EIN LEBEN LANG

Von der Freundschaft unter der Bedingung des Verbrechens...

Kann man von typischen Autoren bestimmter Verlage sprechen? Handke oder Bernhard die prototypischen Suhrkamp-Autoren? Jüngere genau richtig bei Eichborn, Rowohlt oder Fischer? Sagen wir mal so: Sollte s den prototypischen Diogenes-Autoren geben, dann könnte dies ganz sicher Christoph Poschenrieder sein. Seine Bücher sind sprachlich ausgesprochen fein, sie sind hinter-, manchmal tiefsinnig, vor allem aber – ein wirkliches Kriterium bei Diogenes – sind sie unterhaltsam. Sie sind spannend, erzählen eine Story, bieten in diesem Sinne Action, denn es treibt sie voran. Das alles trifft so auch auf Poschenrieders neuen Roman EIN LEBEN LANG (2022) zu.

Nach seinem Ausflug ins Historische mit DER UNSICHTBARE ROMAN (2019), nähert sich der Autor nun wieder der jüngsten Vergangenheit, wenn man so will der Gegenwart zu. Basierend auf einem „wahren Fall“ erzählt er multiperspektivisch von einer Freundesgruppe, die sich fragen muß, ob es gelingt, auch dann zu einem der ihren zu stehen, wenn dieser als Mörder angeklagt, verurteilt und nun, fünfzehn Jahre nach den Geschehnissen, die zu seiner Gefängnisstrafe führten, aus der Haft entlassen zu werden droht. Es sind die Freunde Sabine, Benjamin, Sebastian, Till und Emilia, die damit konfrontiert werden, daß ihr Kumpel des Mordes an seinem Onkel angeklagt wird. Dieser Kumpel bleibt im gesamten Text namenlos, wird wenn überhaupt als „der Gefangene“ eingeführt, wenn er selbst redet. Es ist eine ebenfalls namenlose Journalistin, die für ein Magazin den Fall noch einmal aufrollt und mit einem Verlag in Kontakt steht, um aus ihrer Befragung der Freunde später ein Buch zu gestalten; natürlich rechtzeitig zur möglichen Haftentlassung, wegen der Publicity. So liegen uns nun also die Gesprächsprotokolle vor, die die Journalistin bei ihren Befragungen der Freunde, des Gefangenen und dessen Anwalts aufgezeichnet hat. Und aus denen kann der Leser nun also die Loyalität ebenso herausfiltern, wie er auch auf Zweifel stößt, auf Gruppendynamik und auch auf Gruppenzwang.

Poschenrieder gelingt es nahezu bravourös, seine verschiedenen Figuren mit einer je eigenen Stimme auszustatten, man erkennt den jeweils Sprechenden schnell an seinem oder ihrem speziellen Idiom, der Ausdrucksweise, natürlich auch der spezifischen Argumentationsweise und Sicht auf die Dinge. Da ist Sabine, offenbar immer schon die Rebellische in der Gruppe, die die Dinge gern hinterfragt und keineswegs so stehen oder gelten lässt, wie sie erscheinen – und die folgerichtig auch diejenige ist, die sich auch rückbesinnend auf jene Monate, letztlich nahezu anderthalb Jahre, die der Prozeß gegen ihren Freund dauerte, kritisch erinnert. Emilia hingegen ist die ausgleichende Kraft, die den Mittelweg sucht, moderiert, austariert und versöhnen will. Sebastian und Till sind die beiden Jungs, bzw. Männer der Gruppe, die Loyalität und unbedingten Glauben an die Unschuld ihres Freundes am deutlichsten herausstellen und auch einfordern. Dabei ist Till ein sprachlich eher zurückhaltender Typ, der sich als Macher versteht; Sebastian ist in diesem Duo der Wortführer. Benjamin seinerseits war schon immer ein eher ruhiger Mensch, sachlich und abwägend, zur Zeit des Prozesses selbst bereits fortgeschrittener Student der Juristik und das Bindeglied zwischen Anwalt und den Freunden. Der Anwalt ist ein großmäuliger, sich möglicherweise überschätzender Jurist, der sich sehr sicher war und auch fünfzehn Jahre später noch ist, daß die Indizienlage seinerzeit dünn war und das Urteil nach wie vor einen Skandal darstellt. Und der Gefangene schließlich lässt sich wie einst nicht in die Karten blicken und neigt nach all den vielen Jahren in Gefangenschaft zur philosophischen Betrachtung seiner Situation, in der er es nicht mehr als sonderlich wesentlich erachtet, ob er nun schuldig oder unschuldig gewesen ist – die Jahre im Gefängnis und das soziale Stigmata, welches der Prozeß ihm beschert haben, sind nicht mehr rückgängig zu machen, „die Wahrheit“ also auch kein wesentlicher Faktor mehr in seinem Leben.

