SAVAGE – AT THE END OF ALL HUMANITY

Es gibt sie noch, die großartigen, verstörenden Independentfilme

Seit Jean Amérys immer noch ebenso brillant zu lesendem wie verstörendem Essay DIE TORTUR, wissen wir, daß es dieser erste Schlag ist, der das Weltbild des Geschlagenen, dessen Existenz und die Wahrnehmung auf seine Existenz für immer verändert. Die Entwürdigung, das Gefühl der Demütigung, das Ausgeliefertsein – wie eine Signatur, die der Folternde am und im Gefolterten hinterläßt, trägt dieser die Zeichen der Tortur am Körper, mehr aber noch in seiner Seele.

Améry musste die Folter der Gestapo erleiden, die ihn für den Rest seines Lebens geprägt und gezeichnet hat. Dies sollte niemals vergessen werden, denn es ist das Ausgeliefertsein gegenüber einer Macht – einer Staatsmacht – die genau die Handlung der Tortur zu einem legalen Mittel ihres Vorgehens macht. Es ist, laut Améry, die Essenz dessen, was den Nationalsozialismus im Besonderen, den Faschismus im Allgemeinen ausmacht, was den Kern seines Seins darstellt: Die rein legalistische Möglichkeit, über den Körper des Anderen zu verfügen und in der Behandlung dieses Körpers zu der Seele, dem innersten Kern des Wesens vorzustoßen und diesen zu brechen.

Doch gibt uns Amérys Text durchaus auch schlichten Einblick in das Innere desjenigen, der Opfer von willkürlicher Gewalt wurde. Denn der Moment, in dem die Gewalt geschieht, ist zunächst immer gleich: Der hilf- und wehrlose Körper ist ausgeliefert. Brendan Muldowney nähert sich diesem Punkt mit gnadenloser filmischer Effizienz, um von dort aus – einem psychologischen Nullpunkt, wenn man so will – wie in einem Laborversuch zu beobachten, was mit einem Menschen (Mann) geschieht, der dieser Willkür ausgeliefert ist und sich „danach“ wieder ins Leben zurückfinden soll.

Paul Graynor (Darren Healy) – Fotograf, der sich mit Paparazzi-Aufträgen den Lebensunterhalt verdient und dabei wenig zimperlich vorgeht – wird eines Abends Opfer eines Überfalls. Zwei Männer drücken ihn in eine dunkle Gasse, demütigen und verletzen ihn und schlagen ihn schließlich derart zusammen, daß er erst Tage später in einem Krankenhaus wieder erwacht. Die Ärzte müssen ihm mitteilen, daß die Täter den Bewußtlosen kastriert haben. Über die Stationen ‚ANGST‘, ‚KONTROLLE‘, ‚WUT/ZORN‘ und ‚RACHE‘, die uns im gleichen Schriftzug mit derselben Typographie eingeblendet werden wie zu Beginn des Films, als wir einen blutüberströmten Mann auf einen Polizeiwagen zugehen sehen der Titel SAVAGE, spielt der Film Pauls Passionsweg exemplarisch durch. Wie Paul versucht, ins Leben zurück zu finden, wie er die eben erst vorsichtig begonnene Annäherung an die Krankenschwester, die seinen demenzkranken Vater pflegt, aufrecht zu halten versucht, wie er sich sowohl psychologische Hilfe sucht, als auch damit beginnt, sich mit Karate und anderen Selbstverteidigungsarten für weitere Vorkommnisse zu präparieren, wie er ich schließlich mit Waffen – Elektroschockern und Messern – eindeckt. Die Ärzte – mitfühlend und doch hilflos gegenüber einem jungen, gedemütigten Mann – bieten ihm alle möglichen technischen Hilfen an: Implantate, die ihn zumindest wieder wie einen „Mann“ fühlen ließen, sie geben fürsorgliche Tipps, daß er durchaus eine Erektion haben könne, sie verabreichen ihm Psychopharmaka und schließlich Testosteron, damit sein Körper den Dauermangel ausgleichen kann. Nichts davon kann jedoch Pauls geschundene Seele befrieden. Diese schreit nach Rache, denn die Zeichen des Angriffs – ein immer wiederkehrender Tinnitus, der in Stresssituationen auftritt, Angstzustände, die sich mit gewissen Gesichtern und Situationen verbinden und natürlich die Unfähigkeit, sich seiner Freundin körperlich zu nähern oder deren Annäherung zuzulassen – beherrschen sein Leben zusehends.

