DOGTOOTH/KYNODONTAS/Κυνόδοντας
Giorgos Lanthimos legt eine ebenso beunruhigende wie bedrückende Parabel über das Wesen der Willkürherrschaft vor
Abseits einer größeren Stadt liegt, umgeben von Öd- und Brachland, ein Anwesen, bestehend aus einer ausladenden Villa, einem parkähnlichen Garten mit einem Swimmingpool und weitläufigen Rasenflächen. Hier lebt eine Familie – Vater (Christos Stergioglou), Mutter (Michele Valley), die ältere (Angeliki Papoulia) und die jüngere (Mary Tsoni) Tochter sowie der Sohn (Christos Passalis) – die sich nahezu vollkommen von der Außenwelt abgeschottet hat. Lediglich der Vater fährt täglich mit seinem Mercedes in eine Fabrik, wo er in gehobener Position arbeitet. Die Mutter und die Kinder verbleiben im Anwesen, das sie nie verlassen.
Die Eltern erziehen die Kinder nach seltsamen Methoden: Per Walkmen werden ihnen Worterklärungen vorgespielt: Aus einer Autobahn wir der Wind u.ä. Spracheränderungen schaffen so nach und nach eine neue Realität. Zudem werden die Kinder immer wieder in Wettbewerbe gezwungen, bei denen sie bspw. tauchen und die Luft anhalten müssen. Für die erbrachten Leistungen gibt es Belohnungen in Form von Aufklebern, Stickern, die an den Bettpfosten anzubringen sind.
Die Außenwelt, die die Aufmerksamkeit der Kinder erregt, wird von den Eltern mit teils skurrilen, teils bizarren Begründungen erklärt. So seien die Flugzeuge, die immer wieder die Villa überfliegen, Spielzeuge, die regelmäßig abstürzten. Zur Bekräftigung dieser Erklärungen werfen die Eltern gelegentlich Spielzeugflugzeuge in den Garten, die die Kinder finden müssen und dann behalten dürfen. Dabei kommt es zwischen den Geschwistern regelmäßig zu Streitereien und auch Gewaltausbrüchen, wenn sie einander die Flugzeuge streitig machen.
Die Kinder, die sich langweilen, entwickeln teils sadistische Spiele, bei denen sie sich gegenseitig oftmals Schmerzen zufügen. Der Vater bringt regelmäßig eine junge Frau namens Kristina (Anna Kalaitzidou) ins Haus, die er dafür bezahlt, dass sie mit dem Sohn schläft. So sollen dessen erwachenden sexuellen Bedürfnisse befriedigt werden, zugleich soll er aber auch auf seine Rolle als „Mann“ vorbereitet werden.
Kristina, die der einzige Kontakt zur Außenwelt ist, den die Kinder je erleben, bietet der älteren Tochter ihren Haarreif an, wenn diese sie oral befriedigt. Für das Mädchen stellt dies kein Problem dar, da sie keine Idee von Sexualität oder gar sexueller Befriedigung hat.
Später bietet die ältere Tochter ihrer jüngeren Schwester ebenfalls den Haarreif an, wenn diese sie lecke. Die jüngere lässt sich darauf ein und leckt der älteren die Schulter, was dieser reicht.
Die Eltern unterstreichen ihre Position und die Forderungen an die Kinder mit der Geschichte eines weiteren Sohns, der ihren Anforderungen nicht Genüge leisten konnte und deshalb vom Anwesen vertrieben wurde. Er lebt angeblich auf einem angrenzenden Grundstück, hinter einer Hecke und einem Zaun. Die Kinder werden regelmäßig aufgefordert, Nahrungsmittel über den Zaun zu werfen.
Die Außenwelt, die von den Eltern grundlegend als gefährlich und bedrohlich dargestellt wird, wird u.a. durch Katzen repräsentiert. Diese seien Ungeheuer, die die Familie bedrohten. Als eines Tages eine Katze auf dem Rasen des Anwesens sitzt, tötet der Sohn sie mit einer Gartenschere.
