FAUSTRECHT DER PRÄRIE/MY DARLING CLEMENTINE

Eine Ballade von Amerika, ein stiller großer Gesang

Die Geschichte von Wyatt Earp und seinen Brüdern, deren jüngster den Tod findet, als die Clantons die Herde Vieh rauben, auf die er aufpassen sollte. Die Geschichte von Doc Holliday, der die Dirne Chihuahua und das Pokerspiel liebt. Die Geschichte davon, wie Wyatt Earp und der Doc sich anfreunden und zugleich doch immer Rivalen bleiben, Widersacher. Die Geschichte davon, wie Docs alte Liebe Clementine in die Stadt kommt, in der Wyatt Earp sich zum Marshal hat wählen lassen, um die Mörder seines Bruders zu finden. Die Geschichte davon, wie Doc Clementine wegschicken will, wie Wyatt dies verhindert, wie der Marshal und die Frau aus dem Osten schließlich einander näherkommen und zugleich Doc und die Dirne immer tiefer in Schuld und Schmerz sich verstricken. Die Geschichte, wie Chihuahuas Lüge sie das Leben kostet und auch der Doktor nichts daran ändern kann. Die Geschichte davon, wie der Tod der Dirne die wahren Mörder des jüngsten Earp-Bruders entlarvt und die Geschichte davon, wie die Clantons, allen voran ihr Vater, der „alte Mann“, den letztgültigen Kampf mit ihren Widersachern suchen, damit danach für immer beschlossen sei, wer in dieser Stadt das Sagen hat. Eine Geschichte….ein großer Gesang, eine Ballade…von Amerika.

MY DARLING CLEMENTINE (1946) lautet der Originaltitel dieses vielleicht schönsten Western, den sein Regisseur John Ford gedreht hat. Der Titel – ein alter Folksong, der sich bei genauerem Betrachten als Parodie entpuppt, man lese nur den Text des amerikanischen Originals. Eine Ballade, die auf ketzerische Art und Weise davon erzählt, wie vergänglich, wie brüchig die Liebe ist, davon erzählt, daß sich ein jeder selbst der nächste und jeder andere ersetzbar ist. Ein bitterer Text, gesungen auf eine der süßesten, sehnsuchtsvollsten Melodien, die das ‚American Songbook‘ zu bieten hat. Zweimal wählt John Ford den Titel eines Liedes als Titel eines seiner Western – MY DARLING CLEMENTINE und SHE WORE A YELLOW RIBBON (1949) – und beides sind filmische Poeme, eine Ballade dieser Film, eine Ode der andere, der mittlere Teil der ersten ‚Kavallerie-Trilogie‘. Vom Anfang erzählt der eine, vom Ende und Vergehen (und erneutem Anfang) der andere. Liebe und Tod, Eros und Thanatos spielen nicht nur in beiden Filmen eine enorme Rolle, wenn auch ersteres eher eine verklausulierte, sondern es stehen beide Filme auch zueinander wie These und Antithese: Schwarz-weiß der eine, in flammendem Technicolor der andere; von der Ordnung der Zivilgesellschaft aus sich selbst heraus erzählt der erstere, von der Ordnung der Zivilgesellschaft durch das Militär, bzw. davon, wie das Militär, die Kavallerie, Teil einer Zivilgesellschaft im Werden ist, der spätere; von den inneren Dämonen dieser, von der äußeren Bedrohung jener. Was ist dann die Synthese? Die Synthese ist die Nation selbst, wie sie sich im Gesamtwerk des Regisseurs darstellt. Die Nation und die Mythen, die sie tragen, die die Gesellschaft unterfüttern und mit einer Narration versehen, die es möglich macht, die Schuld zu verarbeiten – die Schuld der Gewalt, in der alle Gemeinschaften gründen, immer. John Ford war ein Mythenerzähler, wie er ein Nationen-Erbauer war. Seine Werke sind Teile eines übergeordneten, eines Gesamt-Werkes, das erst in der Summe als kulturelle Synthese erkennbar wird.

