DIE KINDER HÖREN PINK FLOYD
Alexander Gorkow entführt uns in die fernen, frühen 70er Jahre
Es ist schon der Einband, es ist der Titel, der Aufmerksamkeit erregt und einen 1969 Geborenen aufmerken lässt: DIE KINDER HÖREN PINK FLOYD (2021). Der Schriftzug in jenen Farben des Prismas, das einst das Cover von THE DARK SIDE OF THE MOON (erschienen 1973) zierte. Alexander Gorkow hat diesen Roman, wie er es nennt, verfasst. Eine Kindheitserinnerung an jene Jahre, als er in Büderich bei Düsseldorf aufwuchs.
Man kennt nun allerdings allerlei Werke, die Namen bekannter Bands im Titel führen, dann aber inhaltlich kaum auf diese eingehen. Das ist hier definitiv anders. Allerdings sollte man auch keine wirklich tiefgehende Beschäftigung mit der britischen Band aller Superlative erwarten, eher eine sehr subjektive, sehr persönliche Auseinandersetzung. Und die ist gelegentlich schwer nachvollziehbar. Denn der kleine Alexander driftet in seinen jungen Jahren, beeinflusst von der größeren Schwester und ihren Ansichten zu Musik, Politik und der „Systemfrage“, gelegentlich in Phantasie- und Traumwelten ab, die sich dem Leser nicht zwingend erschließen. Und doch spielen Pink Floyd im Kosmos des Erzählers und seiner Schwester, aber auch der restlichen Familie, die offensichtlich recht liberal geprägt ist, eine bedeutende Rolle.
Gorkow fängt mit trockenem Humor und allerlei hintersinnigen Beschreibungen die Atmosphäre jener Jahre ein. Vater sprüht das Pflanzengift unbekümmert auf die Rosen, der Dual-Plattenspieler kreist, einmal die Woche geht es in den Balkan-Grill, an der Hauptstraße gibt es den Bäcker und den Metzger und die Angestellten wissen, was man so einholt, da sind der Fahrradladen, das Büdchen (Kiosk, für die Nicht-Rheinländer) und das kleine Kino, in welchem Sonntagmorgens DIE NACHT DER REITENDEN LEICHEN (ein spanischer Horrorfilm aus dem Jahr 1971, in dem Ritter des Templerordens aus ihren Gräbern steigen und Jungfrauen schänden) gezeigt wird, da die Betreiber den nun einmal in einem Paket mit KING KONG (1933) und GODZILLA (1954) eingekauft haben und nun halt auch zeigen wollen. In der Schule wird die Lehrerin mit „Fräulein Lehrerin“ angesprochen, man macht Ausflüge in die „große Stadt“ – also Düsseldorf – und dort öfters in die Unikliniken, da die Schwester einen durch Contergan bedingten Herzfehler hat.
Mit wenigen, oft skizzenhaften Beschreibungen zeichnet Gorkow all dies und die Menschen, die diese Umgebung bevölkern: Da sind der cholerische Fahrradhändler und sein Sohn, der mit roher Gewalt über seine Klassenkameraden herrscht; auch der Pastor langt schon mal ordentlich hin; eine Sekretärin, die Alexander und sein Freund Hubi – ein, wie man heute sagen würde, Kind mit Down-Syndrom, damals einfach ein „Mongo“ – auf einem Schulausflug kennenlernen, erklärt ihnen den Unterschied zwischen The Sweet und Pink Floyd, die sie für Weicheier hält; die etwas wirre Frau Schwerdtfeger macht die Büdericher Straßen unsicher – es gelingt Gorkow, all diese (und weitere) Figuren mit Leben zu füllen und dadurch ein Ensemble glaubwürdiger Gestalten zu erschaffen, die man sich, ist man selbst in jenen Jahren aufgewachsen, nur allzu gut vorstellen kann.
Dazu gehören allerdings auch jene Herren, die im Hofgarten in Anbetracht knutschender Jugendlicher danach schreien, daß es sowas unter Hitler…usw. Die frühen 70er Jahre werden wahrlich treffend eingefangen. Und dadurch, daß Gorkow sich nicht scheut, Begriffe wie den bereits erwähnten „Mongo“ oder auch die Dauerbeleidigung als „Spasti“ zu nutzen, wirkt das alles nicht nur weit entfernt, sondern es wird auch genau diese Entfernung markiert, vermessen und bezeichnet. Eine andere Zeit. Die Schwester – die im Buch nie einen Namen erhält, wodurch der Charakter einer Institution, welchen sie für den kleineren Bruder hat, definiert wird – diskutiert mit dem Vater, ob man auf „Bullen“ schießen darf und erklärt dem kleinen Bruder, daß die reichen Leute am Ende der Straße bestimmt schon auf der Liste der RAF stünden. Der Vater diskutiert zurück und weiß sich schlußendlich doch nur mit dem damals gängigen „Solange du deine Füße unter meinen Tisch….“ zu helfen – er ist aber auch bereit, sich Pink Floyd anzuhören, um dann festzustellen, daß der Pianist vom Bebop käme. Die jeweils neueste Platte der Briten wird natürlich in Düsseldorf beim Funkhaus Evertz an der Kö gekauft. Und andächtig auf dem sündhaft teuren, in der Schrankwand weggeschlossenen, Thorens abgespielt, zu dem selbstredend nur Vaddern den Schlüssel hat.