Der Vater nimmt dies als Anlass, den „Bruder“ sterben zu lassen. Er präpariert sich mit Kunstblut, zerreißt seine Kleidung und fügt sich Schrammen an Armen und im Gesicht zu, dann erklärt er den Kindern, ein Katzentier habe den Bruder angegriffen, getötet und gefressen. Der Vater lässt daraufhin die Mutter und alle drei Kinder auf allen Vieren Hundegebell üben. Nur so seien die Katzen vom Anwesen fernzuhalten.
Bei einem Hundetrainer hat der Vater einen Hund bestellt, der aber noch im Training sei und deshalb noch nicht zur Familie ziehen könne. Dennoch kündigen die Eltern den Hund mit einer Drohung an: Die Mutter sei schwanger und es kämen demnächst zwei Geschwister und ein Hund zur Welt. Würden die Kinder nicht die Anweisungen der Eltern befolgen und sich bei den Wettbewerben mehr anstrengen, müssten sie mit den neuen Geschwistern Zimmer, Essen und Spielzeug teilen oder würden gar durch diese ersetzt. Ihnen drohe dann dasselbe Schicksal wie dem getöteten Bruder. Allerdings ließen sich die Geschwister „verhindern“, gar „weg machen“, wenn die drei sich anstrengten.
Kristina bringt zwei Videokassetten mit in die Villa. Es handelt sich dabei um ROCKY und DER WEISSE HAI. Die ältere Tochter schaut sich die Filme an und zitiert danach ausgiebig Sprüche aus den Filmen. Zudem verlangt sie von ihrer jüngeren Schwester, ab nun „Bruce“ genannt zu werden.
Der Vater erfährt von den Videokassetten und kann sich schnell zusammenreimen, wie sie ins Haus gekommen sind. Zur Strafe prügelt er die Tochter mit den Kassetten, die er sich zuvor mit Klebeband an der Hand befestigt hat. Danach fährt er zu Kristina und verprügelt auch sie in ihrer Wohnung. Er verflucht sie und erklärt, sie nie wieder bei sich daheim willkommen zu heißen.
Nachts attackiert die ältere Tochter den Bruder mit einem Hammer und zertrümmert sein Knie. Den Eltern erklärt sie, eine „Katze mit einem Hammer“ habe dies getan, was die Eltern als Erklärung akzeptieren. Da Kristina nicht mehr in die Villa kommen darf, soll der Bruder sich für eine der Töchter entscheiden, um zukünftig seine Bedürfnisse zu befriedigen. Dazu setzen sie die drei Kinder gemeinsam in die Badewanne, wo der Junge seine Schwestern mit geschlossenen Augen begrapscht und betatscht und sich schließlich für die ältere der beiden entscheidet.
Die Mutter übernimmt es, die Tochter für den bevorstehenden Akt mit ihrem Bruder vorzubereiten und zurecht zu machen. Dann lassen die Eltern die Kinder den Geschlechtsakt vollziehen, wobei dies der Tochter sichtbar unangenehm ist, während der Junge im Grunde nicht erkennen lässt, ob er einen Unterschied zwischen Kristina und seiner Schwester überhaupt feststellen kann. Mechanisch mutet sein Verhalten an.
Der Hochzeitstag der Eltern naht – in der Villa wird ein großes Fest gefeiert. Die Töchter haben dafür ein Stück einstudiert, bei dem die jüngere, wenn auch dilettantisch, auf dem Klavier spielt während die ältere dazu tanzt. Doch steigert die sich scheinbar unkontrolliert in eine Art Ekstase hinein, bis die Eltern die Vorführung beenden. Daraufhin verschlingt die Tochter ähnlich hingebungsvoll ein Dessert, stopft es nahezu in sich hinein.
Spät abends steht die ältere Tochter vor dem Badezimmerspiegel. Mit einer Hantel schlägt sie sich einen Eckzahn (Dogtooth) aus, da nach der Lehre der Eltern ein Mensch bereit ist, die Außenwelt kennen zu lernen, wenn diese Eckzähne ausfallen. Anschließend rennt die Tochter aus dem Haus, durch den Garten und versteckt sich im Kofferraum des väterlichen Mercedes.
