DIE GESPENSTER VON DEMMIN

Verena Keßler erzählt von gegenwärtigem wie vergangenem Leid

Ende April, Anfang Mai 1945 kam es in der in Vorpommern gelegenen Hansestadt Demmin zu einem Massensuizid, als die Rote Armee näher rückte und die Bevölkerung, vornehmlich die Frauen, massive Gewalt gegen sich und ihre Kinder befürchteten. Eines der dunkelsten Kapitel der letzten Tage des 2. Weltkriegs.

Verena Kessler lässt in ihrem Debut-Roman DIE GESPENSTER VON DEMMIN (2020) eine ihrer Figuren, die alte Frau Dohlberg, sich wieder und wieder erinnern an jene Tage, die sie und ihre ältere Schwester Liese einst überlebten, während die Mutter und ihre jüngere Schwester Lotte für immer in der Peene verschwanden. Eindringlich und zugleich träumerisch, alp-träumerisch, wirken diese Erinnerungen. Und doch ist die nahezu Neunzigjährige, die ihr Geburtshaus verlassen soll, um in ein Altenheim zu ziehen, wie abgeschnitten von den mit den Erinnerungen einhergehenden Empfindungen. Kaum mehr ist sie sich sicher, ob das, was sie erinnert so auch der Realität entsprach. Umso tragischer, dass sie sich schließlich dem von ihr so nicht gewollten Umzug durch ihren Freitod entziehen und damit vielleicht ein Schicksal erfüllen wird, von dem sie annahm, dass es ihr so oder so zugedacht gewesen sei.

Gespiegelt wird die Melancholie und Traurigkeit dieses Lebens in dem gerade beginnenden Leben der fünfzehnjährigen Larissa Schramm, genannt „Larry“, die mit ihrer Mutter im Haus gegenüber jenem lebt, welches Frau Dohlberg zeitlebens bewohnte und nun verlassen soll. Larry will Kriegsreporterin werden und in der Annahme, dass ein solcher Beruf große Strapazen mit sich bringt, möglicherweise gar Schmerz durch Folter und Verletzungen, unterzieht sich das Mädchen einer Reihe von körperlichen Prüfungen. So hängt sie zu Beginn des Romans kopfüber an einem Baum und zählt die Minuten, die sie das aushält. Immerhin kommt sie bereits auf 37 davon. Am Ende des Romans, nach ca. 238 Seiten, auf denen wir vor allem Larrys Alltag gefolgt sind, wird sie erneut an dem Apfelbaum hängen, diesmal allerdings in Gesellschaft ihrer Freundin Sarina, die sie während der erzählten Dauer des Romans fast verloren hätte und doch wiederfand und die ihr in einem entscheidenden Moment ihrer Entwicklung sehr geholfen hat, weil sie Larry die Augen dafür öffnen konnte, nicht nur um sich und ihre Probleme zu kreisen. Es wird also eine Entwicklung gegeben haben und es wird innerhalb dieser Entwicklung eine Bewegung gegeben haben, die, vielleicht, aus der Einsamkeit weist.

Verena Kessler hat also vor allem einen Entwicklungsroman geschrieben, aber auch eine nahezu klassische Coming-of-Age-Geschichte. Wir folgen Larry durch ihren schulischen, familiären und privaten Alltag. Der ist geprägt von der Freundschaft zu Sarina; einer zart erwachenden Liebe zu dem zwei Jahre älteren Timo, der Larry rettet, als sie, um einem eingefrorenen Schwan zu helfen, im Eis des Sees einbricht; von der Auseinandersetzung mit ihrer Mutter, die ununterbrochen auf der Suche nach dem eigenen Glück ist und deshalb wenig Aufmerksamkeit für ihre Tochter hat; Gedanken an ihren Vater, der abgehauen ist und als LKW-Fahrer durch Deutschland und Teile Europas tourt. Ihn wird Larry später im Buch treffen und für einige Tage mit ihm auf Reisen gehen. Und durch ihn wird sie mit ihren ganz eigenen Gespenstern konfrontiert, denn es gab einen Bruder, der noch vor Larrys Geburt bei einem Unfall starb, für den die Mutter den Vater verantwortlich macht – zumindest glaubt er das.

Kessler gelingt es durchaus geschickt – auch und vor allem, weil sie Larry aus deren Sicht mit einem (ausnahmsweise gekonnt intonierten) jugendlichen Jargon sprechen lässt – subjektives Gefühl und objektive Wahrheit immer wieder aufeinander prallen zu lassen. Als sie mit dem Vater loszieht, nimmt sie an, dass die Mutter dies nicht einmal merkt – und kommt nicht auf die Idee, dass Vater und Mutter sich trotz aller gegenseitiger Vorwürfe durchaus abgesprochen haben könnten – mangelnde Kommunikation ist eines der wesentlichen Themen dieses Romans. Das gilt nicht nur für Larry, das gilt auch für das Leben der Frau Dohlberg in Bezug auf ihre Angehörigen – mit denen Larry wiederum ohne ihr Wissen mehr zu tun hat, als sie denkt. Es gilt aber auch für den jungen Timo, der sich mit Larry anfreundet – oder sie sich mit ihm? – und seinen Bezug zur Umwelt.