Balance. Dialektik. Dialektik und Balance. MY DARLING CLEMENTINE wurde immer ob seiner Balance bewundert, der außergewöhnlich leicht-flirrenden Statik, die das Gesamtgebilde zusammenhält. Henry Fonda als lebende Klammer, als Symbol dieser Statik, balanciert auf den Hinterbeinen seines Stuhls, hält sich mit tänzelnden Bewegungen seiner Füße am Pfosten der Veranda im Gleichgewicht. Victor Mature setzt das Gegengewicht zu Fondas Leichtigkeit. Seine schweren, melancholisch hängenden Lider sind das Gegenstück zu Fondas klar und fordernd blickenden Augen. Alles wird in der Balance gehalten. Und so verhält sich alles eben wie These und Antithese zueinander: MY DARLING CLEMENTINE, drei Jahre vor seinem ebenso schönen wie bewegenden Pendant entstanden, ist in sich schon ein durch und durch dialektischer Film.

Beginnend beim Titel, der die liebliche Melodie mit einem garstigen Text konterkariert, setzt sich diese Bewegung über die Figuren, die Konstellationen, die Konflikte bis in die Bildgestaltung hinein fort. Vier Brüder und ein abwesender, aber oft erwähnter Vater hier, ein anwesender Vater und dessen vier Söhne dort. Drei erwachsene Männer und ein Heranwachsender hier, ein Haufen Kinder Gebliebene und ein Despot dort. Ein lebenslustiger, harter Arbeit nicht abholder, Marshal hier, ein dem Ostküstenestablishment entstammender Arzt (Zahnarzt) dort. Eine junge Frau, die eigentlich auf die grünen Hügel Virginias gehört hier, eine Dirne, möglicherweise indianischer Abstammung, die den Namen eines Hundes, einer Stadt trägt, dort. Und dann die Verbindungen: Der raue Marshal, seinem Wesen nach ein Rancher, verfällt der Lady, die der Gentleman von der Ostküste verschmäht, der seinerseits der Hure verfallen ist. Jener Dirne, die er nicht retten kann, wie er sich selbst nicht retten kann. Auch Leben und Tod werden also antithetisch aufeinander bezogen: Die die Demokratie als Recht und Ordnung repräsentierenden Earp-Brüder, die sich mit dem Erlös ihrer Herde eine Zukunft aufbauen wollen (und deren bald toter Jüngster eine Menge Pläne für die Zukunft hatte, wie uns die Eröffnungsszene berichtet) und die Clantons, die im Despotismus des Alten all jene Kräfte symbolisieren, die der demokratischen, freiheitlich-rechtsstaatlichen Entfaltung entgegen stehen[1] und nur Tod und Verderbnis bringen. Die aber – auch das sei bedacht – repräsentativ für den kapitalistisch-amerikanischen Hunger nach Mehr stehen: Mehr Land, mehr Vieh, mehr Macht. Ebenso stehen sich auf anderer, persönlicherer Ebene Wyatt Earp als dem Leben zugewandter Mensch, der eine Liebe findet und also die Zukunft, und Doc Holliday, vom Tode gezeichnet und sich romantisch der Todessehnsucht hingebend, gegenüber. Wenn Wyatt, nachdem ihm vermittelt wurde, Holliday sei der Mörder seines Bruders, wie im Wahn in rasendem Ritt die Postkutsche verfolgt, um den Täter endlich zu stellen, werden Kutsche und Reiter im besten Eisenstein’schen Sinne in dialektischer Montage geradezu aufeinander zugetrieben. Dem Wahnsinn Wyatts entspricht die Brutalität, mit der Holliday die rasenden Pferde vor der Kutsche antreibt, mit Steinen beschmeißt, peitscht: schneller, schneller, schneller! Und wie die Postkutsche in STAGECOACH (1939) sich rasend durch das Monument Valley bewegt, auf der Flucht vor den Indianern, so scheint Holliday auf der rasenden Postkutsche nicht nur fliehen zu wollen, er scheint geradezu das Schicksal herausfordern zu wollen. Ohne es zu wissen, flieht er vor Earp und in diesem Unwissen kann er sich ganz seinem eigenen Schmerz, seiner eigenen inneren Raserei hingeben. Hier also ist die Dialektik einmal fast aufgehoben, wenn die Grammatik der Bilder auch genau gegenteiliges suggeriert.

