ERBARMUNGSLOS/UNFORGIVEN
Clint Eastwoods Spätwestern gelingen erstaunliche Einsichten in das Wesen des Genres, bevor er selbst in die alten Klischees und Muster zurückfällt
In einer Kleinstadt wird einer Prostituierten von einem Freier das Gesicht zerschnitten. Sheriff Daggett (Gene Hackman) verlangt von den Cowboys, die dafür verantwortlich sind, Pferde, die sie dem Besitzer des Bordells auszuhändigen haben, da schließlich dessen Ware beschädigt wurde.
Die Huren legen zusammen und loben eine Belohnung aus für den, der die Cowboys erschießt.
Während der Revolverheld „English Bob“ (Richard Harris), im Schlepptau seinen Biographen W.W. Beauchamp (Saul Rubinek), in der Stadt eintrifft, um den Auftrag zu erledigen, dort jedoch im Sheriff einen alten Weggefährten trifft, der ihn zum einen zutiefst verachtet, zum andern vor dem Biographen als Feigling bloßstellt, trifft ein junger Kerl namens „Schofield Kid“ (Jaimz Woolvett) auf der Farm von William Munny (Clint Eastwood) ein.
Munny war vor Jahren ein berüchtigter Outlaw. Seine Schweinezucht läuft nicht gut und so schließt er sich, gemeinsam mit seinem alten Freund Ned (Morgan Freeman), einem Schwarzen, dem Jungspund an, die Cowboys zu töten und das Geld einzustreichen.
Unterwegs wird Munny von seinen Dämonen heimgesucht, ihn holen Erinnerungen an die von ihm Getöteten ein, da er zusehends unter einer schweren Erkältung leidet, ist er seinem Fieberwahn hilflos ausgeliefert. Fühlte er sich durch seine mittlerweile verstorbene Frau geläutert, erscheinen ihm nun die „Geister“ der von ihm getöteten Männer.
Ned und Munny finden heraus, daß ihr Begleiter weder besonders gut sehen, ergo auch nicht gut schießen kann, zudem stellen sie fest, daß er bei aller Angeberei noch nie jemanden getötet hat.
Als sie in der Stadt ankommen, werden sie von Sheriff Daggett in Empfang genommen, Munny, durch seine Krankheit geschwächt, wird fürchterlich verprügelt. Die Drei ziehen sich aus der Stadt zurück und suchen die Cowboys, nachdem Munny sich erholt hat.
Sie töten eine der Cowboys auf hinterhältige Art und Weise. Ned sieht ein, daß sein Leben als Revolverheld schlichtweg vorbei ist. Er will heimwärts, wird aber unterwegs vom Sheriff eingefangen und zu Tode gefoltert. Sein Leichnam wird in der Stadt ausgestellt als abschreckendes Beispiel.
Munny und Schofield Kid suchen den zweiten Cowboy und töten auch ihn. Kid erkennt, daß er kein Killer ist und reitet heim, Munny will aber die Beute einstreichen, er braucht das Geld und will mit Ned teilen.
Bei der Geldübergabe erfährt er, daß Ned tot ist. Er betrinkt sich, wie in seinen schlimmsten Zeiten und kehrt in die Stadt zurück, in der er ein Blutbad anrichtet, daß u.a. den Sheriff das Leben kostet.
Munny kehrt zu seinen Kindern auf die Farm zurück und geht mit ihnen nach Westen.
Das Westerngenre war mehrfach totgesagt, nachdem fast alle Versuche der 80er Jahre, es zu reanimieren, fehlgeschlagen waren. Der moderne Western war ein Großstadtfilm, seine Helden meist zynische Cops. Clint Eastwood, der seine Leinwandlaufbahn im Italowestern begonnen hatte und sich immer seinen Lehrmeistern Sergio Leone und Don Siegel verpflichtet fühlte, hatte es selbst mit PALE RIDER (1985) versucht, konnte aber keinen sonderlichen Erfolg verbuchen. Anfangs der 90er Jahre unternahm er einen weiteren Versuch der Wiederbelebung und schaffte schier Unglaubliches: Nicht nur war sein Spät-Spätwestern UNFORGIVEN (1992) kommerziell ungemein erfolgreich, nein, es wurde auch der erste Western in der Geschichte Hollywoods, der wichtige Oscars gewinnen konnte. Ob dies der Qualität des Films oder der Notwendigkeit geschuldet war, einem der Großen der Traumfabrik endlich Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, sei einmal dahingestellt.