Die Eltern bemerken die Flucht und fast panikartig sucht der Vater das Haus, den Garten und dann die Umgebung des Anwesens ab, ohne die Tochter zu finden. Währenddessen knien die Mutter und die beiden verbliebenen Kinder am Tor des Gartens auf allen Vieren und bellen und jaulen wie Hunde in die Nacht hinaus.
Am nächsten Morgen fährt der Vater wie immer zur Arbeit, nicht ahnend, dass seine Tochter nach wie vor im Kofferraum des Wagens steckt. Der Sohn und die jüngere Tochter halten sich eng umschlungen und küssen sich. In der Fabrik angekommen, stellt der Vater den Wagen auf seinem Parkplatz ab und geht ins Gebäude. Das Schicksal der älteren Tochter im Wagen bleibt ungewiss.
Ein altes Sprichwort besagt, Wetter und Familie könne man sich nicht aussuchen. Beides sei Schicksal, beidem sei das Individuum ausgesetzt. Was das in Bezug auf die Familie bedeuten kann, zeigt uns Giorgos Lanthimos in DOGTOOTH (KYNODONTAS; Κυνόδοντας, 2008), seinem ersten international beachteten Film. In langen, unaufgeregten Einstellungen und sich manchmal schmerzhaft langsam hinziehenden Szenen zeigt der Regisseur und Autor (das Drehbuch hatte er gemeinsam mit Efthymis Filippou verfasst) eine Familie, in der nur der Vater Kontakt zur Außenwelt hält, weil er als Ernährer tagtäglich in eine Fabrik fährt, wo er in gehobener Stellung tätig ist. Seine Frau und die drei Kinder – die Älteste, die Jüngere und der Sohn, alle pubertierend oder gerade darüber hinaus, alle namenlos – leben abgeschirmt auf einem Anwesen, das, soweit der Film uns Ausblicke auf die Umgebung gewährt, abgelegen in den Bergen über einer Stadt liegt, wo die schöne, weiträumige Villa umgeben von einem parkähnlich angelegten Garten mit Pool steht. Dies ist die Lebenswelt der Familie.
Hier errichtet also ein – so wie er von Christos Stergioglou gespielt wird – offenbar ausgesprochen gleichmütiger – man könnte auch sagen gelangweilter – Mann das absolute Patriarchat. Und es stimmt, wenn die zeitgenössische Kritik DOGTOOTH einen immens politischen Subtext unterstellt. Denn ist es nicht so, dass die Familie in nahezu allen autokratischen oder diktatorischen Systemen und Gesellschaftsformen als Keimzelle derselben betrachtet wird? Wenn Lanthimos uns also eine zutiefst (und offenbar gewollt) dysfunktionale und vor allem – darauf wird zurückzukommen sein – pervertierte Familie präsentiert, dann zeigt er uns also auch den Ursprung einer patriarchal durchwirkten und zutiefst dysfunktionalen und eben auch pervertierten Gesellschaft. Faszinierend daran ist, wie er das Patriarchale mit dem Faschismus, mindestens aber mit dem Autoritarismus, kurzschließt und eins ins andere setzt. Wie er aufzeigt, dass beides einander bedingt. Und dies absolut glaubhaft und nachvollziehbar wird.
