DIE FRAU IN DER THEMSE/BY GASLIGHT

Steven Price ist ein echter Schinken gelungen, der jede Seite wert ist

Werke – ob „ernsthafte“ Literatur oder solche zur reinen Unterhaltung – die die 900-Seiten-Grenze überschreiten, müssen schon viel zu sagen haben. Die Erfahrung lehrt: Meist haben sie das nicht. Sicher, ein Thomas Mann, ein Uwe Johnson oder etliche Autoren des 19. Jahrhunderts, die sich darauf verlassen konnten, daß der Leser aus Lesen wirklich nicht allzu viel zu tun hatte in seinen freien Stunden, diese Autoren mögen einiges zu sagen gehabt haben. Heute kommen einem manche 600-Seiten-Werke eher wie Rechtfertigungen des Verlags dafür vor, höhere Preise verlangen zu dürfen.

Warum solch eine Vorrede? Weil Steven Price mit seinem Roman DIE FRAU IN DER THEMSE (BY GASLIGHT; erschienen 2016) die 900-Seiten-Grneze locker reißt und man dennoch, ausnahmsweise, behaupten darf: Die Länge passt, kein Wort zu viel, kein unnötiger Handlungsstrang, keine überflüssigen Figuren, keine abstrusen Nebengeschichten als Füllung etc. Was er hier bietet, ist organisch, fügt sich perfekt ineinander und braucht genau diese Epik, diese Breite und Tiefe, um überzeugen zu können.

Price erzählt aus einem, wie er im Nachwort selber klarstellt, äußerst fiktiven London des Jahres 1885 von der Suche zweier Männer nach einer Frau. Der Meister-Detektiv William Pinkerton will Charlotte Reckitt finden, um endlich das letzte Geheimnis seines verstorbenen Vaters, des Gründers der Detektei Pinkerton, das den Namen „Edward Shade“ trägt, zu lüften und inneren Frieden zu finden; der Meister-Dieb Adam Foole muß Charlotte Reckitt finden, weil sie seine große Liebe war und immer noch ist, auch wenn er sie nahezu zehn Jahre nicht gesehen hat. Und auch Foole sucht inneren Frieden. Doch Charlotte Reckitt ist tot. Vor den Augen Pinkertons sprang sie in die Themse und wurde später – zerstückelt – an mehreren Orten in London gefunden. Und so kreisen die beiden Männer umeinander, im Grunde aufeinander angewiesen, mal sich gegenseitig unterstützend, mal sich gegenseitig Steine in den Weg legend. Und nach und nach wird dem Leser – durch die Erinnerungen der beiden – das ganze Ausmaß der Verbindung, die sie zueinander haben, aufgeblättert, Das reicht weit in die Vergangenheit zurück, in den amerikanischen Bürgerkrieg und weit darüber hinaus.

So führt Price den Leser nicht nur in das neblige London von 1885, sondern auch an die Schauplätze des großen amerikanischen Schlachtens in den Jahren 1861 und 1862, nach Südafrika im Jahr 1875, greift auch einmal voraus auf das Jahr 1917 und malt ein – wie gesagt höchst fiktives – Bild des späten 19. Jahrhunderts, das von Gesellschaften im Umbruch erzählt, von der Industrialisierung, vom gnadenlosen Liberalismus, der es einer Stadt wie London, damalige „Hauptstadt der Welt“, erlaubte, die Armen direkt neben den Reichen zu platzieren, ohne daß es zu Aufständen, gar Revolutionen kam. Wie Norman Mailer einmal sagte, sei ihm die Fiktion oft lieber als ein Geschichtsbuch, da es ihr gelänge, die „Wahrheit“ weitaus akkurater einzufangen, als ein wohlgeordneter Sachtext. Dieser Maxime scheint auch Price zu folgen. Zwar vermischt er historisches Personal, Anleihen bei Autoren der Zeit – Dickens, Wilkie Collins und Edgar Allan Poe dürften für so manche stilistische Wendung und Figurenzeichnung, aber auch für die Atmosphäre des dichten Werks Pate gestanden haben – und literarische Figuren – unter anderem tritt ein Arzt auf, der für Scotland Yard arbeitet und dessen Lesart der Indizien eines Tatorts sehr an  Sherlock Holmes erinnert – so, daß ein dichtes Gewebe entsteht, doch fängt er sicherlich genug wirkliche, faktische Atmosphäre ein, um ein recht gutes Bild jener Tage einzufangen.