Der Film wurde auch an den Feuilletons nahezu hymnisch gefeiert. Es schien ausgemacht, daß man es hier mit einem Meta-Western zu tun habe, mit einer Dekonstruktion im engeren Sinne des Wortes, mit einem – im besseren Sinne des Wortes – postmodernen Film, der die Mythen des Westens und des Western als dessen wesentlicher medialen Historisierung auseinandernimmt und zeigt, wie Gewalt entsteht und sich ausbreitet. Mehr noch: Das Gewalt die Grundierung all dieser Mythen sei, werde hier überdeutlich ausgestellt.
Vieles daran ist wahr. UNFORGIVEN deckt gnadenlos Mythen auf und zeigt auf wahrlich barbarische Weise, wie Gewalt entsteht und was sie anrichtet. Gewalt ist nie, keinen Moment des Films, bewunderungswürdig, edel oder gut. Sie ist roh und brutal und blutig. Und sie wird als etwas gezeigt, das selten – wie in klassischen Western – eine Frage der Ehre ist, bei der der „Bessere“ siegt. Nein, hier wird hinterhältig getötet, die Täter sind immer im Vorteil, weil sie aus Verstecken schießen und das Sterben – vor allem das eines jungen Cowboys, der in der betreffenden Nacht bei den die Gewalt auslösenden taten zwar dabei war, selbst dem jungen Opfer aber nichts angetan hatte – dauert lang, ist schmerzhaft und führt dazu, daß aus vermeintlich harten Kerlen wieder kleine Jungs werden, die nach ihrer Mutter rufen.
Und dennoch bleibt ein fader Nachgeschmack. Die Figur des William Munny, von Eastwood selbst gespielt, ein Mann, der – meist unter Alkoholeinfluß – fürchterliche Gräueltaten begangen hat, der jetzt von seinen Dämonen eingeholt wird und dann doch wieder selbst zu einem Dämon, einem Teufel mutiert, als sein Freund sterben muß, ist zu deutlich und leider auch zu unreflektiert jenem HIGH PLAINS DRIFTER aus dem gleichnamigen Film von 1973 (zu Deutsch EIN FREMDER OHNE NAMEN) verwandt, als daß die Dekonstruktion zumindest dieser Figur aufgehen könnte. Allerdings ist HIGH PLAINS DRIFTER in gewisser Weise eh der interessantere Film, der das Genre auf besonders hinterhältige Weise schon in den 70er Jahren reflektierend dekonstruierte. Und alte Männer, die, nicht mehr im Saft stehend, erkennen müssen, daß ihre Zeit vorbei ist, hatte bereits Sam Peckinpah in Filmen wie THE WILD BUNCH (1969) oder PAT GARRETT AND BILLY THE KID (1973) in Szene gesetzt, ebenso wie es Blake Edwards in seinem wenig bekannten Westernjuwel WILD ROVERS (1971) getan hatte. Munny wird zwar durchaus entlarvend eingeführt, wie er, über und über mit Dreck beschmiert, durch den Schweinekoben seiner kleinen Farm kriecht, er ist ein alternder Mann, der Probleme hat, auf sein Pferd zu steigen und daß er bereit ist, seine Kinder mitten in der Wildnis allein zu lassen, spricht ebenfalls nicht für seine familiären Qualitäten. Hingegen wirkt er, wie ein Kritiker nach Erscheinen des Films schrieb, wie ein wandelndes Pulverfass, das jederzeit explodieren kann. Und wenn die Gewalt dann ausbricht, dann sähe man endlich den Eastwood, den man gewohnt sei. Vielleicht wäre es interessant gewesen, auch eine dekonstruktive Studie hinsichtlich eines Mimen und seines Leinwandimages zu wagen und sich als Ikone, die Eastwood auch 1992 schon war, zu hinterfragen. Denn offensichtlich erwartet das Publikum von einem Mann, den Clint Eastwood darstellt, daß er irgendwann das große Töten in Gang setzt. Unreflektiert und unkritisch.