Früh im Film werden wir Zeugen, wie die Kinder – trotz des fortgeschrittenen Alters sollte man sie so nennen – mit dauerhaft falschen Sprachinformationen gefüttert werden. Sie erhalten Kassetten für ihren Walkman (wer erinnert sich noch an solch ein Gerät?), auf denen Sprachbeispiele genannt werden. Da wird die „Autobahn“ zum Wind, später werden in der Erklärung der Mutter „Zombies“ zu kleinen gelben Blumen und eine „Muschi“ ist eine Lampe, die helles Licht spendet. Diese Familie existiert ausschließlich in einer offenbar vom Vater gebildeten, von der Mutter geduldeten (und unterstützten) Blase, in der die Wirklichkeitskonstruktion scheinbar willkürlich stattfindet. Bei den Kindern entwickeln sich dadurch unterschiedliche Eigenarten. Während die jüngste Tochter einen fatalen Hang zu teils masochistischen, teils sadistischen Spielen entwickelt, wird dem Sohnemann regelmäßig eine junge Dame namens Kristina zugeführt, an der er seine erwachenden sexuellen Begierden abarbeiten kann. Ansonsten leben die drei Geschwister ausschließlich in einem innerfamiliären Bezugssystem. Der Vater fordert von allen drei Kindern Höchstleistungen in seltsamen Wettbewerben, für die es dann Belohnungen in Form von kleinen Stickern und Aufklebern gibt, die an den Bettpfosten anzubringen sind. Untertauchen und die Luft anhalten ist dabei noch die Disziplin, welche am geläufigsten anmutet. Doch lernen die Kinder – und mit ihnen die Gattin – auch, wie Hunde zu jaulen oder zu bellen, um die „Monster“ zu vertreiben, die das Anwesen angeblich bedrohen und in Form einer Katze eines Tages auf dem Rasen des Gartens auftauchen. Der Sohn weiß sich dieser Bedrohung nur mit einer Gartenschere zu erwehren, mit der er die Katze zerschneidet.
Angst ist neben dem Belohnungssystem ein weiteres Herrschaftsinstrument in diesem seltsamen Familiensystem. Angeblich lebt in einem abgesteckten Areal neben dem Anwesen ein weiterer Bruder, der abgesondert wird, weil er den elterlichen Ansprüchen und Anforderungen nicht genügt. Der Sohn unterhält sich gelegentlich mit diesem nie antwortenden, nie sichtbaren Bruder durch den Gartenzaun und die Hecke und hebt dabei seine Verdienste hervor, die ihn besser machten als den andern. Um die Kinder zu verschrecken, lässt der Vater den Bruder eines Tages „sterben“. Dafür imprägniert er sich mit Kunstblut, zerfetzt die eigenen Kleider und erklärt, der Bruder sei einem der gefährlichen Katzentiere zum Opfer gefallen. Eine andere Angsterzählung behauptet, die Mutter würde demnächst erneut gebären – Zwillinge, vielleicht Drillinge, und einen Hund. Die Kinder müssten also teilen – Zimmer, Spielzeug, Aufmerksamkeit – oder würden eventuell, seien sie nicht zur Genüge gehorsam, ersetzt. Hier kommt beides zusammen: Die Bedrohung (als Erziehungsmaßnahme) selbst und eine vollkommen abseitige Erzählung über die Willkür einer Geburt, also über die Funktionsweise der Welt.
Man mag bei der gesamten Ausgangssituation an jene Geschichten denken, in denen nach Jahren, manchmal Jahrzehnten, Kellerverliese entdeckt wurden, in denen Männer Frauen und manchmal auch die gemeinsamen Kinder gefangen hielten. Neben dem Fall Kampbusch ist vor allem jener um Josef Fritzl in Erinnerung, der, je mehr Einzelheiten ans Tageslicht kamen, immer monströser wurde. Vielleicht hatten die Drehbuchautoren Lanthimos und Filippou diesen und ähnlich gelagerte Fälle im Sinn, als sie mit ihrer Arbeit begannen. Doch wird ihnen sofort das gesellschaftspolitische und das kulturelle Potential aufgefallen sein, der Zündstoff, der in diesen Ereignissen, diesen Geschichten steckt.
Dass wir es hier eben auch mit Perversion zu tun haben – und mit einer Analyse der Tatsache, dass eine politische Situation wie die unterschwellig beschriebene eben auch immer Perversion fördert, ja selbst pervers ist – wird in den sexuellen Beziehungen der Figuren verdeutlicht. Der Film geht hier bis an die Grenze des Pornographischen, wenn er den Akt zwischen Kristina und dem Sohn zeigt, später – und da setzt dann die eigentliche Perversion ein – kommt es zum Akt zwischen dem Sohn und der ältesten Tochter, nachdem der Junge sich bei einem gemeinsamen Bad mit beiden Schwestern eine der beiden als neue Gespielin aussuchen durfte. In einem geschlossenen System wird es früher oder später nur noch Inzest geben können. Das System frisst sich selbst.
