlich nicht ganz falsch ist, jedoch gewisse andere, wesentliche, Aspekte des Romans eher vernachlässigt.
Erzählt wird die Geschichte von dem Journalisten John Moore, der mit Dr. Kreisler seit langem bekannt ist. Moore arbeitet für die New York Times, in deren Redaktion er allerdings nicht gut gelitten ist, da er immer wieder mit Arbeiten aufkreuzt, die dem angesehenen Blatt zu boulevardesk erscheinen. Moores alter Freund Theodore Roosevelt – der spätere Präsident der Vereinigten Staaten und zum Zeitpunkt der Geschehnisse Ende des 19. Jahrhunderts Polizei-Commissioner von New York City – muss eine fürchterliche Serie von Morden an sogenannten „Lustknaben“ aufklären. Allerdings ist sein eigentliches Ziel – und der Grund, dass er überhaupt auf den Posten berufen wurde – die Korruption in der New Yorker Polizei zu bekämpfen. Deshalb bittet er Moore und Kreisler, den er ebenfalls schon lange kennt, ein kleines aber feines Team zusammenzustellen und die Morde zu untersuchen. Dabei soll das Team allerdings vollkommen unabhängig arbeiten, da Roosevelt ahnt, dass die Hintergründe der Mordserie nicht nur die Polizei betreffen, sondern bis in höchste Ämter und Kreise der Stadt reichen könnten…
Liest man den, Mitte der 90er Jahre erschienenen Roman heutzutage mit den Kenntnissen Hunderter, wenn nicht Tausender vergleichbarer Geschichten und Erzählungen in Literatur und Film, kann er – leider muss man es so direkt und hart sagen – kaum mehr überzeugen. Was hier beschrieben wird, ist nicht wirklich spannend, die Figuren bleiben vergleichsweise oberflächlich, zumindest gibt Carr ihnen keine sonderliche Tiefe, eher verlässt der Autor sich auf auch in den frühen 90er Jahren schon gängige Klischees. So wirken sie oft wie reine Funktionsträger, exemplarisch entworfene Personen, die eine Rolle auszufüllen, darüber hinaus dem Leser jedoch wenig mitzuteilen haben. So ist der Ich-Erzähler Moore bspw. ein harter Trinker, der sich gern und viel in den Rotlichtbezirken der Stadt rumtreibt und sich in den Zusammenhängen der lokalen Unterwelt auskennt; Kreisler entspricht dem leicht verschrobenen Professor mit den bahnbrechenden aber in seinem Umfeld verkannten Ideen. Den beiden zur Seite steht Sara Howard, im Polizeipräsidium als Sekretärin angestellt. Sie soll den weiblichen Blick in die Ermittlung einbringen und möchte die erste weibliche Polizeibeamtin der Stadt, ja des ganzen Landes werden. Zudem sollen die Brüder Lucas und Marcus Isaacson Kreisler unterstützen. Die beiden sind Anhänger modernster Techniken – u.a. nutzen sie eine frühe Form der Fingerabdrucktechnik – der Kriminologie und bringen somit ebenfalls wissenschaftliche Aspekte in die Untersuchung ein. Aspekte, die durchaus „härter“ zu bewerten sind, als Kreislers oft noch in den Kinderschuhen steckende Psychologie. Dass sie jüdischer Abstammung sind, soll ihre Außenseiterrollen im Polizeiapparat unterstreichen, spielt im weiteren Verlauf des Romans jedoch keine Rolle.
Gemeinsam kreisen diese fünf Ermittler, dem deutschen Titel entsprechend, den Mörder nach und nach – und äußerst systematisch – ein, bis es ihnen schließlich gelingt, gegen politische und institutionelle Widerstände aller Art, den Täter zu identifizieren, in die Enge zu treiben und dingfest zu machen. Carr lässt vor allem Kreisler dabei geradezu exemplarisch die Pfade der Psychopathologie entlangwandern, dabei sämtliche Register heutzutage als Schulpsychologie (oder gar Küchentischpsychologie?) bezeichneter Ansichten, Thesen und Diagnostiken ziehen, und scheut sich nicht, einige der gängigsten Klischees zu bedienen, die das Genre des Serienmörders in petto hat. Da ist alles dabei vom traumatisierten Kind, welches zum erwachsenen und ausgewachsenen Sadisten mutiert; und selbstredend wünscht sich der Täter nichts sehnlicher, als endlich, endlich gefasst zu werden.