Muldowney verzichtet weitgehend auf Erklärungen, rührselige Bezeugungen oder sentimentalen Besserungskitsch. Dank seines hervorragenden Hauptdarstellers kann er schlicht beobachten, wie Paul mehr und mehr Gefangener dessen wird, was ihm widerfahren ist. Der Überfall und was ihm angetan wurde wird zum einzigen Referenzrahmen seines Lebens. Sahen wir ihn vor dem Überfall sowohl bei der Arbeit als auch mehrmals bei Besuchen bei seinem Vater – wo er unter anderem die Krankenschwester kennenlernt – fallen alle diese „alltäglichen“ Dinge und Begebenheiten nach dem Überfall vollkommen weg. Es gibt nichts mehr, was sich nicht auf dieses Ereignis bezieht, durch die Maske dessen, was ihm geschehen ist, gesehen wird. Paul kann sich nicht befreien und wir betrachten seinen zunehmenden Wahn mit Besorgnis, doch auch in immer größerer Distanz zu dem, was wie zwangsläufig passieren muß. Der sich stählende Paul wird aber dennoch wieder und wieder mit der eigenen Unfähigkeit konfrontiert, sich zu wehren oder auch „nur“ andere zu beschützen. Zwar beginnt er, einem Phantom gleich, die Dubliner Nächte zu durchstreifen, scheinbar auf der Suche nach denjenigen, die ihn mißhandelt haben, dabei aber auch immer wieder Gewalt an anderen beobachtend. Muldowney erklärt im der Störkanal-Ausgabe beiliegenden Bootleg, er habe sich an Scorseses TAXI DRIVER (1976) und Peckinpahs STRAW DOGS (1972) sowie den Filmen Gaspar Noés (SEUL CONTRE TU – 1998; IRRÉVERSIBLE – 2002) orientiert, doch weiß er dem Rache/Selbstjustizgenre (wenn man es denn so nennen will) durchaus Eigenes beizumischen. Er spielt nicht, wie Scorsese, mit den Erwartungen und Prinzipien des Publikums (obwohl es Nachtaufnahmen aus Dublins Rotlichtbezirken gibt, die durchaus an die berühmten Nachtfahrten von Travis Bickle in TAXI DRIVER erinnern), auch dreht er nicht an der Gewaltspirale, die Peckinpah exemplarisch in Gang setzt und auch bedient er sich keiner formalen Mätzchen, wie Noé es tut, um den Zuschauer mit dessen eigener Manipulierbarkeit zu konfrontieren. Er verweist auf den Fall Bernhard Goetz, der 1984 in der New Yorker U-Bahn vier vermeintliche Angreifer niederschoß und dafür ebenso gefeiert wie verdammt wurde (und in gewisser Weise Travis‘ Geschichte in realitas nachvollzog) und hier kann man noch am ehesten wirkliche Bezugspunkte feststellen.

