IM HERZEN DER GEWALT/HISTOIRE DE LA VIOLENCE

Sprachlich wie formal brillant führt Louis den Leser ins HERZ DER GEWALT

Ein Mann steht hinter einer Tür und lauscht. Er lauscht seiner eigenen Geschichte, lauscht, wie sie aus dem Mund seiner Schwester, der er sie zuvor berichtet hatte, an ihren Ehemann weitergegeben wird. Stück für Stück führt sie den Lauscher ins HERZ DER GEWALT zurück, jener Gewalt, die er erlitten hat während einer Vergewaltigung.

Édouard Louis´ HISTOIRE DE LA VIOLENCE ist momentan in aller Munde und wird ähnlich wie Didier Eribons RETOUR À REIMS als ein Werk gefeiert, das den sehr persönlichen Weg aus einer nordfranzösischen Arbeiterstadt und also aus einem scheinbar vorgestanzten in ein selbstbestimmtes Leben beschreibt und zugleich ein Schlaglicht auf eben jene Regionen und Schichten wirft, die für das Erstarken des ‚Front National‘ verantwortlich  gemacht werden . Anders als Eribon, der seine intellektuellen Werkzeuge des Soziologen nutzt und distanziert den Spannungsbogen zwischen seiner Herkunft, seinem Werdegang als Intellektueller und seiner Homosexualität beschreibt und zugleich eine brillante Analyse davon liefert, wie sich eben eine ganze Schicht politisch von links nach rechts bewegen konnte, berichtet uns Louis eine sehr intime und für ihn katastrophale persönliche Erfahrung, bereitet diese allerdings eher in Romanform auf und nutzt diese Form, um nicht nur ein gewisses Milieu zu schildern, sondern viel mehr der Arbeit der Erinnerung und den eigenen Ressentiments und Vorurteilen, ja, der Korrumpierbarkeit der eigenen Seele, nachzuspüren. So skeptisch man Lobhudeleien gegenüberstehen mag, hier, in diesem Fall, sind sie berechtigt, denn Édouard Louis ist dabei ein sprachlich wie formal brillantes Buch gelungen.

Édouard nimmt an einem Weihnachtsabend,  auf dem Heimweg von Freunden, einen sich ihm anbietenden südländischen Mann mit in seine Wohnung, wo es zu Zärtlichkeiten und Intimitäten kommt. Erst spät, nach Stunden des Zusammenseins, schlägt die Stimmung um, als Édouard begreift, daß Reda, wie sich sein neuer Bekannter nennt, ihn massiv zu beklauen versucht. Aus der Konfrontation, die Édouard versucht, möglichst zurückhaltend zu führen, entsteht ein immer gewalttätigerer Rausch Redas, der sich angegriffen fühlt, seine Familie verunglimpft sieht und sich in seiner Ehre nicht respektiert fühlt. Schließlich zeiht er eine Waffe und bedroht Édouard damit, schließlich vergewaltigt er ihn. In den darauffolgenden Tagen entwickelt Édouard nach hektischen Besuchen im Krankenhaus, demütigenden Untersuchungen dort und ebenso demütigenden Befragungen durch die Polizei, einen kaum mehr zu stillenden Redefluß, nahezu zwanghaft muß er Bekannten und Halbbekannten, schließlich gar Fremden berichten, was ihm zugestoßen ist. Schließlich flieht er zu seiner Schwester, also zurück in jenes Arbeiter- und Kleinbürgermilieu, dem er aufgrund seiner Interessen, mehr noch seiner Homosexualität, einst in die andere Richtung, gen Paris und dessen Verheißungen, entflohen ist. Hier, in der Fremde, der Ent-Fremdung, in der eigenen Familie, kann er schließlich zur Ruhe kommen, seine Geschichte noch einmal erzählen und reflektieren. Und sie schließlich hören.

Die Situation, die sich praktisch durch den gesamten 220seitigen Text fortsetzt – Édouard hinter der Tür, seiner eigenen Geschichte lauschend – ist literarisch eine hoch komplexe. Und eine literarisch brillante Perspektive. Denn so wird der Icherzähler, eben ein Mann namens Édouard, seiner eigenen Erzählung entfremdet, wird Zeuge des eigenen Lebens im Spiegel einer fremden Erzählung, und kann also noch einmal kritisch verifizieren, was die ganze Entwicklung mit ihm angestellt hat. Er reflektiert den Rassismus, die Homophobie, aber mit der gleichen Härte, mit der er dies bei anderen diagnostiziert, diagnostiziert er es auch bei sich selbst: Wie sein liberales Kartenhaus einzustürzen droht, seine „Offenheit“ gegenüber den Franzosen mit nordafrikanischem Hintergrund wie Nichts in sich zusammenfällt, wie in ihm Ressentiments aufkommen, die er nicht in sich vermutet hätte. Doch reflektiert er eben auch, wie manipulierbar er ist, als man ihm zuzuhören und Verständnis entgegen zu bringen scheint; reflektiert die Dankbarkeit für den vermeintlichen Schutz, die einen allzu ungeschützt den Einflüsterungen anderer, möglicherweise gar nicht so Wohlmeinender aussetzt; und mit ebensolch schmerzlicher Offenheit und Ehrlichkeit beschreibt er die Selbstdemütigungen, die man sich im Angesicht der Gewalt antut: Die Beschwichtigungen, das Sich-Kleinmachen,  das Reden, um den andern zu erreichen, den vorauseilenden Gehorsam, wie man nun gemeinsam aus dieser Situation wieder herauskommt, ohne daß der andere, der Täter, sein Gesicht zu verlieren braucht usw. Schmerzhaft ist die Lektüre, auch wenn man sich lange in Sicherheit wiegt.