Gemessen am Umfang des Romans – Carr bietet satte 720 Seiten, bis der Täter gefasst, alle Fäden und Zusammenhänge geklärt sind – werden erstaunlich wenige falsche Fährten ausgelegt, doch ohne kommt der Autor natürlich nicht aus. So werden die Leser*innen lange im Vagen gehalten, ob es eine Verschwörung unter den oberen Zehntausend gibt, eine Schicht, bei welcher auch schon im ausgehenden 19. Jahrhundert die Grenze vom Honoratioren zum Gangster fließend gewesen zu sein scheint. Die (politischen) Widerstände gegen Roosevelts Vorgehen innerhalb des Polizeiapparats werden immer wieder thematisiert und beeinflussen zunächst auch die Ermittlungen. Die Obrigkeit der Stadt spielt keine unwesentliche Rolle im Hintergrund, denn wen interessieren schon Morde an männlichen Prostituierten, mögen sie auch noch so jung sein, wenn dabei möglicherweise die Vorlieben einiger vermeintlich wichtiger Herren publik werden, die es sich nicht leisten können, dass man sie mit den bekannteren und weniger bekannten Etablissements in den entsprechenden Vierteln der Stadt in Verbindung bringt.
Das ist im Ansatz durchaus spannend erzählt und war 1994, als der Roman erschien, sicherlich auch noch spannender, nicht zuletzt deshalb, weil die Verhältnisse im New York City des ausgehenden 19. Jahrhunderts offensichtlich herausragend recherchiert wurden. Doch mittlerweile sind auch die Nebenhandlungen und Hintergrundstorys, die Carr hier anbietet, zu Klischees geronnen und somit können sie kaum mehr fesseln. Und was den Fall selbst – also das Täterprofil und die Hintergründe des Mannes, der verantwortlich ist für all das Grauen, dessen Moore und seine Mitstreiter ansichtig werden und das der Autor gelegentlich eindringlich und auch recht explizit schildert – muss man konstatieren, dass es Thomas Harris mit seinen bis dato erschienenen Thrillern um den Serienmörder, Gentleman und Connaisseur Hannibal Lecter bereits gelungen war, einen weitaus interessanteren, weil ambivalenteren und hinter- sowie tiefgründigeren Charakter ins Sub-Genre einzuführen.
Was also macht DIE EINKREISUNG zu einem auch heute überhaupt noch interessant zu lesenden Beitrag? Neben der Tatsache, dass es mittlerweile eine in Deutschland auf Netflix versendete Serie zum Roman gegeben hat (über deren Qualität man streiten kann, die aber vor allem unter exakt denselben Problemen leidet, die auch der Roman nach all den Jahren aufweist), ist es vor allem die Recherchearbeit, die Carr in sein Werk gesteckt hat. Selten hat man – im eigentlichen Sinn – so exakt und detailliert kriminalistische Arbeit beschrieben bekommen. Und es gelingt Carr, vor dem Leser Wissenschaften – die Psychologie und die Kriminologie – in ihrer Frühzeit, gleichsam in ihren Kinderschuhen, auferstehen zu lassen und zu verdeutlichen, wie Forschende durch Trial and Error, durch Versuche und immer neues Abwägen Stück für Stück nicht nur etwas über das Objekt ihrer Begierde – den Menschen, bzw. einen Täter – lernen, sondern eben auch über ihr ureigenes Metier, in dem sie sich bewegen.
Carr hat den neueren Ausgaben seines Romans – vornehmlich nach Erscheinen der Serie – ein Nachwort hinzugefügt, in dem er sein Vorgehen noch einmal beschreibt. Er ist ehrlich genug zuzugeben, dass es ihm auch und vor allem um kommerziellen Erfolg zu tun war und er deshalb auf eine Art von Authentizität setzen wollte, die damals sicher noch etwas Spielerisches hatte, heute aber gut und gern als „Fake News“ eingeschätzt würde: So fügte er seinem Text u.a. ein Foto hinzu, auf dem der authentische Theodore Roosevelt an einem Gartentisch sitzend in Gesellschaft des fiktionalen Dr. Kreisler zu sehen ist. Carr erklärt, er habe den Wissenschaftler so authentisch wie möglich erscheinen lassen wollen und deshalb dieses Foto gefälscht, um seinem Text zumindest die Aura des Dokumentarischen angedeihen zu lassen.
Nun denn – das mag 1994 verfangen haben, in Zeiten des Found-Footage-Films und etlicher sogenannter Mockumentarys verfängt diese Methode natürlich nicht mehr. DIE EINKREISUNG ist und bleibt ein Klassiker des Sub-Genres, ein manchmal etwas langer und arg zäher weil von einigen Wiederholungen geplagter, dennoch allemal literarisch interessanter Klassiker, der es zumindest verdient hat, nicht in der Versenkung zu verschwinden.