SENDERO
Lucio A. Rojas bietet gute Ansätze in einem wahrlich brutalen Film und verliert dann doch seinen Fokus
Zu Zeiten der Diktatur: In einer alten Villa, vor der ein Wachturm steht, werden mehrere Menschen gefoltert und offenbar umgebracht.
Gegenwart: Ana (Andrea Garcia-Huidobro) und einige ihrer Freunde wollen ein gemeinsames Wochenende irgendwo auf dem Land verbringen. Ana hat soeben erfahren, daß sie ein Auslandsstipendium für Europa erhalten hat, ist aber unsicher, ob sie dieses wirklich antreten soll. Ihre Freundin Susana (Sofía García) beschwört sie, erst einmal das Wochenende zu genießen, entscheiden könne sie auch später noch. Als die anderen Ana abholen, sitzt auch Alfredo (Diego Casanueva) im Wagen. Ana ist nicht begeistert. Zwischen den beiden hat es früher offenbar eine Annäherung gegeben.
Unterwegs finden die fünf einen toten Hund auf der Straße, der fürchterlich zugerichtet ist. Wenig später bleibt ihr Wagen liegen. Felipe (Francisco Schneider), der den Wagen fährt, versucht, ihn wieder in Gang zu setzen, was ihm nicht gelingt. Währenddessen unterhalten sich Ana und Alfredo. Auch er hat ein Stipendium für Europa erhalten. Sie scheinen sich immer noch gegenseitig anzuziehen.
Ein Mann (Daniel Antivilo) und eine junge Frau (Levinia Muñoz) kommen den Weg entlang. Ana und Alfredo bitten ihn, zu helfen. Widerwillig erklärt der Mann sich bereit. Schnell hat er den Wagen wieder in Gang gesetzt, will aber kein Geld dafür, auch keinen Dank. Er blafft Alfredo, der ihm Geld anbieten wollte, an, der solle die Schnauze halten. Felipe fragt den Mann nach seinem Namen, der Juan lautet. Juan fordert die jungen Leute auf, einfach weiter zu fahren.
Kurz darauf stoßen sie auf eine schwer verletzte Frau (Ximena del Solar). Ana will ihr helfen, doch Alfredo und auch die andern sind der Ansicht, sie sei möglicherweise nicht transportfähig und man solle Hilfe holen. Während die Freunde streiten, hält ein Wagen hinter ihnen, zwei Männer steigen aus und schlagen Alfredo und Felipe brutal zusammen, auch Ana wird verletzt, Susana und Francisca (Javiera Hernández) versuchen zu fliehen, Susana wir eingeholt, Francisca von einem der Männer angeschossen.
Als Ana zu sich kommt, liegt sie in einem Bett in einer alten, heruntergekommenen Villa. Es ist das Gebäude vom Beginn des Films. Ana kann sich frei im Haus bewegen und stößt auf eine Frau (Pamela Rojas), die sie in den Hof des Anwesens führt. Dort treffen sie auf die verletzte Frau, die auf der Straße lag. Einer der Männer, die die Freunde gekidnapped haben, will sich an Ana vergehen, wird aber von der Frau aufgehalten. Dann töten die Männer die Verletzte.
Die Frau, die wohl auf den Namen Graciela hört und im Anwesen Chefin ist, spricht auch mit Susana und meint auf deren Frage hin, daß sie alle ausgeliefert würden, an „die Macht“. Alfredo erwacht derweil an ein altes Bettgestell gekettet, während Felipe in einem anderen Raum zu sich kommt, in dem eine ganze Reihe weiterer Opfer hocken, offenbar noch lebend, jedoch ohne Augen und mit zugenähten Mündern. Felipe versucht, zu entkommen, wird aber von Graciela aufgehalten, die ihm zur Strafe die Hand zertrümmert.
Einer der Kidnapper namens Carmen (Arielli Gutiérez) versucht, Alfredo zu vergewaltigen und masturbiert vor dessen Gesicht, der andere Mann, Pedro (Felipe Contreras), kommt hinzu, fordert ihn auf, das zu lassen, Alfredo gehöre ihm nicht, und vollzieht dann Analverkehr an Carmen.