Doch ist MY DARLING CLEMENTINE keineswegs ein hektischer Film. Im Gegenteil. In klassischer John-Ford-Manier nimmt sich das Drehbuch, nehmen sich Kamera und Regie Zeit, all die Entwicklungen und Verstrickungen zu verfolgen und zu beobachten. Wyatt und Clementine auf dem Weg zur Kirche, der Tanz, Pokerpartien, Spielereien zwischen Doc und Chihuahua – es gäbe noch etliche Möglichkeiten der Aufzählung. Dialektik ist Bewegung, Balance Statik. Und auch diese beiden Antipoden stellt Ford geradezu mustergültig aus. Bei aller Bewegung aufeinander zu, kulminierend in der Schießerei am OK Coral, die der Film schließlich weitaus weniger dramatisch inszeniert, als es andere, spätere Verfilmungen des berühmten Shoot-Outs getan haben[2], bleibt der Film doch bemerkenswert ruhig und (auch filmisch) gleichmütig. Das macht ihn lyrisch und entspricht, es wurde bereits erwähnt, einer Ballade. Wie eine Ballade, erzählt auch MY DARLING CLEMENTINE elliptisch. Weit entfernt er sich zwischenzeitlich von seinem eigentlichen Thema – dem Mord an dem jüngsten Earp-Bruder und der Rache der anderen – , kehrt dann aber, gleichsam organisch eingebettet in die Geschichte um Holliday und Chihuahua, elegant dahin zurück und bringt die Dinge auf den Punkt. Einer Ballade gleich, erzählt der Film exemplarisch eine Anekdote aus dem Westen, die aber im Laufe der Dekaden – darauf konnte sich Ford verlassen, der gern behauptete, in seinen frühen Jahren in Hollywood den da schon alten Wyatt Earp selbst erlebt zu haben – Allgemeingültigkeit hinsichtlich der Entwicklung des Landes erlangt hatte. Die originale Schießerei (so sie, worüber die Historiker gern und viel streiten, denn in dieser Form je wirklich stattgefunden hat) datiert auf 1882, was gerade einmal 64 Jahre vor Drehbeginn des Films lag – gemeinhin also nicht mal ein Menschenleben zurück. Earp und die Männer, die mit ihm gekämpft hatten, standen – zumindest in den Erzählungen – anders als die James-Brüder oder Billy the Kid und viele, viele andere „Helden“ der Westernmythen, relativ eindeutig als Vertreter des Gesetzes da. Wenn man Ford also unterstellt, daß es hier um mehr als um das reine Nacherzählen einer Legende, um mehr geht, als die Verfilmung einer Biographie (nominell wird das heute umstrittene, 1931 erschienene Werk von Stuart N. Lake als Vorlage angegeben), dann wird man damit nicht ganz falsch liegen. MY DARLING CLEMENTINE ist ein allegorischer Western. Diese Nation – und auch da hat man es wieder mit Dialektik zu tun – musste sich aus dem Kampf zwischen dem Chaos – dem Bösen aus mythologischer Sicht – und der (zivilisatorischen) Ordnung, dem Guten, synthetisieren, es musste gerungen werden, damit am Ende das Recht, der Rechtsstaat eingesetzt und durchgesetzt werden konnten. Ein Film wie MY DARLING CLEMENTINE erzählt eben auch davon, daß dies keineswegs eine ausgemachte Sache gewesen ist. Es hätten sich auf lange Sicht durchaus Männer wie der alte Clanton durchsetzen können – und Viele werden womöglich sagen, daß es genau so gekommen ist.

