DIE JAKOBSBÜCHER/KSIĘGI JAKUBOWE

Olga Tokarczuks weitläufiges Epos über Jakob Frank, einen jüdischen Reformer des 18. Jahrhunderts

Man sollte sich nichts vormachen: Wenn man nicht speziell an osteuropäischer Literatur interessiert ist, wäre man wahrscheinlich ohne die Vergabe des Nobelpreises rückwirkend für das Jahr 2018 im Herbst 2019 an Olga Tokarczuk nicht auf diese aufregende Stimme aus Polen aufmerksam geworden. Nun ist sie da, ist im Bewußtsein und man wird wahrscheinlich einige Jahre brauchen, um das Oeuvre dieser Schriftstellerin aufzuarbeiten. Denn da gibt es wohl einiges zu entdecken.

DIE JAKOBSBÜCHER (KSIĘGI JAKUBOWE; Original erschienen 2014) gehört zu den jüngeren Werken der Autorin. Es ist ein weites Panorama, eine Art postmodernes Epos, das vom Leben des Jakob Frank berichtet. Frank war ein aschkenasischer Jude, geboren 1726 in Koroliwka, heute in der West-Ukraine gelegen, der im Laufe seines Lebens mehrfach zwischen den großen monotheistischen Religionen wechselte. Zunächst trat er zum Islam über, später kehrte er wieder zum Judentum zurück, betrachtete sich dort aber als der „dritte Messias“ und rekurrierte dabei vor allem auf Sabbatai Zvi, dessen Bewegung, den „Sabbatianismus“, er hin zum „Frankismus“ weiterentwickelte. Später veranlasste er seine Anhänger, zum Christentum zu konvertieren und ließ sich auch selbst taufen. Allerdings war dies für ihn ebenfalls nur ein Zwischenschritt zu einer universalistischen Religion, die die Unterschiede, Differenzen und Streitereien zwischen den abrahamitischen Religionen überwinden sollte. In der Geschichts- und Religionswissenschaft wird Frank als einer der bedeutendsten und einflußreichsten europäischen Juden betrachtet, der sich bemühte, die osteuropäischen Juden, sogenannte Schtetl-Juden, aus ihren damals immer noch mittelalterlichen Strukturen in die neuzeitliche Moderne zu führen.

Tokarczuk umkreist ihren Gegenstand – Jakob Frank, dessen Lehre und sein Leben – in einer weiten Bewegung, elliptisch, wählt auch bewußt einen Buchtitel, der nicht umsonst an die neutestamentarischen Evangelien erinnert, was natürlich auch ein Affront gegenüber dem Katholizismus ist. Sie lässt Begleiter, aber auch Beobachter erzählen, in Einschüben in Form von geheimen Aufzeichnungen, Tagebucheinträgen und Briefwechseln. Den Großteil ihrer Erzählung bestreitet sie allerdings auktorial, deskriptiv, ohne dabei allzu psychologisch vorzugehen. Das ist insofern interessant, als die Autorin selbst Psychologin ist. So erklärt sie ihren Protagonisten, der im Mittelpunkt des Werkes steht und doch seltsam distanziert bleibt, nie in seiner Motivation, in seinem inneren Movens, sondern beschreibt seinen Werdegang aus verschiedenen, ihm entäußerlichten Perspektiven. Dabei kommt sie ihm mal näher, mal entfernt sie sich von ihm – eben in elliptischer Form. Sie gibt uns Einblicke in seine Lehre, allerdings nur durch die Augen Dritter, sie lässt offen, ob die Visionen und spirituellen Erfahrungen, die Frank er- und durchlebt als solche ernst zu nehmen oder ob sie schlicht religiöse Verblendung sind. So changiert das Bild, das hier von der historischen Figur des Jakob Frank gezeichnet wird, zwischen jugendlich-übermütigem Rebell, der sich durchaus pubertär und trotzig benimmt, und einem Sektenführer, der durchaus machtbewußt ist und sich durch seine Stellung Vorteile zu verschaffen weiß – allen voran erotische Vorteile – bis hin zu einem zusehends verbitterten alten Mann, den langsam die Kräfte verlassen und der sein Lebenswerk schwinden sieht. Sympathisch ist dieser Jakob Frank nicht unbedingt. Er ist aufbrausend, er neigt gelegentlich zu Grausamkeiten gegenüber seinen engsten Getreuen, seinem Wesen nach scheint er eher ein Egomane zu sein. Tokarczuk lässt uns zwar seinen enormen religiösen – und damit gesellschaftlichen und letztlich auch politischen – Einfluß spüren, streut in ihre Beschreibungen aber genug Zweifel, um den Leser im Ungewissen zu lassen, ob es diesem Mann wirklich um religiöse Erneuerung, gar Erlösung, zu tun ist, oder ob hier eine Art Scharlatan seine Möglichkeiten begreift. Auch darin postmodern erzählt und die Autorin hier weitaus mehr über uns und unsere Zeit, sät generelle Zweifel an Religion und religiöser Verbrämung, als daß sie wirklich oder gar wahrhaftig die Geschichte spiegelt, trotz aller Akkuratesse, was die Details der Erzählung betrifft.