Ana, Susana und Francisca werden in ein Esszimmer geführt. Hier beginnt Pedro, sich an Susana zu vergreifen, was Ana dadurch verhindert, daß sie sich an Pedro heranschmeißt und behauptet, dieser habe ihr versprochen, gemeinsam mit ihr zu verschwinden, wenn sie „nett“ zu ihm sei. Pedro zeigt sich nahezu verängstigt von den Avancen Anas. Graciela geht dazwischen-
Juan taucht auf, er beliefert die Villa. Er trifft auf Ana und versteht, daß die Freunde in Gefahr sind. Er will ihnen helfen, wird aber von Pedro niedergeschossen. Er und das Mädchen, das bei ihm ist und die ihm offenbar von den seltsamen Leuten in der Villa zur Verfügung gestellt wurde, werden in einem alten Badezimmer angekettet.
Ana und Francisca werden unter einen Baum geführt. Dort ist Felipe angebunden, er trägt einen Sack über dem Kopf. Graciela erklärt Ana, sie habe sechzig Sekunden Zeit, Felipe zu erschießen, sonst würden sie alle sterben. Pedro bedroht Francisca mit einer Waffe. Ana weigert sich, sagt aber auch, daß sie nicht sterben wolle. Als die Frau anmerkt, ihr blieben noch zwanzig Sekunden, schießt Ana auf Felipe und tötet ihn.
Juan gelingt es, der jungen Frau die Fesseln zu lösen und befiehlt ihr, zu fliehen. Er selber kann sich unter unerträglichen Schmerzen befreien, wird aber von Graciela gestellt, die ihn bestialisch tötet.
Alfredo und Ana versuchen zu fliehen, Alfredo sagt ihr, daß sie keine Rücksicht auf die andern nehmen könnten. Jeder müsse sich selbst retten. Doch unterwegs tappt Alfredo in eine Bärenfalle. Ana rennt alleine weiter, stößt auf einen Mann, der ihr helfen will, da taucht ein weiterer unbekannter Mann auf und erschießt den Helfer. Dann packt er Ana und Alfredo in seinen Wagen und bringt sie zurück zur Villa.
Dort hat derweil Francisca versucht, sich zu verstecken, wurde aber von Graciela gestellt, die ihr zur Strafe die Finger abhackt. Susana, die ebenfalls zu entkommen versucht, wird von Pedro gestellt, der sie erneut vergewaltigen will, von Graciela aber daran gehindert wird.
Der Unbekannte ist Jorge (Jorge Godoy), ein Cousin von Graciela, Pedro und Carmen. Er möchte für die drei arbeiten, die ihrerseits sagen, er dürfe nicht einmal hier sein, geschweige denn wissen, was sie tun. Wenn „Er“ davon erführe, würde „Er“ sie alle töten. Scheinwerfer tauchen die Front der Villa in grelles Licht. „Er“ ist da.
„Er“ ist ein alter Mann (Tomás Vidiella), der offenbar Autorität besitzt und Graciela, Pedro und Carmen sofort dafür verantwortlich macht, ein Massaker angerichtet zu haben und daß man nun aufräumen müsse. Als Jorge ihn bittet, für ihn arbeiten zu dürfen, zeigt der Mann sich pikiert, überhaupt angesprochen zu werden. Er fragt Jorge, ob dieser ihm vertraue. Jorge bejaht das. Der Mann nimmt einen Revolver und steckt ihn Jorge in den Mund, Ob der ihm immer noch vertraue? Jorge nickt, daraufhin schießt der Mann ihm durch den Kopf.
Der Mann begutachtet die Freunde. Er erklärt, Ana sei rein, ihr Körper „geeignet“. Sie und Susana will er mitnehmen, damit „die kleine Gemeinde“ sich „fortpflanzen“ könne. Francisca hingegen hackt er die verstümmelte Hand ab. Er erklärt dies zu einem Akt der Reinigung – „für uns alle“.
Nachts sind die verbliebenen Freunde gemeinsam eingeschlossen. Francisca macht Ana fürchterliche Vorwürfe, all dies sei ihre Schuld, Immer gebärde sie sich als Opfer, sei aber in Wirklichkeit – „wie damals“ – Täterin. Susana und Alfredo weisen das zurück. Die junge Frau, die bei Juan war, taucht auf und befreit die Freunde. Gemeinsam versuchen sie zu fliehen. Doch dies gelingt nicht. Alfredo ist zu schwer verletzt, er bleibt freiwillig zurück. Ana und Susana schleppen die schwer verletzte Francisca mit sich, während das Mädchen vor ihnen herläuft.