Was den Film in Fords Werk u.a. so außergewöhnlich macht – er markiert eine Art Wasserscheide in dessen Oeuvre. In Stil, Ton und seinem zutiefst romantischen Grundthema – man sollte nicht vergessen, daß wir es hier, nicht nur der Originaltitel spricht beredt davon, im Kern mit einer doppelten Liebesgeschichte zu tun haben – entspricht er noch vollkommen Fords „idealistischen“ Filmen, also jenen Werken, die wie STAGECOACH, YOUNG MR. LINCOLN oder DRUMS ALONG THE MOHAWK (alle 1939) ohne Bruch davon erzählen, wie Amerika zu dem wurde, was es ist, wie Amerika groß wurde. Schon seine Verfilmung des John-Steinbeck-Klassikers THE GRAPES OF WRATH (1940) hatte deutliche Bruchstellen in der reinen Verherrlichung amerikanischer Werte aufgewiesen, der ein Jahr nach CLEMENTINE entstandene FORT APACHE (1947), gemeinhin als erster Teil der ‚Kavallerie-Trilogie‘ betrachtet, geht weiter und berichtet von Hybris und Großmannssucht auch bei jenen, denen wir vertrauen, die eigentlich Hüter der Gesellschaft sein sollen. Und obwohl Ford sowohl in SHE WORE A YELLOW RIBBON als auch RIO GRANDE (1950) die Kavallerie – also die Armee – ohne Zweifel als exekutive Organisation, Institution und Ordnungsmacht, als integraler wie intrinsischen Teil des Gründungsmythos der Nation darstellt, schleichen sich auch dort bereits Melancholie, Sentiment und ein wenig Nostalgie ein, spürt der aufmerksame Betrachter, daß der Regisseur nicht mehr so unumwunden überzeugt von der Großartigkeit seiner Heimat ist, wie er es einmal war.

So steht MY DARLING CLEMENTINE nicht nur als These zu SHE WORE A YELLOW RIBBON, sondern auch als Antithese zu STAGECOACH. Klassische Dialektik: These wird zu Antithese wird zu Synthese. Und sicherlich ist MY DARLING CLEMENTINE eine Synthese jener Erfahrungen, die John Ford während des Krieges in der Armee machen musste. MY DARLING CLEMENTINE ist Fords erster Film nach dem Krieg gewesen. Kennt man seine Kriegsfilme – THE BATTLE OF MIDWAY (1942) und THEY WERE EXPENDABLE (1945) – weiß man, daß er ebenso schockiert über den Krieg gewesen ist, wie er sich einer patriotischen Pflicht, unterstützend zu wirken, bewußt war. Doch von dem Schock und der Überzeugung, für eine gerechte Sache gekämpft und getötet zu haben, ist auch MY DARLING CLEMENTINE durchwirkt. Wenn man dem Film eine „neue Ernsthaftigkeit“ attestieren will, dann hat dies ganz sicher auch mit den Erfahrungen des Krieges zu tun. Wie bereits beschrieben, entspricht der Film stilistisch noch durchaus den idealistischen Filmen seines Regisseurs und wir spüren, nein, wir wissen (eben auch wegen der historischen Verbürgtheit), daß Wyatt Earp und seine Männer die Clantons ausschalten werden – doch ist eben die Ambivalenz, der Kampf um Gut und Böse, hier bereits in die Figuren selbst verlegt. Das natürlich auch, um die Spannung zu steigern.

Weder Wyatt Earp noch Doc Holliday – die Antipoden des Films – sind, was sie scheinen. Earp ist nicht der Held, den man zunächst in ihm sehen will, allein schon, weil Henry Fonda die Figur darstellt. Er ist ein Mann, der seine Zeit für die Gemeinschaft bereits geleistet hat, als Sheriff in Dodge City. Rache ist sein Motiv, das ihn den Marshal-Job annehmen läßt. Und auch ein Mann wie Doc Holliday ist längst nicht eindeutig zuzuordnen. In im klassischen Western der Serials deutlich dem ‚baddie‘, dem Bösewicht, zugeschriebenen Schwarz gekleidet, stellt Holliday einen Spieler dar, brutal auch zu Frauen, von der eigenen Großartigkeit ebenso angetan wie angekotzt. Spieler sind – ebenfalls klassisch – immer auf der Grenze zwischen der bürgerlichen Welt der Tugenden (was sie sich wie Gentlemen kleiden läßt: will der Spieler seriös wirken, braucht er unbedingt das Pastiche des Herrn) und der Halbwelt verrauchter Hinterzimmer und des Rotlichts beheimatet. Holliday aber verkörpert mit seinem bildungsbürgerlichen Hintergrund zugleich den (einst juvenilen) Rebell. Er rebelliert gegen die Helle der Welt, aus der er stammt. Holliday und Chihuahua sind Wesen der Nacht, selbstausbeuterisch und auf den eigenen Vorteil bedacht. Holliday hat das erkannt und er hat erkannt, daß Clementine Besseres verdient hat als das, was er zu bieten wüsste. Und Holliday erkennt auch, daß möglicherweise Earp der Mann ist, der Clementine gerecht wird. MY DARLING CLEMENTINE ist in dieser Überkreuzung auch ein zutiefst demokratischer Film: Der „einfache“ Rancher, der Earp im Grunde ist, kann die gebildete Lady freien, der Arzt aus besseren Kreisen kann mit der Dirne glücklich werden. Dem Glück der beiden steht nicht ihre Klasse im Weg (zumindest nicht in erster Linie), es ist das Dunkle in ihnen selbst. Nicht von ungefähr fordert Doc Clementine nachts auf, die Stadt zu verlassen und niemals mehr zurück zu kehren. Es ist seine Domäne, die Nacht, und in der Nacht kann er auch den Ort, die Stadt für sich beanspruchen. Die Nacht verleiht ihm geradezu Autorität und Macht. Doch dürfen wir keinesfalls annehmen, daß Chihuahua nur eine Art Lückenbüßerin sei. Hollidays Liebe zu ihr ist echt. Seine Versuche, sie zu retten, sind verzweifelt, seine Erleichterung, wenn es zunächst so aussieht, als könne es gelingen, ist tief. Der immer umstrittene Victor Mature verleiht dem hervorragend Ausdruck, gerade in seiner scheinbaren Lethargie. Holiday versinkt in tiefem Wissen um die Vergänglichkeit und darob Nutzlosigkeit allen Tuns und Seins und in Anbetracht der eigenen schwindenden Kräfte in Melancholie. Nichts kann diesen Mann retten, sein Leben wird nur zusehends schwerer – und das Auftauchen einer Frau wie Clementine macht sein Leben allemal schwerer.