Doch gehen die Autoren weiter: Kristina, die auch Videokassetten mit „verbotenen“ Filmen ins Haus bringt, bietet der ältesten Tochter Geschenke an, wenn diese ihr das Geschlecht – sprich: die Muschi – leckt. Unbedarft und naiv findet die Tochter nichts daran und folgt der Aufforderung. Es wird überdeutlich, wie Korruption funktioniert und sich fortsetzt, wenn später die Ältere der jüngeren Schwester ebenfalls Geschenke fürs Lecken anbietet. Interessanterweise reicht es ihr durchaus, wenn die Schwester ihr die Schulter oder die Hand leckt. Es geht also – ein wesentlicher Moment der Erkenntnis in DOGTOOTH – bei all diesen Handlungen, mögen sie auch sexueller Natur sein, keineswegs um die Befriedigung sexueller Bedürfnisse (außer vielleicht bei dem pubertierenden Sohn, der auf diese Art und Weise wohl auch auf seine Rolle als „Mann“ vorbereitet werden soll), sondern es geht immer um Macht. DOGTOOTH korrespondiert hier fast überdeutlich mit Pasolinis SALÒ O LE 120 GIORNATE DI SODOMA (1975). Und es ist nicht der einzige Moment, der an den italienischen Meisterregisseur erinnert.
Männer also, die Götter sein, die die Welt – im Film zumindest ihr kleines Reich – nach ihrem Gutdünken, nach ihren Vorstellungen prägen und einrichten wollen. Darin, das macht DOGTOOTH auf schmerzhafte Art und Weise deutlich, liegt nicht nur ein politischer, darin liegt immer ein faschistoider Zug. Größenwahn. Eine Allmachtsphantasie. Und diese Allmachtsphantasie muss um jeden Preis geschützt und bewahrt werden. Dazu dienen neben der bereits beschriebenen Angst, dem permanent beschworenen Bedrohungsszenario eines gefährlichen Außen, eben auch die bereits beschriebene Korruption und Willkür. Die Mutter, die ebenfalls nie das Anwesen verlässt, besitzt ein heimliches Telefon, versteckt im Nachtisch, von welchem sie den Vater in der Fabrik anruft und bspw. Einkaufslisten an ihn durchgibt. An welchem die beiden aber auch Erziehungsmaßnahmen besprechen. Im Gegensatz zu den Kindern erhält sie also eine gewisse Autonomie, hat sie doch die potentielle Möglichkeit, mit der Außenwelt in Kontakt zu treten. Auch dies ist ein Akt von Korruption, aber auch von Kumpanei der Eltern gegenüber den Kindern. Wobei der Film auch verdeutlicht, dass das eine immer mit dem Andern Hand in Hand geht. Willkür ist es in dem Sinne, dass der Vater die Vergünstigungen zuteilt. Der Film inszeniert die Mutter in Aussehen und im Kleidungsstil, aber auch im Gestus und Auftreten als großbürgerliche Dame. Umso irritierender, wenn auch sie an den Übungen zum Hundegebell teilnimmt (die ebenfalls an Pasolinis letzten Film erinnern); umso irritierender, dass diese Frau scheinbar nie das Bedürfnis hat, die eigene Bürgerlichkeit in einem bourgeoisen Umfeld zu zeigen und zu vertreten. Der Chef ihres Mannes wird in einer Situation gezeigt, in der deutlich wird, dass er sich gern mit der Familie anfreunden würde. Der Vater erfindet wilde Geschichten um eine Krankheit seiner Frau, um jedwede Besuche abzuschmettern.