Da taucht ein Gehilfe des alten Mannes auf und erschießt Francisca. Er wird seinerseits von Pedro erschossen. Ana und Susana rennen weg, doch Susana stürzt und bricht sich den Knöchel. Ana will allein weiterfliehen, Susana fleht sie an, nicht ohne sie zu gehen, doch Ana rennt los. Pedro sticht auf Susana ein, die schwer verletzt wird. Ana nähert sich ihm und zertrümmert ihm mit einem Stein den Schädel.
Sie und Susana schleppen sich zurück zur Villa. Carmen, Graciela und der Alte nähern sich ihnen. Das Mädchen wurde bereits von Carmen eingefangen und gefesselt. Graciela erschießt das Mädchen, der Alte faucht sie an, ob sie wisse, was sie da getan habe? Graciela schreit, daß Ana nicht lebend hier raus käme. Ana, die sich die Schrotflinte von Pedro geschnappt hat, droht, sich zu erschießen. Der Alte erklärt ihr ruhig, daß sie das sein lassen solle, sie verstünde nicht, was vor sich ginge. Ana schießt Graciela den Kopf weg und droht erneut, sich zu erschießen. Der Alte lächelt milde und fragt sie, ob sie wirklich glaube, jemanden wie ihn töten zu können? Sie, die längst „tot und begraben“ sei. Dann dreht er sich um und geht in die Villa. Ana rennt weg. Carmen bleibt allein auf dem Feld zurück, in der gleißenden Sonne schreit er los.
Ana kommt an eine Straße, wo sie einen Wagen anhält. Die Frau darin erklärt, sie fahre sie jetzt ins Krankenhaus, Die vollkommen hysterische Ana erschießt die Frau.
Horrorfilme verhandeln alles Mögliche – verdrängte Ängste, verdrängte Schuld, vorehelichen Sex und die Strafen für (angenommene) Sünden, Ressentiments und die Art, wie wir mit ihnen umgehen. Horrorfilme bewegen sich meist in einer Grauzone, die es zulässt, höchst ambivalente Aussagen zu treffen, etwas zu behaupten und zugleich sein Gegenteil zu zeigen. Manchmal sind sie reaktionär, gelegentlich progressiv, in ihrer großen Mehrzahl jedoch eben – ambivalent. Können Horrorfilme auch politische Botschaften jenseits gesellschaftlicher oder moralischer Vorstellungen verhandeln? Schwierig. Der Vampir bspw. bietet diese Interpretation an: Seine Herrschaft ist auch immer eine diktatorische, seine Herkunft und Abstammung eine adlige, was ihn prädestiniert, als Symbol überkommener Herrschaftsstrukturen – seien sie feudal, seien sie faschistisch – zu fungieren. Hans W. Geißendörfer hat es einst in seiner Adaption des DRACULA-Stoffes JONATHAN (1970) so gehandhabt. Über die Qualität des Ergebnisses kann man streiten.
Eines aber ist sicher: Will man in einem Horrorfilm eine politische Allegorie erzählen, ihn als Metapher nutzen, sollte man Bilder und Figuren nutzen, die dem Zuschauer ein Mindestmaß an Hinweisen und Interpretationsmöglichkeiten liefern. Sonst verliert man sich im Ungefähren und läuft Gefahr, nicht nur unverständlich zu sein, sondern auch beliebig. Ein leider gutes Beispiel für eine eher mißlungene politische Allegorie bietet Lucio A. Rojas mit seiner Splatter-Orgie SENDERO (2015). Es ist ein chilenischer Film, was an sich interessant ist, kennt man doch nicht allzu viele Genrebeiträge aus Chile. Er beginnt mit der Aufsicht auf ein Haus irgendwo in der Pampa, man wird mehr Ohren- denn Augenzeuge eines offensichtlichen Mordes an einer Familie, ebenso offensichtlich während der noch herrschenden Pinochet-Diktatur. Menschen verschwinden, Menschen werden gefoltert, Menschen werden getötet. Unmittelbar wechselt der Film dann in seine Gegenwart und beginnt eine Erzählung über eine Gruppe von Freunden, die ein Wochenende auf dem Lande verbringen wollen. Dabei fallen sie schließlich einer seltsamen Familie in die Hände, die sie einerseits foltert, auch sexuelle Gewalt wird immer wieder angedeutet, allerdings nicht voll ausgespielt, andererseits werden die jungen Leute aber am Leben erhalten, da sie offenbar als Ware dienen. Spät im Film taucht dann ein Mann auf, für den diese Ware offenbar bestimmt ist. Die junge Ana, die seltsamerweise alle Angriffe und Verletzungen überlebt, setzt sich gegen die Familie und den Alten zur Wehr, während ihre Freunde nach und nach den Tod finden.