Larry begreift sich – stellvertretend für ihre Generation? Stellvertretend für einige in den neuen Bundesländern? – in vielerlei Hinsicht als ein Opfer: Opfer der Umstände, Opfer ihrer Eltern, Opfer der Geschichte insofern, als sie ihren Wohnort, Demmin, als äußerst trostlos und verkommen wahrnimmt:

Wenn ich die Sonne wäre, würde ich auch lieber woanders scheinen.“

Das ist einer der Schlüsselsätze dieses Romans. Und er drückt nicht nur ein gewisses Lebensgefühl in den weniger erfolgreichen Gegenden und Regionen der neuen Bundesländer aus, sondern auch Larrys grundsätzliches Lebensgefühl. Es gelingt Kessler geschickt, ihren Roman eben nicht wie einen Nachwende-Roman wirken zu lassen, in welchem auf die Spezifika der ehemaligen DDR verwiesen würde, sondern sehr genau das Lebensgefühl einer Pubertierenden einzufangen, die auch in Hamburg-Harburg oder Teilen des Ruhrgebiets aufwachsen könnte. Die Trostlosigkeit ihrer Umgebung spielt eine Rolle, keine Frage, doch ist diese Trostlosigkeit an vielen Orten in Deutschland zu finden. Das Lebensgefühl, das Larry den Leser*innen vermittelt, dürfte allerdings für nahezu alle Teenager in allen Regionen und wahrscheinlich auch allen Generationen der vergangenen fünfzig Jahre recht typisch gewesen sein: Teenager-Einsamkeit, Verlorenheit zwischen Kindheit und Erwachsenenalter und Entfremdung. So haben es die Leser*innen hier also im Kern mit der Éducation sentimentale einer noch sehr jungen Frau zu tun, die um die eigenen Bedürfnisse kreist und doch in der Lage ist, zu beobachten und wiederzugeben, was um sie herum geschieht – eine angehende Reporterin eben. Zugleich beginnt sie, die eigenen Gefühle differenzierter zu empfinden und damit auch etwas zu begreifen, das sich wie eine beginnende Liebe anfühlen könnte.

Dass Timo sich zum Ende des Romans als der Großneffe von Frau Dohlberg entpuppt und sich Vorwürfe macht, weil er – ähnlich wie sein Vater Steffan, der mit Depressionen kämpft – sich nicht angemessen um die alte Tante gekümmert habe, soll dann wohl eine Verbindung zwischen den beiden ansonsten recht willkürlich nebeneinander herlaufenden Handlungssträngen herstellen. Und so soll wohl der Éducation sentimentale eine historische Dimension hinzugefügt werden. Nicht umsonst heißt der Roman DIE GESPENSTER VON DEMMIN – was insinuiert, dass diese Geister, die die Stadt heimsuchen, die sie vielleicht nie verlassen, nie aus ihren Fängen gelassen haben, das Leben derer, die hier leben, nach wie vor beeinflussen. Aber ist das so? Kann das so sein?

Sicher, es gibt historische Orte, die so viel Grauen auf sich vereinen, dass man meint, dort etwas zu spüren, was das Leben vor Ort schwierig, manchmal unerträglich, gar unmöglich macht. Sicher, er gab Geschehnisse während des 2. Weltkriegs, die in ihrer Grausamkeit jeder menschlichen Zugewandtheit spotten. Aber es sind eine Menge solcher Orte. Würzburg, Dresden, Hamburg, Köln, Bocholt oder Jülich – alles Städte und Städtchen, die bspw. extrem unter dem Bombardement und dem Artilleriebeschuss der Alliierten zu leiden hatten, die also ebenfalls wissen, welches Grauen der Krieg mit sich bringen konnte. Aber es sind Orte, die ebenfalls nach wie vor bewohnt sind, Orte, die von Menschen zurückerobert wurden, denen neues Leben eingehaucht wurde. Was also will die vorliegende Erzählung mitteilen? Dass ein Ort wie Demmin auf alle Zeiten für das Leben verloren ist, weil diese Gespenster so furchtbar sind, dass sie generationenübergreifend für Angst, Schrecken, Pein und Not sorgen? Das kann man so sehen – allerdings wäre das eine doch sehr fatalistische Sicht der Dinge.

Mehr aber fiele bei solch einer Voraussetzung an diesem Text auf, dass die Probleme, von denen er auf mindestens Zweidritteln seiner Seiten berichtet, herkömmliche Probleme einer Heranwachsenden sind. Von denen berichtet Kessler ganz formidabel, sehr exakt in der Beobachtung, lakonisch und damit manchmal sogar komisch im Duktus, eben treffend im genutzten Jargon. Die Autorin hat ein sehr waches Bewusstsein der Probleme und Nöte Heranwachsender – und keineswegs nur für die eines Mädchens, bzw. einer jungen Frau, sondern durchaus auch für die eines männlichen Teenagers. Sie hat auch ein sehr klares Bewusstsein für die Trostlosigkeit eines Ortes wie dem beschriebenen Demmin – ganz unabhängig von dessen historischer Belastung. Und es gelingt ihr, eine Alltagsgeschichte so zu erzählen, dass das fesselnd und in manchen Momenten emotional derart packend ist, dass Leser*innen sich vielleicht dabei erwischen, dass es ihnen einen Kloß in den Hals treibt. Nur wäre es nicht notwendig gewesen, dies mit der Geschichte der alten Frau Dohlberg zu koppeln – denn deren Geschichte wäre eigentlich eine eigene Erzählung wert.

So bleibt der Eindruck, dass hier der eine Handlungsstrang und der andere Handlungsstrang sich jeweils nicht auf die eigenen Stärken verlassen wollen und deshalb etwas gewollt aufeinander bezogen werden müssen – was aber keineswegs nötig gewesen wäre. DIE GESPENSTER VON DEMMIN ist letztlich ein gelungener Roman, der leider zugleich offen ausstellt, was ihn noch besser, noch packender, noch kohärenter gemacht hätte. Es ist also auch eine vertane Chance.

 

Leave a Reply

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.