Allerdings stimmt die Beobachtung: Eastwood agiert ab dem Moment, in dem er und seine Kompagnons losreiten, um die Cowboys zu töten, auf die die Huren des kleinen Ortes Big Whiskey ein Kopfgeld ausgesetzt haben, nachdem eine von ihnen fürchterlich verstümmelt wurde, wie eine jederzeit explosionsbereite Bombe. Zugleich wird er von seinen Dämonen heimgesucht. Fiebrig, mit eingefallenen Wangen und tief unter der Krempe seines Hutes verborgenen Augen, wirkt William Munny selbst wie ein Dämon, ein Geist der Vergangenheit, der sich selbst einholt – auch dies ein deutlicher Verweis auf den HIGH PLAINS DRIFTER, der im Original wirklich ein Geist ist. Eastwood gelingt es so durchaus, die Figur in Frage zu stellen, indem der kränkelnde alte Mann und jener, der ihn in seinen Erinnerungen heimsucht – eine, wenn auch düstere, Legende – ununterbrochen divergieren. Doch weil Kino nun einmal ein visuelles Medium ist, übertrumpfen die Taten, die er schließlich begeht, seine Worte. Und so wird Eastwood zum einsamen Rächer. Unhinterfragt, nicht dekonstruiert.
So bleiben v.a. die Figuren des von Gene Hackman gespielten Sheriff Daggett, eines Sadisten, der sich entschlossen hat, genau das, was er immer getan hat, unter dem Banner des Gesetzes einfach legal weiter zu tun, und die des selbsternannten „Duke of Death“, des Revolverhelden English Bob und die seines Biographen, W.W. Beauchamp, in Erinnerung. Sie sind die wirklich interessanten Figuren und in ihrem Fall, in ihren Kontexten, funktioniert auch die Dekonstruktion. Daggett, kaum des Lesens und Schreibens mächtig, vollzieht eine wahrlich Derrida´sche[1] dekonstruktivistische Bewegung, indem er einen Buchstaben austauscht, English Bob konsequent „Duck of Death“ nennt und so aus einem erhabenen Titel (Duke= englischer Adelstitel) eine Lächerlichkeit (Duck=Ente) macht. Er klärt den Biographen darüber auf, daß Bob, den er von früher kennt, immer schon ein Feigling gewesen sei, der entweder schoß, wenn sein Gegenüber unbewaffnet war oder sicher sein konnte, daß der Kontrahent keine Kugeln mehr im Lauf gehabt habe.
Die ganze Episode um English Bob und seine Biographie spielt auch auf den John-Ford-Klassiker THE MAN WHO SHOT LIBERTY VALANCE (1962) an, in dem der so aussagekräftige Satz fällt, daß, wenn die Legende zur Wahrheit wird, die Legende zu drucken sei. Eastwood verdeutlicht, daß das dem klassischen Western – auch wenn Ford selbst schon kritisch mit dieser Haltung umging – noch möglich gewesen sei, daß aber der Spät- oder postmoderne Western diese Möglichkeit nicht mehr besitzt. Zu ab- und aufgeklärt ist die Gegenwart, zu genau wissen wir mittlerweile darüber Bescheid, daß Gewalt kein unblutiges Spektakel ist, bei dem einfach einer vom Pferd hinter den Felsen fällt. Allerdings gelingt Eastwood mit dieser Episode auch eine kluge Beschreibung darüber, wie der Western überhaupt erst werden konnte, was er im Laufe des 20. Jahrhunderts dann wurde. Wie die Legenden und Mythen gebildet wurden; wie Männer wie Buffalo Bill, der mit einem gigantischen Zirkus rund um die Welt tourte und Cowboys, Indianer, sogar angesehene Häuptlinge, Bisons, Pferde und Planwagen mitführte, schon zu Lebzeiten die Selbstmythisierung vorantrieben; wie Wyatt Earp, Held unzähliger Geschichten und Filme, die meist die berühmte Schießerei am O.K. Coral in Tombstone, Arizona, thematisierten, wo er an der Seite seiner Brüder und seines Freundes Doc Holliday die Clantons bekämpfte und einige der Brüder tötete, es sich nicht nehmen ließ, auf seine alten Tage in Hollywood vorstellig zu werden und seine Geschichte mediengerecht zu vermarkten. John Ford, der mit MY DARLING CLEMENTINE (1946) einen der ikonographischen Filme zum Thema gedreht hatte, berichtete immer mal wieder, wie er dem großen Earp in seinen frühen Jahren an der Poverty Row, wo die Billigwestern und Serials der 1920er und der 30er Jahre gedreht wurden, begegnet sei – und wie sehr der ihn mit seinen Geschichten genervt habe. So wird natürlich auf die Ursprungslegende eine weitere aufgepropft[2]. Eastwood spielt mit der Figur English Bob und der seines Biographen also ein vielschichtiges Spiel und lässt es mit der Geschichte des Westens und des Western als Filmgenre korrespondieren.