In seiner Struktur erinnert SENDERO an all die Backwoods-Filme der vergangenen Dekaden. Ob THE TEXAS CHAINSAW MASSSACRE (1974), FRIDAY THE 13TH (1980), WRONG TURN (2003), THE CABIN IN THE WOODS (2012), CABIN FEVER (2002) oder FRONTIER(S) (2007) – etliche werden hier aufgegriffen und Rojas spielt bewußt mit Versatzstücken, gibt offen die Verwandtschaft zu erkennen, bietet Szenen, die direkt auf die Vorbilder anspielen. Er bietet alle Zutaten, die das klassische Backwoods-Movie braucht: Die jungen Leute, die Hinterwäldler, das verlassene Haus, den Folterkeller, die (gelegentlich) dahinter stehende Macht, die das alles erst organisiert oder am Laufen hält. Das kann die Fleischindustrie sein, wie in THE TEXAS CJAINSAW MASSACRE, es kann die Mutter sein, wie in FRIDAY THE 13TH, es kann eine übernatürliche Macht sein, wie in dem epigonalen HATCHET (2006). Es kann natürlich auch ein obskurer alter Mann sein, dessen Auftauchen und Verhalten mysteriös sind und der vielleicht für eine politische Macht steht. Das deutet SENDERO mit dem Auftauchen des Alten an.
SENDERO deutet überhaupt eine Menge an, was den Film lange spannend und unterhaltsam macht, abseits der Gewalt und des Terrors. Ana könnte eine düstere Vergangenheit haben – als sie in den Wagen ihrer Freunde steigt, sitzt da ein junger Mann, den sie offensichtlich eher ablehnt. Später im Film wirft ihre Freundin Francisca ihr vor, sich immer wie ein Opfer zu gerieren, aber alles andere als ein Opfer zu sein. Was hinter diesen Andeutungen und Behauptungen steckt, wird nie näher erläutert. Wurde Ana von dem jungen Mann bei früherer Gelegenheit belästigt? Ist es ihr Ex-Freund? Wieso geriert sie sich als Opfer? Interessant an dieser Feststellung ist, daß alle aus der Gruppe Opfer werden, alle werden fürchterlich verletzt – angeschossen, mit irgendetwas Spitzem durchbohrt, verstümmelt usw. Nur Ana, die sich als Erste und in der Konsequenz auch als Einzige ihren Peinigern entgegenstemmt, bleibt wietestgehend unverletzt. Sie versucht, alle ihre Freunde zu retten, was ihr aber bei keinem einzigen gelingt. Im Gegenteil, Francescas Bruder wird sogar – hilflos an einen Baum gebunden – von ihr erschossen, als die Entführer von ihr verlangen, dies zu tun. Zwar folgt Ana dem Befehl nicht kaltblütig, trifft aber im entscheidenden Moment mit erstaunlicher Präzision. Und auch an anderen Stellen des Films erscheint sie egoistisch, illoyal. Sie will nicht sterben, das sagt sie deutlich, doch scheint sie für dieses Ziel eben auch über Leichen zu gehen. Die Leichen ihrer Freunde. Hat man es hier mit verdrängter Schuld zu tun? Hat Ana einst versucht, jemanden zu erretten, was ihr nicht gelungen ist? Und was hat es mit der kryptischen Anmerkung des Alten auf sich, sie, Ana, sei längst „tot und begraben“? Eine Andeutung, was ihr blüht? Oder eine Tatsachenfeststellung?
Anders, als in manchen Inhaltsangaben behauptet, wird der Alte am Schluß des Films nicht von Ana getötet, sondern vielmehr verschwindet er einfach im Haus. Ist er der Tod? Der Teufel? Oder ist er schlicht jene Macht – die Macht selbst – die niemals zu besiegen ist? Haben wir es hier womöglich mit einer gewaltigen Phantasmagorie zu tun? Befinden wir uns im Kopf einer jungen Frau, die unter fürchterlichen Schuldgefühlen leidet? Oder soll Ana gar allegorisch für ein Land stehen, dessen Bewohner – hier ihre Freunde, aber auch die Peiniger – geschunden und gequält werden, das dennoch immer wieder auf die Füße kommt und dabei vielleicht selbst nicht fehlerlos, nicht schuldlos bleiben kann? Auf eine solche Lesart könnte die letzte Szene des Films hindeuten, in der eine vollkommen hysterische Ana ihre Retterin erschießt. Ein Land, das derart geschunden wurde, kann sich seiner selbst, seiner Werte und Historie vielleicht nicht mehr sicher sein? All das sind Interpretationen, nichts davon arbeitet der Film wirklich heraus.