Es gelingen Tokarczuk wunderbar lebendige Beschreibungen des Lebens auf den Märkten und Bazaren des Nahen Ostens, in Smyrna oder Stanbul, ebenso jener in Podolien, sie  beschreibt die Weiher und Weiler, die Steppen der Bukowina, man folgt ihr gern durch die Berge der Karpaten, die Weiten des Balkans und der osteuropäischen Steppen. Tokarczuk folgt Frank, aber auch etlichen ihrer Protagonisten – allen voran Nachman, der einst Franks Vertrauter werden wird, und dem Abenteurer Moliwda, der sich Frank anschließt, der die Geschichte um das chassidische Judentum aus nächster Näher verfolgt und schließlich zum Verräter wird – auf ihren Reisen Richtung Bosporus, wie sie auch immer wieder nach Polen zurückkehrt und Frank und seinen Anhängern später nach Wien und schließlich nach Offenbach folgt. Sie macht die Mobilität erfahrbar, die auch damals schon herrschte, wenn auch unter gefährlichen und unwägbaren Voraussetzungen.

Die Kernhandlung des Romans setzt in den frühen 1750er Jahren ein und endet ca. 1798. Eine bewegte Zeit: Der siebenjährige Krieg, die amerikanische und die französische Revolution, um nur Eckdaten und -ereignisse zu nennen. Es ist die Hochzeit der Aufklärung, in Berlin findet auch das europäische Judentum mit Moses Mendelssohn einen Vertreter dieser neuen, so weltbewegenden Philosophie und Denkbewegung, die so tiefgreifende Umwälzungen für Europa und die europäischen Gesellschaften und Kulturen bringen sollte. Wenig ist davon in den Seiten des Buchs zu spüren. Wohl wird Mendelssohn einmal genannt, doch die Revolutionen, die politischen Umwälzungen? Ein-, zweimal findet der „Preußenkrieg“ Erwähnung, die französische Revolution dräut eher wie ein Ungeheuer an einem nicht mehr erfassbaren Horizont.

So entsteht das Bild eines fremden, abgelegenen, östlichen Europas, das gesellschaftlich noch dem späten Mittelalter verhaftet geblieben ist, dem die neue Zeit noch fern ist und wenn sie sich zeigt, ist sie eher ein fernes Grollen. Die katholische Kirche ist eine der wahrlich starken Mächte zwischen den Preußen im Westen und dem russischen Zarenreich im Osten. Und die Politik spielt in Tokarczuks Text allerdings oft eine wesentlichere Rolle als  die Religion. Denn Polen laviert, es muß sich zwischen starken Herrschern und militärisch weit überlegenen Kontrahenten behaupten, dabei innere Konflikte aushalten. Die um Frank sich scharenden Juden werden so zur Verhandlungsmasse in politischen Ränken, bei denen sich die einen konservativ ablehnend gegenüber deren Wunsch der Taufe zeigen, während andere, allen voran die Gräfin Kossakowski, sich gerade davon EInfluß und auch eine gewisse Modernität versprechen, die Juden im Schoße des Christentums aufzunehmen. Das führt zu teils schrecklichen Verwicklungen, wobei einerseits die sich Chassiden nennenden Anhänger Franks die „Talmud-Juden“, also sozusagen alle Juden, die sich ihnen nicht anschließen wollen, denunzieren und zu fürchterlichen Pogromen Anlaß geben, als sie christliche Vorurteile wie das unsägliche Gerücht, Juden tränken das Blut christlicher Kinder, bestätigen. Durch solche und ähnliche Winkelzüge werden die Chassiden selbst zu Opfern ihrer früheren Glaubensbrüder. Und spätestens als Frank 1760 im Kloster Jasna Góra in Tschenstochau seine durch die Inquisition verhängte Verbannung antritt, wird er vollends zum Politikum. Erst die russische Eroberung und Besatzung der Częstochowa beendet diese Zeit. 1773 darf Frank mit einigen engen Vertrauten und seiner Tochter gen Wien abreisen.

Es bleibt in der Waage, ob Franks Wirken eher ein ungewollt politisches oder ein wahrlich messianisches, religiöses, gewesen sein mag. Der Text scheut sich nicht, metaphysische und gelegentlich auch esoterische Gefilde zu streifen. In einer zweiten Ebene wird uns von der alten Jenta erzählt, die während einer Hochzeitsfeier zu sterben droht und nicht sterben darf, da dies Unglück auf die Eheleute werfe. So stattet der Rabbi Schor – auch er später in der Gefolgschaft Franks – sie mit einem Amulett aus, welches sie in einem Zwischenreich gefangen hält. Nicht tot und nicht mehr lebend, kann sie ihren Körper verlassen. Und sie sieht, so der Text, alles. Immer und zu allen Zeiten. Manchmal zu gleicher Zeit. So wird Jenta selbst zur auktorialen Instanz des Romans und erinnert in ihrer Funktion doch auch an Ahasver, den „ewigen Juden“ der europäischen Volkssagen, der Jesus verspottete und von diesem verflucht niemals sterben kann und damit verurteilt ist, durch alle Zeiten und Weltgegenden zu streunen. Eine doppelte Strategie der Autorin, ist die Zuschreibung doch eine christliche, in ihrem Urgrund durchaus auch von antisemitischen Zügen geprägte. Und so bliebt da auch immer eine selbst Jenat übergeordnete Stimme – die der Autorin, vielleicht. Vielleicht aber auch die des Weltgeists, der sich auch dieser so unwirtlichen und fernen Gegenden bemächtigt – im Zweifelsfall durch die Stimme einer polnischen Autorin zu Beginn des 21. Jahrhunderts.