Dekonstruktiv ist der Film sicherlich auch in der Anwendung von Zeichen: Da ist das vollkommen schiefe Haus, welches Daggett baut. Es symbolisiert gut die Brüchigkeit all dieser Leben und Existenzen in der Wildnis. Die Stadt, über die der Mann herrscht, wie ein König über sein Reich – oder ein Diktator – ist eine Bretterlandschaft mitten in der Prärie. Ein Haufen Häuser, der den Eindruck macht, bei der kleinsten Brise hinfort geweht zu werden. Der Sheriff beteuert, ein wahrer Gesetzeshüter zu sein und wendet die Gesetze mit äußerster Brutalität an, biegt sie sich zurecht, wie er sie braucht und verdient zusätzlich noch gut daran. Munny glaubt, geläutert zu sein und muß doch lernen, daß unter der Oberfläche seiner neu gewonnen Christlichkeit all die alten Reflexe noch lauern, so wie die Huren lernen müssen, daß die Zeichen der Erniedrigung auch dann noch im Gesicht des ursprünglichen Opfers leuchten, wenn sie vermeintlich gerächt ist, so wie Neds Hautfarbe ein Zeichen dafür ist, wie er zu Tode kommen wird – Daggett peitscht ihn aus wie einen Plantagensklaven – all diese Existenzen leben in scheinbarer Sicherheit und sind doch unuterbrochen bedroht durch die Brüchigkeit aller Regeln. So deutet alles in diesem Film darauf hin, daß wir unserer Vergangenheit, daß wir dem, was wir im Kern sind, was uns in der Fülle der von uns getroffenen Entscheidungen ausmacht, nicht entkommen können. Nichts und niemand in diesem Film ist, was er scheint: Der Farmer ein Mörder, der Killer ein Kind („Kid“), daß nicht sehen, nicht schießen und schon gar nicht töten kann, der Sheriff, das Gesetz, ein Sadist, der „Duke of Death“ ein Feigling und die Wahrheit immer nur das, was gerade gilt, wenn wer erzählt.
UNFORGIVEN hätte großartig werden können, wenn Eastwood schließlich nicht doch seinen eher reaktionären, manchmal zynischen Reflexen erlegen wäre: Seine Figur wird zum Racheengel, seine Sprüche sind dann eben doch wieder die des harten Kerls, seine Anweisungen an die Stadt („…und geht gut mit euren Frauen um“) fast schon peinlich und die Schuld, wenn man im engeren Kontext des Films bleibt, liegt letztlich bei den Frauen: Sie sind es, die Rache wollen, die die Spirale der Gewalt vorantreiben. Die Cowboys werden gezeigt, wie sie die Pferde, ihre von Daggett auferlegte „Strafe“, bringen und der junge Kerl, der dann so elendig an einem Bauchschuß verreckt, bringt sogar noch eines extra – die Strafe ist an den Wirt des Bordells zu entrichten, weil schließlich er den Verlust hat; in diesem Punkt ist Eastwood klarsichtig und genau in der Beobachtung von Unterdrückung und einer anderen Art von Sklaverei – nur für die geschändete Frau. Er wird also als einsichtig gezeigt.
So bleibt also der fade Beigeschmack eines guten Films, der sich Mühe gibt und schlußendlich unentschieden bleibt. Hätte Eastwood das Ende anders gestaltet, hätte er die Apokalypse, die Munny über die Stadt bringt, entweder ausgelassen oder weitaus gröber übertrieben – UNFORGIVEN wäre vielleicht das geworden, was die Kritiker so unbedingt in ihm sehen wollten. Ein guter Film bleibt es, ein wirklich großer Film ist es dann eben doch nicht.
[1] Der französische Philosoph Jacques Derrida gilt gemeinhin als Entdecker, Erfinder oder Denker – je nach dem, wie man den Begriff verstehen will – der Dekonstruktion, deren Bewegung und Spuren er in Schlüsseltexten wie DE LA GRAMMATOLOGIE (1967) oder LA VOIX ET LE PHÉNOMÉNE (1967) nachgespürt hat. Wesentlich ist dabei sein Begriff der différance ist dabei wesentlich, da er hier – verkürzt dargestellt – durch die Änderung nur eines Buchstabens (a statt des herkömmlichen e im différence) strukturelle Unmöglichkeiten der Differenzierung und Zuschreibung in Bedeutungsmustern aufzeigt.
[2] „Aufpropfen“ – ein Begriff, den auch Derrida für seine genaueren Erkundungen dekonstruktiver Bewegungen nutzt, um den Bedeutungsüberschuß einzelner Begriffe zu beschreiben.