Dieser Vater wirkt im Film nicht nur recht unbeteiligt, sondern er wirkt gelegentlich geradezu sanft. Doch Obacht, denn sobald seine Allmacht bedroht wird – und sie wird hier nahezu ausschließlich von Frauen bedroht – ist er bereit, Gewalt anzuwenden. Eine der abstrusen Lehren, die die Kinder von ihren Eltern hier beigebracht bekommen, besagt, dass, wenn der Eckzahn (Dogtooth) ausfällt, ein Mensch die Reife erreicht habe, die Außenwelt zu erkunden und sich von den Eltern zu lösen. Die ältere Tochter, deren Interesse an der Außenwelt nicht nur durch die Flugzeuge, die regelmäßig das Grundstück überfliegen, geweckt wurde, sondern auch durch jene Videokassetten, die Kristina ins Haus geschmuggelt hat (und die die Tochter wiederum auf ihre ganz eigene Art korrumpieren), schlägt sich irgendwann in einem Akt autoaggressiver Gewalt eben diesen Eckzahn aus, verlässt das Haus und klettert in den Kofferraum des väterlichen Mercedes. Diesen wird sie in den letzten Minuten des Films nicht mehr verlassen. Doch zuvor wurde sie von ihrem Vater gezüchtigt, als dieser erfährt, dass sie die Filme auf den Kassetten – offenbar handelt es sich dabei um JAWS (1975) und ROCKY (1976)[1] – angeschaut hat. Und auch Kristina sucht der Vater in ihrem bescheidenen Zuhause auf und prügelt und beschimpft sie. Und verflucht sie schließlich. Lanthimos macht also klar, dass eine unterdrückerische Gesellschaftsform nie ohne Gewalt funktionieren kann, gleich wie verführerisch oder gar sanft der Unterdrücker die meiste Zeit auch daher kommen mag. Bei der Darstellung der Gewalt hält sich der Film durchaus zurück, doch umso schmerzhafter sind die Momente, in denen Gewalt ausbricht, da sie in diesem an sich nahezu abstrakten Film dann sehr real – und also umso schockierender – wirkt.
Ebenso deutlich erscheint aber im Versuch der Tochter, sich einen Ausgang aus diesem Gefängnisidyll zu suchen, dass eine Diktatur immer auch einen nahezu natürlichen Widerstand herausfordert. Und sei es, dass die Unterdrückten schließlich in einem Akt der Autoaggression handeln und damit eine totale Verweigerung – bis hin zur Lebensverweigerung (vergleichbar den Hungerstreiks in autoritären Diktaturen) – zum Ausdruck bringen. Für die ältere Tochter wird, nach aller Logik des Films, dieser Versuch tödlich enden, wird sie doch wahrscheinlich im Kofferraum des väterlichen Autos ersticken oder verdursten oder einfach in der sommerlichen Hitze eingehen. Lanthimos und der Film verweigern jedwedes Urteil über diese Handlung und Haltung. Sie verweigern aber auch die Aufklärung. Die letzte Einstellung zeigt uns den Mercedes, der auf dem Parkplatz in der brütenden Sonne steht, während der Vater ins Gebäude und somit zur Arbeit geht. Das herrschende System steht den Opfern vollkommen gleichgültig gegenüber. Ja, es nimmt sie in der Regel nicht einmal wahr.
Es ist beeindruckend, wie genau Buch und Regie auf die Verwerfungen und die Reaktionen darauf achten und wie es gelingt, diese in kleinen, manchmal nebensächlichen Gesten und Anmerkungen in den Film einzubauen. So wird die Verweigerung von Namen konterkariert, indem die älteste Tochter, nachdem sie die Filme auf den Videokassetten gesehen hat, ihre Schwester bittet, sie „Bruce“ zu nennen[2]. Ein Akt der Selbstermächtigung ebenso, wie ein Hinweis darauf, dass das Individuum auf nahezu natürliche Weise danach verlangt, individuell behandelt und wahrgenommen zu werden. All die Kenntnisse aus der Faschismusforschung – das Verlangen dieses Herrschaftsmodells nach Herrschaft über Raum, über Zeit, aber eben auch über bspw. die Sprache und somit darüber, was wahr und was unwahr, was die Wirklichkeit selbst eigentlich zu sein hat – werden hier inhaltlich auf nahezu natürliche, fast organische Weise abgehandelt. Und sie werden durch die Kameraarbeit von Thimios Bakatakis hervorgehoben; das Anliegen, die Analyse des Films, werden geradezu kongenial unterstützt.