Schwere ist es auch, die dem Film eine weitere, düstere lyrische Note gibt, denn Doc Holliday in dieser Inkarnation umweht von allem Anfang an ein Hauch des Todes. Seine Augen scheinen nie eine andere Person zu fokussieren, sondern immer schon auf ein Jenseitiges gerichtet. Der historische Doc Holliday überlebte die Schießerei, Fords/Matures Holliday muß sterben. Und er stirbt nicht den Tod eines Helden. Der Husten, der ihn während des Films immer wieder schüttelt, ja, zu zerreißen droht, ist es auch hier, der ihn im entscheidenden Moment verrät und dann am Schießen hindert. Er wird ein Opfer der Krankheit, womit dieser Holliday sein historisches Vorbild wieder einholt. Scheinbar stark, scheinbar unerschütterlich, sich seinem Schicksal ergebend, stirbt dieser Mann, ein Mann der Bildung und des Wortes, wie wir erfahren, einen nahezu jämmerlichen Tod. Jämmerlich nach den Regeln des Genres, da Holliday ein Mann der Tat war/ist, ein Mann, wollte man meinen, der sein Ende selbst bestimmt. In diesen Momenten kommt einmal mehr Fords Wille zum Wandel zum Ausdruck und einmal mehr die Dialektik dieses Werkes, auch in seinem Verhältnis zu Fords anderen Western. Die Lebensläufe passen sich nicht (mehr) dem Mythos an, das Schicksal ist nicht gnädig, die Zeit geht über diese Männer, die einmal Helden waren, hinweg.

Am Ende des Films entscheidet sich John Ford: So, wie er Holliday und Chihuahua zum Tode bringt, so bringt er den leicht verklemmten Earp und die zurückhaltend-demütige Clementine zusammen, allerdings nicht als Paar. Noch nicht? Earp reitet davon und kündigt an, wieder mal hier vorbei zu schauen. So haben wir es mit einem Ende zu tun, das die Zukunft offen und damit grundlegend zuläßt. Vielleicht werden diese beiden zusammenkommen, vielleicht werden sie sich finden und erkennen. Vielleicht werden sie das ‚neue Jerusalem‘ erbauen. Sie sind zumindest ein Versprechen auf die Zukunft. Die Zukunft des Landes, der Demokratie, einer zivilisierten Gesellschaft. Allerdings auch einer Gesellschaft – und an dieser Stelle müsste man Walter Brennans brillant dargestellten ‚Old Man‘ Clanton einer Generalanalyse unterziehen – die vorangetrieben wird durch Gier. Und Gewalt. Wenn die Clantons die These darstellen, daß es eben die wildesten unter den Wilden brauchte, um dieses Land überhaupt zu erobern, urbar und nutzbar zu machen, dann braucht es antithetisch Männer wie Earp, das einmal besiedelte Land auch der Gesellschaft zuzuführen.