Wir begreifen Pauls Schmerz, ohne daß der Film diesen aufdringlich erklären würde, doch wir begreifen auch, wie es ihm immer weniger gelingt, sich auf die gebotenen Hilfestellungen einzulassen, wie er immer weiter in einen Kosmos vordringt, der nur noch in ihm existiert und wo alles sich um die erlittene Demütigung dreht. Die Kastration, die einem zunächst etwas „übertrieben“ vorkommt, spielt dabei eine immer größere Rolle auf der symbolischen Ebene, definiert sie doch die absolute, nicht mehr rückgängig zu machende Demütigung, die rote Linie, den absoluten Verlust des Ich, der Sicherheit der eigenen Identität. Wir sehen, daß Paul dem (oder, besser: EINEM) Wahn verfällt, wir wissen, daß dies der absolut falsche Weg ist und verstehen dennoch, warum er handeln muß, wie er handelt. Allerdings – und das ist das eigentlich so Besondere des Films – gelingt es Muldowney und seinem Team, dabei eben keinen Selbstjustiz rechtfertigenden Thriller hinzulegen, sondern einen Film, der sich sehr vorsichtig, oft eher ruhig (lediglich ein gewollt enervierender Soundtrack, der momentweise nur noch Sound ist, durchkreuzt oftmals die Ruhe der Bilder) seinem Sujet nähert, vorsichtig untersucht, was da geschieht, einen Blick auch aus der Distanz einzunehmen in der Lage ist und somit auch den Gefühlen anderer – beispielsweise Michelles, der Krankenschwester, die Nora-Jane Noone ebenso großartig wie zurückhaltend spielt – Raum gibt.

Wir verstehen sehr instinktiv das, was Jean Améry meint, wenn er von der Entwürdigung, von jenem ersten Schlag spricht, der den Geschlagenen bereits bricht. Wir verfolgen Pauls Weg, den Weg eines Mannes, der uns zunächst wenig sympathisch ist, der eigenwillig und etwas verschroben wirkt, der ein Opfer wird und exemplarisch all die Stationen des Passionsweges zurücklegt, die ein Gebrochener nach dem Bruch zurückzulegen hat. Er gewinnt unsere Sympathie, wenn er – verängstigt – kaum mehr am Alltagsleben teilnehmen kann, wenn wir (wie er) lernen, was Kastration bedeutet, wenn wir seine aufsteigende Wut begreifen und seine wachsende Unfähigkeit, echten Kontakt mit seiner direkten Umwelt aufzunehmen. Doch der Film baut dies nicht derart aus, daß wir an einen Punkt absoluter Zustimmung gelangen. Muldowney will uns nicht auf Pauls Seite zwingen, so daß wir bereit wären, ihm uneingeschränkt zu folgen oder seinen Maßnahmen zuzustimmen. Wenn er schließlich an seinen Kulminationspunkt gelangt und seine Rache vollzieht, ist dies derart ekelhaft und drastisch inszeniert, daß der Zuschauer dem keinen Moment innerlich jubelnd oder auch nur zustimmend beiwohnt, sondern lediglich entsetzt, verstört und letztlich in tiefer Trauer zurückbleibt, Trauer darüber, wohin ein für die Täter scheinbar „normaler“ Samstagabend schlußendlich führt. Die letzten Bilder offenbaren uns, wer der blutende Mann zu Beginn des Films ist und wir begreifen schmerzlich: Hier gibt es keine Gewinner und Verlierer, hier gibt es NUR Verlierer.

Anders als das Jodie-Foster-Vehikel THE BRAVE ONE (2007), der dauernd behauptet, intellektuell abwägend einen inneren Entfremdungsprozeß abzubilden und doch nur einen weiblichen Travis Bickle präsentiert, jedoch ohne dessen Wahn, sondern lediglich mit einem Jodie Foster entsprechenden Furor der zupackenden emanzipierten Frau ausgestattet, den der Zuschauer natürlich schnell nachvollziehen kann (und will, undd soll) und der die zur Mörderin avancierte Mittelschichtlerin letztendlich auch davon kommen läßt, gelingt Muldowney ein wirklich tiefgreifender, verstörender Film, der sein Thema ernst nimmt, nie manipulativ wird und keine Antworten bietet, lediglich Fragen über Fragen, mit denen der Zuschauer sehr hilflos zurückbleibt. Das ist der Moment, in dem einem Film der Sprung von der Kolportage zur Kunst gelingt. SAVAGE – AT THE END OF ALL HUMANITY (2009) ist sicherlich einer der leicht zu übersehenden, doch zweifelsohne künstlerisch hochwertigen Filmen, die das junge europäische Kino in den vergangenen Jahren hervorgebracht hat.

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