DIE UNSCHULDIGEN/THE INNOCENTS
Michael Crummey entführt seine Leser auf faszinierende Art in eine andere Zeit und ein ganz, ganz anderes Land
Nicht von ungefähr wird Michael Crummey seinen Roman über ein verwaistes Geschwisterpaar im Original THE INNOCENTS (2019; Dt. DIE UNSCHULDIGEN,2021) genannt und damit an einen Geisterfilm der 1960er Jahre erinnert haben, dessen Titel gleich lautete. Jack Claytons THE INNOCENTS (1961) war seinerseits die Verfilmung von Henry James´ THE TURN OF THE SCREW, eines der meistinterpretierten Texte der Moderne. Und lässt man den ganzen Geisterkram einmal außen vor, ist eine der gängigsten Interpretationen die, dass es sich in James´ Geschichte vor allem auch um erwachende Sexualität und adoleszente Projektionen dreht. Allerdings im engen Korsett spätviktorianischer Moralvorstellungen. Und genau an dieser Stelle knüpft Crummey an.
Vordergründig erzählt er von dem Geschwisterpaar Ada und Evered, die nach dem Tod der kleineren Schwester und der Eltern – alle von einer ihnen unbekannten Krankheit dahingerafft – allein das karge Leben weiterführen, welches sie gewohnt sind. Die Familie lebt um 1800 herum an der rauen Küste Neufundlands vom Fischfang, dessen Erträge man an einen zweimal im Jahr auftauchenden Händler verkauft, dessen Schoner vor der Küste Anker legt. Im Gegenzug erhält die Familie Salz, Mehl, Pökelfleisch und alle anderen zum Überleben notwendigen Grundnahrungsmittel sowie Dinge des alltäglichen Lebens.
Es ist ein hartes und sehr, sehr einfaches Leben, das hier beschrieben wird und Crummey nutzt eine ausgesprochen einfache Sprache, um es zu schildern. Niemals primitiv, doch eingängig und am sprachlichen Vermögen seiner Protagonisten ausgerichtet, erzählt er davon, wie die Arbeit mit den Jahreszeiten – der einzig gültigen Zeiteinheit neben Tag und Nacht – wechselt, wann welcher Fisch in die Bucht zum Laichen kommt und wie er gefangen, getrocknet und gesalzen werden muss, wie umzugehen ist mit den Eismassen, die irgendwann an die Küste drängen und jedweden Zugang meerseits versperren, bis das Eis sich nach Monaten wieder in Bewegung setzt und unter Krachen und Stöhnen löst und davonzutreiben beginnt. Crummey erzählt davon, wie morgens das Feuer neu angefacht werden muss und wie das Holz zu schlagen ist, um immer genug Vorrat zu haben, um es zu nähren. Er erzählt davon, wie in den kurzen Sommermonaten die Natur plötzlich eine Überfülle an Beeren und anderen Schätzen zu bieten hat und die Geschwister kaum nachkommen, diese auszuschöpfen und sich für den herannahenden Winter zu sichern.
Crummey gelingt es, den Leser mit sekiner einfachen und doch eindringlichen Sprache in die Geschichte hineinzuziehen, obwohl es im engeren Sinne gar keine Geschichte – also ein handlungsbasierter Plot – ist. Vielmehr hat der Leser es mit einer Aneinanderreihung von Episoden zu tun, die sich im Laufe der Jahre ereignen. Die Geschwister machen eine Expedition zu einem Schiffswrack, wo zumindest Evered Fürchterliches widerfährt; in einem äußerst kritischen Moment machen sie die Bekanntschaft von Mrs. Brace und Captain Truss, die ihnen helfen und ein wenig auch zu Freunden werden; später lernen sie die Mannschaft eines Segelschiffes kennen – und ein wenig fürchten – welche sich durch die unwirtliche Landschaft Neufundlands schlägt, um ihr Schiff wieder zu treffen, für das sie einen geeigneten Baum zum Bau eines Masts suchen. Erst spät in diesem Roman setzt so etwas wie eine zusammenhängende Handlung ein und die erzählt der Autor dann ausgesprochen spannend.
Dabei ist es ihm vor allem hoch anzurechnen, dass er sich zwar der beschrieben einfachen Sprache befleißigt, nicht jedoch einer gewollt kindlichen, wie es immer mal wieder vorkommt, wenn Schriftsteller*innen aus Kinderperspektive erzählen wollen. Meist geht das brachial schief. Crummey hingegen nimmt seine Protagonisten ernst und nimmt man es genau, ist deren Kindheit – so sie denn je eine hatten – im Alter von neun und elf Jahren, mit dem Tod der Eltern, auch vorbei. Denn so alt sind die beiden, als die Eltern sterben. Ab nun müssen sie sich selbst versorgen und auch der „Beadle“, jener Händler, der mit ihrem Vater die Geschäfte betrieb, sieht keinen Grund, gegenüber den Kindern Verantwortung zu übernehmen. Er bietet ihnen an, sie mitzunehmen, als Evered, der ältere der beiden, ablehnt, wird dies unhinterfragt akzeptiert.