Poschenrieder beschreibt in einem Nachwort, daß es ein realer Fall gewesen sei, der ihn auf die Idee für den Roman gebracht habe. Dabei sei es weniger der Fall selbst – der Mord an einer Schickeria-Größe, für die sein angeblich geldgeiler Neffe verantwortlich war – gewesen, der seine Aufmerksamkeit erregt habe, sondern das Verhalten der Freundesgruppe des Angeklagten. Die nämlich hatten dem jungen Kerl über die gesamte Prozeßdauer von fünfzehn Monaten die Stange gehalten, waren entweder in voller Stärke oder immer mindestens zu zweit bei jedem einzelnen Prozeßtag aufgetaucht und hatten die Geschehnisse somit immer vor Ort verfolgt. So seien es eher die Fragen nach deren Zusammenhalt und ihrer Motivik gewesen, die ihn interessiert hätten, schreibt der Autor. Und diese Fragen stünden nun also auch im Zentrum des Romans. Der eindeutig ein Roman sei, denn alle Figuren, Fakten, Beweise und Indizien seien frei erfunden.

Leider will oder kann Poschenrieder dieses Versprechen nicht ganz einhalten. Denn um die Verunsicherung bspw. Sabines zu erklären, muß er auf all die Kleinigkeiten eingehen, die der Prozeß ans Licht bringt, muß die juristischen Spitzfindigkeiten erläutern und bewerten, die aus Gerechtigkeit Recht machen, er muß durchaus die Ermittlungsfortschritte erwähnen, die dezidiert auf den Freund als Täter hinweisen. So erwartet der Leser natürlich mehr und mehr – einem Kriminalroman oder dem Sonntags-Tatort entsprechend – eine Auflösung. So viel sei hier verraten: Poschenrieder bietet sie nicht. Gemessen an seinem Anspruch ginge dies auch gar nicht. Es ist gerade die Unsicherheit und Ungewißheit, die den Reiz dieser Interviews ausmachen. Wie weit geht der einzelne, um seine Freundschaft aber auch sein Selbstbild zu erhalten? Was können wir vor uns rechtfertigen? Und wie lang können wir für uns selbst Narrative aufrechterhalten und rechtfertigen, wenn die Evidenz der Wirklichkeit eine ganz andere Sprache spricht?

Gekonnt spinnt Poschenrieder die Geschichten seiner Protagonisten, ohne dabei je in Deskription zu verfallen. Man kann sich deren jeweilige Lebenswege inklusive ihrer eigenen Beurteilung dieser Lebenswege gut erlesen anhand oft auch nur kurzer Beiträge und Einschübe. Sie alle waren schon in der Schule befreundet, als der Mord geschah, waren schon einige Jahre seit dem Abitur vergangen, man traf sich noch, aber bei Weitem nicht mehr so häufig wie noch zu Schulzeiten. Die Interessen gingen auseinander, die eine oder der andere gingen für eine Zeit ins Ausland usw. Ganz normale Lebensgeschichten im Deutschland des frühen 21. Jahrhunderts. Doch das gemeinsam Erlebte hing ihnen allen, mal mehr, mal weniger, nach.

Das erfüllt all die oben genannten Kriterien eines wirklich guten Diogenes-Romans, bleibt schließlich aber doch unbefriedigend in seiner Gesamtheit, da den Leser mehr und mehr das Gefühl beschleicht, daß man da hätte mehr draus machen können. Tiefer hätte eintauchen können in die Gefühlswelten dieser fünf Menschen, sechs, nimmt man den Gefangenen hinzu; man hätte – einem Dostojewski gleich – die Metaphysik des Verbrechens erkunden können und die Frage nach dem Wert des Menschen in einer zunehmend menschenfeindlicheren Umwelt erkunden können. Es hätte eine große Meditation über den Wert der Freundschaft werden können und über die Konsequenzen dessen, was dies bedeutet. Eine hintergründige Parabel über Loyalität, Pflichtbewußtsein und Verbindlichkeit in immer unverbindlicheren Zeiten. Nichts davon bei Poschenrieder. Er sucht die Wahrheit in der Banalität des deutschen Alltags, er ruft die Soziologie auf, wo er die Lebenswelt dieser einst jungen Menschen erkundet, das Vorortdasein unter den Bedingungen bundesrepublikanischer Tristesse. Er sucht die Wahrheit aber auch in der Psychologie jener, die in der Postmoderne leben und streben und denen in der Kurzlebigkeit zwischen Handys, Whatsapp-Nachrichten und Netflix-Serien das Existenzielle und das Essenzielle abhanden zu kommen droht.

Und dem entsprechend franst das hier schließlich aus. Eigentlich scheint das Schicksal des Gefangenen selbst nur ein weiteres schnelles Ereignis, scheint sein Schicksal selbst nur ein kurzes Aufflackern zwischen Nachrichten, Filmclips und der nächsten Sensation zu sein. Sie alle werden weitermachen und so wird auch der Gefangene weitermachen, verloren, möglicherweise. Berühren kann das dann nur bedingt. Und das ist schade. Ein gutes Buch, das sich mehr hätte trauen sollen. Vielleicht.

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