Anhand der Veröffentlichungsdaten der jeweiligen Platten – hier sind es DARK SIDE OF THE MOON, WISH YOU WERE HERE (1975) und ANIMALS (1977) – lässt sich in etwa der zeitliche Ablauf der Geschehnisse bestimmen. Und entsprechend seiner jeweiligen Altersstufe, kann die oft seltsam anmutende Musik der Band den Jungen ernsthaft verstören, denn die Themen, die ihre Werke behandeln – Krieg, Wahnsinn, Vereinzelung, Vereinsamung, Kommerzialisierung, den Kampf gegen das Establishment, wie die Schwester behauptet – sind für Kinder kaum geeignet. So macht sich Alexander höchst seltsame Gedanken hinsichtlich der Pyramide, die man angeblich am Himmel entdecken könne, wenn man sich nur genügend konzentriert, und die eine Verbindung mit den Musikern in London herstellen soll. Wie es die Schwester behauptet. Währenddessen allerdings hausen The Sweet, T. Rex und – wie auch immer die in diese Reihe gerutscht sind – die Mothers Of Invention in dunklen Höhlen unter dem Grundstück, wo die Familie lebt; und kochen dort Kinder…Traumwelten eines Kindes.
Gorkow bedient sich einer Kunstsprache, um einerseits die Gedankenwelt eines Sechs-, Acht- oder Zehnjährigen wiederzugeben, lässt den Leser aber jederzeit spüren, daß dies natürlich eine ironische Entfremdung ist, nutzt er doch jede Menge Fremdworte oder Redewendungen, die kaum im Repertoire eines Kindes vorkommen dürften. So ist dies, trotz anfänglicher Schwierigkeiten im Zugang zu diesem Text, doch recht leicht zu lesen und es ist immer wieder witzig, vor allem für jene, die die eigene Kindheit hier finden können. Und doch gelingen dem Autor auch immer wieder Momente, in denen das Lachen dann doch im Hals steckenbleibt, wenn er recht nonchalant Alt-Nazis und Reaktionäre auftreten lässt. Und ist man am Ende dieser 185 Seiten angelangt, trifft der letzte Satz dieser kurzen Erzählung derart ins Herz, daß man sich kaum schämen muß, eine Träne zu verdrücken.
Man kann dies alles von einem rein nostalgischen Standpunkt aus lesen, doch macht Gorkow schließlich einen Zirkelschlag in die Gegenwart, in der er – mittlerweile Journalist einer angesehenen deutschen Tageszeitung – etliche Interviews mit Rock- und Pop-Stars geführt hat. Unter anderem auch mit Roger Waters, dem Bassisten von Pink Floyd, der die Band 1983 offiziell verließ, eine (mäßige) Solokarriere startete und mittlerweile bei den Israel-Boykotten der BDS-Bewegung gelandet ist. Anhand einer Auseinandersetzung, die er mit dem Star ob dessen führt, wird noch einmal die enorme Diskrepanz zwischen den damals so eindeutig scheinenden Frontlinien – hier die progressiven Kräfte der Linken, dort die Reaktion, die immer noch von „verrecken, vergasen und dem ganzen Stuss“ (um einmal Hannes Wader zu paraphrasieren) stammelt – und der Gegenwart markiert, in der genau diese Linien nicht mehr überschaubar sind, nicht mehr eindeutig verlaufen und eher unscharf erscheinen.
Was man nicht erwarten sollte, ist eine durchgängige Story, einen roten Faden (außer eben der Musik von Pink Floyd), eine kohärente Erzählung. Es ist ein Eintauchen in die eigene Vergangenheit, ein Sich-Erinnern, eine Rekapitulation, eine Reminiszenz, aber auch eine kritische Reflektion, die dem Roman eine zweite Ebene einzieht, die vielleicht subversiv genannt werden kann, da sie unterläuft, was wir Erinnerung nennen. Und gelegentlich verläuft sich der Autor dann zwischen den Ebenen, was man ihm aber kaum verübeln kann. Vielleicht ein Roman für Altersgenossen, für Jüngere eher ein Panoptikum aus einer analogen Zeit, die so sicherlich nicht wiederkehren wird. Aber man kann ja jederzeit ein Album von Pink Floyd auflegen und jenen ersten Tönen lauschen, die SHINE ON YOU CRAZY DIAMOND eröffnen und selbst schon von etwas Fernem, Vergangenem künden. Remember when you were young, you shone like the sun. Zeitlos. Wunderschön.