Der Fluß dieses Textes wirkt gleichmäßig, es ist schließlich die Erzählung der Schwester an ihren Mann, der in der Küche steht und gleich wieder los muß, garniert mit ihren eigenen Ansichten und Reflexionen auf Édouard und dessen Art zu leben, seine Homosexualität und das in ihren Augen damit verbundene Bohèmeleben. Aber auch ihre Meinungen zu Ausländern, Linken usw. kommen zum Ausdruck und bringen damit exemplarisch eine bestimmte Haltung und die Differenz auf den Punkt, die einen Menschen wie Édouard von seinem Milieu, seiner Familie und letztlich also seiner Herkunft/Heimat trennen. Anders als Eribon in RETOUR À REIMS zeigt Édouard Louis keine Verunsicherung hinsichtlich dieses Komplexes, da scheint er – die Nähe und Freundschaft zu seinen Freunden Geoffroy und Didier, die nie näher erläutert, aber als funktionierend und stabil gesetzt wird, bürgt dafür – sich seiner Entwicklung und auch der Haltung, die er zu seiner Herkunft einnimmt, klar und darüber mit sich im Reinen zu sein. Es ist Louis – die Übersetzung mag das lediglich andeuten können – sprachliche Genauigkeit, sein Eindringen in die Zwischenräume, das Aufgreifen oft nebensächlich wirkender Details sowohl physischer wie psychischer Natur, die dieses Vexierspiel mit Versatzstücken aus Erinnerung und Erzählung, Konstruktion und sprachlicher Spiegelung konstruierter Wirklichkeit so markant, treffend und letztlich auch gefährlich, emotional gefährlich, werden lässt.

Denn in dieser Gleichmäßigkeit, der doppelten Reflexion aus eigener Erinnerung und deren Reflexion im Spiegel der Erinnerung seiner Schwester, die Édouard ja zugehört haben muß wie nun ihr Mann ihr zuhört, unter diesem den Leser zunächst scheinbar in Sicherheit wiegenden Gleichmaß, lauern Gedanken, gedankliche Abgründe, Emotionen teils kalter Animalität, die uns mit sich ziehen in einen Strudel aus Beklemmung, durchaus Angst und schließlich tiefem Befremden uns selbst gegenüber. Es gelingt Édouard Louis beängstigend genau, in einem scheinbar so kleinen, privaten Schicksalsschlag eine ganze kulturelle Ausprägung in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Schichten zu spiegeln. Hier wird die innerfamiliäre Differenz dargestellt und zugleich genutzt, um kulturelle Differenz, politische, sexuelle und auch wirtschaftliche Differenz zu markieren und somit auch die milieu- und klassenbedingten Eigenarten, Ressentiments und Haltungen auszustellen, die auf ganz unterschiedliche Art und Weise – institutionell im Idiom des Arbeiters, im Befehlston des Polizisten, in der Aufforderung eines Arztes, persönlich im Gespräch mit Freunden oder der Familie – zu uns spricht. Louis vermeidet dabei einen allzu verlockenden Fehler und geht nicht in eine literarische Situation, in der Reda – der Angreifer, der Fremde, der Araber usw. – je als etwas anderes erscheint, als ein Abbild der Ängste des Protagonisten. Er ist – wie alle Erinnerung – reine Literatur, weit entfernt davon, eine Aussage zu einem Typus Mensch zu sein. In Bezug auf Redas Handlungen bleibt die Erzählung rein deskriptiv und damit bleibt er ein Symbol. Seine Kränkung, die Wut, die ihn scheinbar in die Gewalt treibt – reine Behauptung, ohne Erklärung. Édouard Louis bleibt auf der Seite des Narrativs, von der er berichten kann. Auf der Seite ist aber auch der wohlgemeinte Multikulturalismus zuhause, der oft an wirklichen, höchst realen Problemen vorbeischauen lässt und reell allzu lange den Blick auf diese Entwicklungen verweigerte.

Der Leser befindet sich dabei ununterbrochen in Konfrontation: Mit sich und seinen Vorurteilen, mit dem Verborgenen, das Literatur immer hervorzukramen sucht, aber auch mit den Abgründen der eigenen Ängste. Vexierspiel der Erinnerung und zugleich Spiegel wie Projektionsfläche – was gäbe es Besseres über Literatur, zumal derart komprimiert wie hier, noch zu sagen?

 

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