Tokarczuk reichert ihren nahezu 1200 Seiten langen Text mit allerhand Abbildungen an, die teils den Text kommentieren, teils dem des Hebräischen unkundigen Leser aber auch verschlossen bleiben. Kabbalistische Rätsel, Kalender, Karten und gelegentliche Gemälde lockern so dieses manchmal doch weitschweifige, trotz eines gemächlichen Tempos und eines durchaus zugänglichen Fließtextes auch sperrige Buch ein wenig auf. Erschwert wird die Lektüre unter anderem durch die Fülle der Figuren und derer unterschiedliche Namen, bzw. die unterschiedliche Schreibweise selbiger in verschiedenen Zusammenhängen. Der Leser wird geradezu erschlagen von all den verschiedenen Personen, die wichtig für die Handlung sind, die manchmal enorme Bedeutung haben, dann über Hunderte von Seiten nur hier und da auftauchen oder von Dritten erwähnt werden, um dann plötzlich wieder in einer wesentlichen Rolle aufzutreten. Ein Personenregister hätte der Ausstattung des Buches in der Fassung des Kampa-Verlags nur allzu gutgetan.

Ist man nicht gerade ein versierter Kenner des osteuropäischen Judentums und seiner diversen Besonderheiten, muß man sich bei der Lektüre schlicht auf Tokarczuks Recherche verlassen. Man muß hoffen, daß diese genau war, daß sie die historisch verbürgten, aber auch die fiktionalen Figuren mit aller Genauigkeit behandelt hat, derer sie fähig war. Dafür bürgt eine den Text abschließende Bibliographie. Es wäre allerdings beschämend, wenn man einmal bei anderer Lektüre oder eigener Vertiefung des Themas feststellen müsste, daß sich hier Ungenauigkeiten eingeschlichen hätten. Denn natürlich ist das Thema auch heikel. In Polen wurde die Autorin gerade für diesen Text angegriffen, da er jene im Lande glorifizierte Zeit, in der das polnische Königreich zu seiner Entfaltung und Blüte kam, als eine darstellt, die ebenfalls prekär war, in der Intrige und Ränke, vor allem aber die Macht der katholischen Kirche den hier, im Text, seltsam abwesenden Staat bestimmten. Für einen deutschen Leser ist die Behandlung des Themas „Judentum“ und „jüdische Reformer“ – als welchen manche Jakob Frank in der historischen Rückschau betrachten – nicht ganz ohne Probleme zu erfassen. Es beschleicht einen doch hier und da ein gewisser Unmut, bedenkt man, wie hier eine – soweit die Kenntnis des Rezensenten – nicht-jüdische Autorin sich dieser Geschichte bemächtigt und dabei nicht immer ein freundliches Bild des Schtetl-Judentums zeichnet. Rückständig, konservativ und teils gehässig werden uns die Rabbiner und ihre Anhänger vorgeführt und die innerjüdischen Konflikte zeitigen manchmal fürchterliche Folgen. Dies allerdings ist eine sehr deutsche Anmerkung und sollte zur Bewertung des Romans nicht herangezogen werden. Ein rein subjektiver Eindruck eines in dieser Hinsicht vielleicht übervorsichtigen Lesers.

DIE JAKOBSBÜCHER öffnen den Blick in eine wahrlich fremde, räumlich wie zeitlich weit entfernte Welt. In diesem Blick auf eine Zeit, die uns im westlichen Europa fast nahe erscheint, wird uns ein osteuropäisches 18. Jahrhundert geboten, das lang, lang zurückliegend wirkt. So kann man Olga Tokarczuk nur dankbar sein, daß sie sich tief in diese Welt eingelesen, hinein recherchiert und eingefühlt und uns, den Lesern, dieses Konvolut eines Romans geschenkt hat. Man nehme sich die Zeit und tauche tief ein in diese Welt zwischen dem osmanischen Reich, Podolien, der Bukowina, Polen, Wien und schließlich Offenbach, wo Jakob Frank die letzten Jahre verlebte. Es lohnt sich allemal. Aber man nehme sich auch wirklich die Zeit dafür. Denn leicht ist das bei aller sprachlichen Zugänglichkeit – dank der Übersetzung von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein – nicht. Man braucht einen langen Atem, zweifellos.

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