Wovon Crummey allerdings – eher hintergründig, wenn auch nicht verborgen oder geheim oder zurückhaltend – ebenfalls erzählt und womit man wieder beim Eingangsstatement dieses Textes ist, ist die Veränderung zweier junger Menschen am Ende der Kindheit, am Beginn der Pubertät. Da diese Kinder von ihren Eltern zwar all das gelernt haben, was sie fürs Überleben in dieser extrem lebensfeindlichen Umwelt brauchen, nicht jedoch auch nur das geringste über den Menschen, die Welt, darüber, was einem darin widerfahren kann, stehen sie den körperlichen wie seelischen Veränderungen, die mit dem Älterwerden einhergehen, vollkommen hilf- und ratlos gegenüber. Das gilt ebenso für jene Regungen, die Evered irgendwann nachts in seiner Hose zu spüren beginnt, wie auch für den „monatlichen Besucher“ (Zitat), den Ava schließlich empfängt und von dem ihre Mutter sie zumindest noch unterrichtet hatte, bevor sie starb. Allerdings ohne ihr auch nur annähernd zu erklären, womit sie es zu tun hat, wenn sie zu bluten beginnt.
Und so hat der Leser es auch mit einer Variante des Erwachen des Frühlings zu tun. Allerdings unter verschärften Bedingungen. Denn diese beiden Menschen, von denen der Roman erzählt, sind bedingungslos aufeinander angewiesen, ihr Leben lang. Sie sind einander Bruder und Schwester, sie sind einander absoluter Bezugspunkt und bis auf die wenigen Momente in einem Jahr, in denen der Schoner Hope in der Bucht ankert und sie Umgang mit der nur wenige Mann zählenden Besatzung haben – wobei dies nur für Evered gilt, der immer allein zum Schiff übersetzt – kennen sie im Grunde keinen einzigen anderen Menschen. Dies ist also auch ein Roman, der von der Einsamkeit und davon handelt, wie man eine Welt wahrnimmt, für die man nur rudimentär eine Sprache zur Verfügung hat, und die man im Laufe der Jahre zwar um einige Quadratkilometer erweitern mag, indem man beginnt Fallen zu stellen und im Sommer den Flüssen ein wenig ins Landesinnere zu folgen, die sich aber im Kern nie ändert. Was sich ändert, sind die eigenen Befindlichkeiten und Gefühle. Und nicht nur verstehen diese beiden Menschen ihre eigenen Gefühle nicht, sondern sie haben auch dafür keine Sprache. Ihr Leben lang haben sie im Winter in ein und demselben Bett geschlafen, haben sich aneinander gerieben und so gewärmt, warum verändert sich dies, wenn Evered seine Lust plötzlich spürt und auch Ada beginnt, neben der Wärme etwas anderes zu empfinden?
Auch für diese Veränderungen und Entwicklungen findet Crummey eine angemessene, nie überhebliche oder gar peinliche, weil ordinäre Sprache. Auch diesen Veränderungen und Entwicklungen nähert er sich vorsichtig, ohne sich hinter Floskeln oder verschämten Umschreibungen oder Metaphern zu verstecken. Und so stellt der Roman, stellt sein Autor einmal mehr jene Frage, die Anthropologen, Soziologen und nicht zuletzt die Philosophen von jeher umtreibt: Wo ist die Schnittstelle dessen, was wir „Natur“ und dessen, was wir „Kultur“ nennen? Ist es einerseits – Thanatos – der Kannibalismus, vor dem wir „natürlich“ zurückschrecken und andererseits – Eros – der Inzest, vor dem wir ebenfalls auf „natürliche“ Art und Weise zurückschrecken? Beide Möglichkeiten streift, bzw. behandelt der Roman und in beiden Fällen stellt er die Geschwister vor schier unlösbare seelische Aufgaben.
Es ist faszinierend, wie es Michael Crummey gelingt, den Leser durch die Jahre und die sich verändernden psychischen und emotionalen Zustände zu führen, die die Geschwister durchleben. Nie wirkt das aufgesetzt oder gezwungen, immer organisch und aus sich heraus folgerichtig. Ein großartiger Roman, der scheinbar so wenig erzählt und doch eine weite, unbekannte Welt vor uns auferstehen lässt: Die Abgeschiedenheit Neufundlands und den verlorenen Kontinent unserer eigenen Entwicklung als Kinder und Jugendliche. Das Land der Erinnerungen.