Es gibt so gut wie keine Kamerabewegung, der gesamte, gut anderthalbstündige Film besteht aus starren Einstellungen. Oft sind es Totalen, die den Garten, gelegentlich das Anwesen oder die Fabrik, in der der Vater arbeitet, wie Bühnenbilder präsentieren. Doch sind es auch immer wieder Einstellungen, die sich dem Publikum geradezu verweigern. Immer wieder wirken sie „falsch“ oder fehlerhaft, wenn uns bspw. ein Stück Rasen gezeigt wird, über den ein Paar Beine geht, auf dem jemand liegt, von dem aber nur die Füße zu sehen sind. Das Maßgebliche, das „Eigentliche“, scheint zumeist außerhalb der Bildkadrierung zu geschehen. Eine Haltung, die den Zuschauer gleichsam in den Wahnsinn treibt, weil hier herkömmliches Erzählen verweigert wird. Und wir in exakt die Situation gebracht werden, in der die Kinder sich befinden. Auch wir verstehen nicht, was wirklich geschieht, auch uns werden lediglich Wirklichkeitsausschnitte präsentiert, die immer Wesentliches vorenthalten. Hinzu kommt, dass diese Bilder oft unscharf sind, die Schärfe mitten in der Einstellung schon mal wechselt und von der Bildmitte plötzlich auf die Ränder fokussiert. Entfremdung und Verstörung sind die Folge und genau das will der Regisseur mit diesen Bildern wohl auch erreichen. Und immer wieder: Verweigerung. Hier verweigert ein Film nicht nur die bequemen Sehgewohnheiten, er verweigert damit auch jedwede herkömmliche Haltung, jedes Urteil, die Sicherheit, die das Publikum gewohnt ist.
Lanthimos ist mit DOGTOOTH lange vor seinem vielbeachteten Meisterwerk THE KILLING OF A SACRED DEER (2017) bereits ein Kleinod gelungen, ein kleines, stilles, nahezu unerträgliches Kunststück, das gelegentlich an eine Kreuzung aus Filmen von Peter Greenaway und eben Pier Paolo Pasolini erinnert. Ähnlich distanziert, ähnlich kühl und scheinbar unbeteiligt wie diese großen Vorbilder, führt auch Giorgos Lanthimos sein Publikum in eine eigenartige, eigene Welt und wie die berühmten Kollegen lässt er sein Publikum nicht mehr vom Haken, wenn er es einmal in diese Welt eingebunden hat. Dass diese Welt sehr viel mehr mit der unsrigen zu tun hat, als wir wahrhaben wollen, dass es hier sehr viel unkomfortabler zugeht, als wir ertragen können, merken wir zu spät. Das müssen wir dann aushalten. Bis zur bitteren Neige.
[1] Die zeitlichen Insignien verweisen hier nahezu alle auf die 80er Jahre: Walkman, Videorekorder und -kassetten, ein deutlich veralteter Mercedes Benz. Lanthimos mag hier vielleicht einen doppelten Twist eingebaut haben, wenn er dem Film zeitliche Nähe zur Militärdiktatur in Griechenland zwischen 1967 und 1974 attestiert. Das mag als – im Übrigen einzige – Begründung für das gezeigte Verhalten der Familie gelten: Möglicherweise stellt die Abschottung der Familie eine Reaktion auf das herrschende, autoritäre Regime dar. Das wiederum wäre eine weitere Bestätigung der These, dass autoritäre Regimes zu individuell pervertiertem Verhalten führen. Eine Analyse, die mit geltenden Totalitarismus-Theorien korreliert. Doch möglicherweise führt diese Überlegung auch zu weit…
[2] Hier erlaubt sich Lanthimos ein Spielchen auf der Metaebene: „Bruce“ war am Set zu JAWS die interne Bezeichnung für den Hai, bzw. das Haimodell, mit dem gearbeitet wurde und das sich immer wieder als fehlerhaft erwies. Die Tochter kann den Namen also nicht aus dem Film haben. Doch auch sie erweist sich in der Logik dieser Familie schließlich als „fehlerhaft“.