Price´ Figuren sind alles andere als leicht zu konsumierende Pappkameraden, die lediglich, wie man es leider häufig in historischen Romanen antrifft, Funktionsträger sind, sondern sie sind lebensecht gezeichnet. Pinkerton ist zum Zeitpunkt, an dem der Hauptteil der Handlung spielt, in seinen fortgeschrittenen 50ern und bringt ein gerüttelt´ Maß an Lebensweisheit und Verdruß mit, um in seiner Tragik zu überzeugen. Ein Mann voller Widersprüche, voller Geheimnisse, voller Abscheu einer Welt gegenüber, die enorm viel Elend produziert und doch keinen moralischen Fortschritt zu erlangen scheint. Er ist brutal, hitzig und doch innerlich verletzt. Ein Mann, der immer noch gegen den Schatten des übermächtigen Vaters ankämpft und hofft, mit der Lösung des Geheimnisses „Edward Shade“, welches nur Charlotte Reckitt aufdecken zu können scheint, endlich Frieden zu finden. Foole ist eine ebenso tragische Figur, durch seinen spezifischen Lebenslauf in der Welt herumgeschubst, schon als Kind über Kontinente verfrachtet und immer wieder Opfer der Machenschaften anderer, die ihn auszunutzen verstanden, aber auch fallen ließen, wenn er nicht mehr nützlich schien. So hat er sich zu einem Kriminellen entwickelt, der der Gesellschaft, deren Produkt er ist, nichts schuldet, sich niemandem verpflichtet fühlt, der seinerseits Gewalt verabscheut, aber durchaus bereit ist, sie anzuwenden, wenn es seinen Geschäften nutzt. In ihm brennt ein altes Verlangen, daß sich eben nicht nur auf die verlorene Frau bezieht, sondern auch nach Ruhe und Frieden sehnt.

Um dieses ungleiche Paar herum ordnet Price eine ganze Reihe zwar nicht so genau ausgearbeiteter Figuren an, die aber alle, dank seiner Beschreibungsgabe, ein eigenes Leben, eigenen Charakter besitzen und dadurch prall und lebensecht wirken. Manche werden uns nähergebracht, andere bewahren ihre Geheimnisse und bieten dem Leser nur durch gelegentliche Hinweise des Autors eine Fülle an Möglichkeiten, diese Geschichten weiter zu spinnen, sich auszumalen, wo sie herkommen, was ihnen geschehen ist und wie es mit ihnen weitergehen könnte, bzw. wie sie ihre Leben gefristet haben. Und es gelingt Price – darin sicher an Dickens geschult – ihnen genug humoristische Eigenschaften zukommen zu lassen, daß sein Werk nicht nur in Tragik und Drama versinkt. So sind die dauernden Frotzeleien zwischen Pinkerton, dem Inspector John Shore vom Yard und dessen Adlatus Blackwell allein schon die Lektüre wert. Price mag sein gesamtes Personal, selbst jene Figuren, die nur kurz und wie nebenbei auftauchen, wodurch sie alle liebevoll ausgestattet werden und selbst für kurz auftretende Protagonisten noch ein Nebensatz bleibt, der ihnen Respekt zollt, selbst wenn es sich um einen Mörder handelt. Die weniger sympathischen Figuren ihrerseits sind so ausgestaltet, daß man ihnen dennoch gern folgt und sich angemessen über ihre Winkelzüge aufregen kann.

Es gelingt Price also hervorragend, einen hintergründigen Roman zu schreiben, der atmosphärisch ausgesprochen gelungen ist, der seine Zeit niemals beschönigt, der die Hauptfiguren perfekt als Produkte genau dieser Jahre und Jahrzehnte ausstellt, die sie geprägt haben und zugleich ihre inneren Verwerfungen, ihre Deformationen und Abgründe nicht nur als Schwächen, sondern auch als Folgen des Lebens in harten Zeiten benennt. Nominell könnte man dies als einen Krimi bezeichnen, da sich alles um die Suche nach einer Verschwundenen, bzw. ihres Mörders dreht, doch wäre das eine Irreführung. Price malt ein Gesellschaftsportrait, er bietet Charakterstudien und genügend Anleihen der Literaturgeschichte und der damaligen Realität – natürlich schwingen im Hintergrund auch die Ripper-Morde mit, die 1888 London erschütterten – um den Leser die Zeit, ihre Auswüchse, ihre Härten und Brüche spüren zu lassen. Das weist weit über einen reinen Krimi hinaus. Natürlich ist die Wahl der Form aber selbst schon ein Verweis auf die damals beliebten Populär-Romane, oftmals der Krimi- und Schauerliteratur zuzurechnen. So lässt es sich Price auch nicht nehmen, durchaus schauerliche Momente voller dräuenden Unheils in seinen Text einzuflechten.

So entsteht ein Panorama, das packt, unterhält, zum Nachdenken anregt und zudem die seltene Eigenschaft besitzt, daß der Leser, je weniger noch zu lesenden Seiten bleiben, immer langsamer in der Lektüre wird, um das unweigerliche Ende, die Trennung von diesen Figuren, hinauszuzögern. Steven Price ist mit DIE FRAU IN DER THEMSE ein wahrlich großartiges Stück Literatur an der Schnittstelle von „großer Literatur“ und Unterhaltung gelungen. Chapeau!

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