Auch die Entführer und Peiniger der jugendlichen Freunde zeichnet der Film auf subtilere Weise, als dies in herkömmlichen Backwoods-Filmen der Fall ist. Daß der größere der Brüder, Pedro, (wenn es denn Brüder sind, ein beherzter Analverkehr zwischen den beiden könnte sowohl auf Inzest und damit absolute Verdorbenheit im Kosmos eines solchen Films, oder aber darauf hindeuten, daß die beiden eben keine Verwandten sind) die jungen Frauen begehrt und durch recht unappetitliche Spielchen mit seiner Zunge verdeutlicht, daß dies der Fall ist, mag durchaus im Rahmen einer solchen Figur liegen, daß sowohl er, als auch der andere junge Mann hingegen schnell zu beeindrucken sind, offensichtlich Angst haben vor der Frau, die ihre Mutter, aber auch ihre Schwester sein könnte, allerding auch vor Ana, als sie sich Pedro nähert, um ihre Freundin Susana aus einer prekären Situation zu retten, ist schon weniger typisch. Diese Typen, wie auch ihr Helfer, werden im Kontext des Films als grausam und brutal, aber auch als verängstigt, als schwach, ja, als Opfer gezeichnet.
Als Francescas Bruder, der durch Anas Hand recht schnell aus der Handlung entfernt wird, auf dem Dachboden eingeschlossen ist, trifft er dort auf eine ganze Reihe von offenbar noch lebenden Gestalten, denen die Augen, teils die Münder, zugenäht wurden. Auch hier nur Andeutungen: Sind dies reale Gefangene der seltsamen Familie, die hier wohnt? Oder sind dies die Geister der Vergangenheit? Auch das wird nie näher erklärt oder gar aufgelöst. Und was hat es mit dem seltsamen Mann, eben jenem Helfer, Juan, auf sich, der das Haus beliefert, offenbar eine junge Frau als Sklavin hält und grundlegend bereit ist, den jungen Leuten zur Seite zu stehen, wofür er selber gefangen genommen, eingesperrt und gefoltert wird? Steht er für jene, die sich das „einfache Volk“ nennen und immer zwischen den Fronten gefangen sind, schauen müssen, wie sie durchkommen und sich dabei zwangsläufig die Hände schmutzig machen? In die gleiche Richtung deutet die Hinrichtung von Franciscas Bruder durch Ana: Sie wird gezwungen, durch die Tat wird sie zur Mittäterin. Man kann nicht unschuldig bleiben in diesem Spiel, in diesem Land. Selbst dann nicht, wenn man, wie Ana, von einem, der die Macht hält, wenn incht ist, als „rein“ bezeichnet wird. Als „ausersehen“.
SENDERO gibt dem Zuschauer eine Menge solcher Hinweise an die Hand, die zur freien Interpretation zur Verfügung zu stehen scheinen. Man kann sich daraus schnell politische Zusammenhänge konstruieren. Man könnte darein lesen, daß bestimmte autoritäre Systeme nur funktionieren, indem ein Abhängigkeitsverhältnis von oben nach unten besteht, eine Art Günstlingswirtschaft erschaffen und aufrecht erhalten wird, daß es in einem solchen System immer Handlanger und Mitläufer braucht, daß sich niemand, der sich einmal in den Fängen eines solchen Systems verheddert hat, entkommen und auf Gnade oder Milde hoffen kann, daß faschistische Systeme sich am Ende immer selber fressen, bis sie – in Gestalt eines alten Mannes? – irgendwo anders wieder ihr hässliches Haupt erheben. Einige der äußerst explizit dargestellten Folterungen – das Entfernen von Körperteilen; das Vernähen von Augen und Mund; die sexuelle Demütigung; die Exekution – weisen ebenfalls deutlich auf die Muster jener Folterknechte hin, die in Chile während der Militärdiktatur gewütet haben.