Und Holliday? Wie MY DARLING CLEMENTINE ein Scharnier zwischen Fords idealistischen und seinen eher kritischen späten Western darstellt, so stellen Holliday und Chihuahua das Scharnier zwischen dem „wilden“ Westen und dem „zivilisierten“ Westen dar. Und man weiß nicht recht, auf welcher Seite sie sich wohler fühlen. Eine Nation, geboren aus der Sünde der Gewalt, gewaschen im Blut des Lamms, gereinigt von seinen Sünden. Diese Nation, und das weiß Ford, wird immer in dem Spannungsverhältnis zwischen ihren hellen und ihren dunklen Seiten stehen. Das hatte nicht zuletzt der zwar „gerechte“ Krieg gegen Hitlerdeutschland und das autoritäre Japan, der mit einem fürchterlichen Verbrechen der Amerikaner endete, bewiesen. Die Clantons stehen durchaus für diese ersten Männer, die sich dem Land gestellt haben und es eroberten. Doch bang stellt sich die Frage, inwiefern diese Männer genau jener Tradition der Gewalt, des Todeskultes und der autoritären Herrschaft entsprachen, die man im realen Leben in Europa eben besiegt hatte – den Faschisten. Wenn ein Mann wie Holliday, ein gebildeter Mann, ein Mann des Wortes, ein Shakespeare-Kenner, dessen tragischem Blick 2000 Jahre Kulturgeschichte, 2000 Jahre Wissen um die Sinnlosigkeit allen Seins eingeschrieben sind, sich mit den faschistoiden Tendenzen in dieser Kleinstadt nicht nur abfinden, sondern sie sich geradezu zu eigen und damit nutzbar machen kann – war der reale Kampf gegen die Faschisten dann vielleicht vollkommen umsonst? Es braucht Earp ebenso wie es Holliday braucht, um genau diese Frage subtextuell abhandeln zu können. Die Clantons – Holliday – Earp: dies ist das Spannungsverhältnis, in dem Fragen wie die gerade gestellte aufbereitet werden – und zwar IN Amerika, nicht in Europa oder im Pazifik. In Amerika. Wenn wir die Hoffnung aufgeben, daß Wyatt Earp – als Idee – in der Lage ist, auch dort Zivilisation zu bringen, wo eigentlich die reine Barbarei herrscht, dann, so scheint diese Ballade uns zuzuraunen – durchaus bitter und ketzerisch – , dann sind wir verloren. Verlorene.

MY DARLING CLEMENTINE ist ein perfekt durchkomponierter Film, es ist ein großer Gesang vom Westen, mehr aber noch ist es ein großer Gesang von Amerika. Einem Land, daß 1946 als Sieger der Geschichte dastand und dennoch Rechenschaft ablegen musste über die eigene Befindlichkeit. Wie die Film Noirs, deren im engeren Sinne Hauptwerke in jenen Nachkriegsjahren entstanden, ist MY DARLING CLEMENTINE in tiefem Schatten und grellem Licht gehalten, wodurch die Kontraste – These und Antithese – noch einmal extra deutlich hervortreten. Man kann der Gewinner sein und zugleich alles verlieren. Selten trat diese Erkenntnis so lyrisch, poetisch und auch subtil in das gleißende Licht der sonntäglichen Mittagssonne. John Ford stellt ein Amerika aus, das voller Schönheit ist und zugleich, in seinen Schatten, die schlimmsten Abgründe und Ängste verbirgt. Eine für diesen Mann sicherlich bittere Erkenntnis.

 

[1]Der Film wurde 1946 gedreht, der Krieg, der als ein „gerechter“ wahrgenommen worden war, an dem Ford als Aufnahmeleiter einer Kamera-Unit bei diversen militärischen Operationen teilgenommen hatte, der Krieg, in dem man den europäischen Faschismus als ein System des Todes niedergerungen hatte, dieser Krieg war gerade erst vorüber.

[2]Namentlich seien hier zumindest die beiden Filme erwähnt, die allein John Sturges zum Thema vorgelegt hat: GUNFIGHT AT THE O.K. CORRAL (1957); HOUR OF THE GUN (1967).

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