So klingen alle diese Erklärungen und Interpretationen womöglich plausibel, doch der Film selbst bleibt auf der Ebene reiner Andeutung, weshalb er ein gegebenes Versprechen nicht einhalten kann. Und somit bleibt er auch ein Exploitations-Film, der seine Handlung und den Subtext nutzt, um wirklich grausige Szenen explizit zu zeigen. Rojas selbst sprach in Interviews zwar von den Desaparecidos, den Verschwundenen in Chile in den 80er und 90er Jahren, womit er einen klaren Hinweis auf den politischen Hintergrund seines Films gibt, doch kann dies schnell auch eine Schutzbehauptung sein, um seinen Film größer wirken zu lassen, als er es wirklich ist. Es ist ihm bei all dem Blut und Schleim, den fürchterlichen Folterungen und Entmenschlichungen nicht wirklich gelungen, diesen Subtext seines Films glaubwürdig zu vermitteln. Ein Schicksal, das er mit Srdjan Spasojević A SERBIAN FILM (2010) teilt, der ebenfalls ein Anliegen zu haben scheint, in der Wahl seiner Mittel aber so maßlos ist, daß der Zuschauer dem nicht mehr folgen kann. Und nicht mehr folgen will.
Auf der Splatter-Skala wird SENDERO wohl für einige Zeit einen der oberen Ränge einnehmen, doch ist ein Film, der einfach nur Widerwärtigkeiten aneinander reiht, nicht unbedingt spannend oder reizvoll. Zu viele geraunte Andeutungen, zu wenige Hinweise, womit man es wirklich zu tun hat – das hinterlässt den Eindruck, daß der Autor und Regisseur selber nicht genau wusste, wohin er wollte. Eine politische Parabel, die davon berichtet, wie die dauernde gewalttätige Repression einer Gesellschaft diese durchdringt und die Menschen schließlich derart deformiert, daß sie selber zu den Monstern werden, die ihre Peiniger für sie darstellen? Den Höllentrip einer jungen Frau darstellen, die bereits das Purgatorium betreten hat und gegen die Geister ihres eigenen Lebens, ihrer Vergangenheit ankämpft, verzweifelt sich bemühend, begangene Fehler nicht zu wiederholen? Oder wollte Rojas schlicht einen extrem gewalttätigen, blutigen und ekelerregenden, möglichst realistisch wirkenden Splatter-Porno drehen, der in der einschlägigen Gemeinde ankommt und gefeiert wird?
All diese Möglichkeiten könnten in SENDERO verborgen liegen, allein, man weiß es nicht. So bietet der Film dem Zuschauer verheißungsvolle Anreize, die er dann alle nach und nach irgendwo liegen lässt, vergisst und nicht weiter bedient. So kann man wohl guten Gewissens von vergebenen Möglichkeiten sprechen. Was schade ist, denn das Rojas grundlegend etwas zu sagen hat und sein Handwerk beherrscht, kann man nicht leugnen. Ihm gelingen Bilder, die erschüttern und verstören. Und es sind nicht die, die die schlimmste Gewalt zeigen. Der größte Teil des Films spielt am hellichten Tage, in der gleißenden Sonne der Hochebene. Das verbrannte Gras der Steppe, der hohe Himmel, die karge Schönheit dieses Landes kontrastieren auf bedrückende Weise mit der gezeigten Gewalt. Felipe Yaluff unterlegt diese Bilder mit einem durchgehend enervierenden Sound, der den Zuschauer angreift, mal anschwillt, mal abnimmt, immer das Gefühl vermittelnd, man hätte ein stetes Summen im Ohr, wie von einem Elektrogerät oder einem Haufen Insekten. Die Schauspieler sind erstaunlich gut und füllen ihre Rollen gekonnt aus. Sie haben wenig an der Hand, daraus aber machen sie das Beste, deuten an, daß da Vergangenes in ihnen wirkt. Und gerade die drei Bewohner der Villa sind gut besetzt. Eine Mischung aus sadistischen Anwandlungen und kleingeistiger Ängstlichkeit vor Strafe und Verachtung kommt in ihnen zum Ausdruck. So wirkt die Gewalt, die von ihnen ausgeht, auch immer wie ein Ventil für tief in ihrem Inneren eingeschlossene Gefühle.
SENDERO hat also Potential. Es ist schade, daß Lucio A. Rojas sich nicht mehr getraut hat, deutlicher auf die Parabel gesetzt hat, die er doch immer wieder andeutet. Der Film bleibt irgendwo zwischen reinem Horrorfilm in der Tradition des klassischen Backwoods-Movie und einer ernsthaften Auseinandersetzung mit einer politischen und gesellschaftlichen Situation stecken und bietet dann eben vor allem Schauwerte. Man sollte hoffen, daß der Regisseur sich seine Kompromißlosigkeit betreffend treu bleibt, sich aber weiter vorwagt, wenn es darum geht, seine Geschichten mit Bedeutung aufzuladen.