GESAMMELTE WERKE/SAMLADE VERK

Ein erstaunlich reifer Debutroman aus Schweden

Eben noch hatte man die 1200 Seiten von Johan Harstads MAX, MISCHA UND DIE TETOFFENSIVE (2015/Dt. 2019) durchgerackert, da kommt schon der nächste Fast-Tausend-Seiten-Klopper aus Skandinavien. Diesmal ist es GESAMMELTE WERKE (SAMLADE VERK, 2020; Dt. 2021) der Schwedin Lydia Sandgren. Beide teilen nicht nur die Überlänge, sondern auch die grundlegende Idee, einer Freundesgruppe über Jahre und Jahrzehnte zu folgen, sowie die Auseinandersetzung mit Kunst. War es in Harstads Werk das Theater, sind es hier Malerei und das Schreiben, die verhandelt werden. Vielleicht liegt es an den langen Wintern im Norden, daß solche Mammutwerke nicht nur geschrieben, sondern auch gelesen werden. In ihrer Heimat wurde Sandgrens Debut gleich mit dem renommierten August-Preis ausgezeichnet. Zehn Jahre hat die 1987 geborene Autorin – heute praktizierende Psychotherapeutin in Göteborg – an ihrem Erstling geschrieben. Eine lange Zeitspanne, in der viel geschehen, man als Schriftstellerin den Überblick verlieren, sich selbst stark verändern oder auch einfach das Interesse verlieren kann. Gerade bei der gern als Vergleich herangezogenen Amerikanerin Donna Tartt, die sich mit einem neuen Werk auch gern mal eine Dekade Zeit lässt, konnte man anhand von DER DISTELFINK (2013/Dt. 2014) sehen, daß das nicht immer klappt, daß Kohärenz und innere Stimmigkeit verloren gehen können bei einer solch langen Schreibphase.

Doch weder die Schreibdauer noch der Umfang – welchen Autoren ist es schon gegeben, wirklich mehr als 500 Seiten zu schreiben und dabei nicht doch hier und da an den Mühen der Ebene zu scheitern? – haben diesem Werk etwas wirklich Nachteiliges anhaben können. Sicher, wer keine „dicken“ Bücher mag, der sollte hiervon die Finger lassen. Wer aber Lust auf Romane hat, in denen man wohnen kann, die einen wirklich mitnehmen und für Stunden in andere Welten, andere Leben und andere Gedanken entführen können, der ist hier richtig.

Martin Berg, seines Zeichens Verleger, geht auf die fünfzig zu und fragt sich, ob das vielleicht alles nichts war in all den letzten Jahren. Als junger Mann davon überzeugt, den großen Roman in sich zu tragen und doch immer wieder an etlichen Anfängen, Skizzen und Entwürfen gescheitert, haben er und sein Jugendfreund Per einen Literaturverlag gegründet, der Martin, seinen Kindern und seiner Frau Cecilia ein hinreichend auskömmliches Leben sichert. Martins bester Freund ist Gustav. Der – als Jugendlicher ein selbsternannter Dandy und Verweigerer – ergreift seine Chance beim Schopfe und entwickelt sich im Laufe der Jahre, trotz ständiger Selbstzweifel, zu einem bedeutenden schwedischen Maler. Als Martin – immer auf der Suche nach neuen literarischen Sensationen, ohne dabei eine gewisse Qualität zu vernachlässigen – seiner Tochter Rakel den Roman eines jungen deutschen Autors überreicht, den die der deutschen Sprache leidlich mächtige Tochter bitte beurteilen solle, geschieht Ungeheuerliches. Denn Cecilia, die in dem Dreigespann Martin – Gustav – Cecilia ein wesentlicher Bestandteil war, über Jahre immer wieder Modell für Gustavs Portrait- und Figurenmalerei, ist kurz nach der Geburt von Rakels jüngerem Bruder Elis einfach verschwunden. Das ist nun fast fünfzehn Jahre her. Und nun taucht in dem Roman des Deutschen eine Frauenfigur auf, die erstaunliche Ähnlichkeit mit der verschwundenen Mutter aufweist. Rakel begibt sich auf eine zunächst literarische, dann sehr reale Suche…

Auf zwei Zeitebenen erzählt Sandgren ihre Geschichte. Dabei driften ihre Figuren oft und gern in Erinnerungen ab, werden hier und da Lücken in der Erzählung gefüllt, wird manches nachgereicht, was im Erzählfluß verloren zu gehen drohte. Doch entsteht nie der Eindruck, hier würde gestückelt, künstlich Spannung erzeugt oder gar der Leser hinters Licht geführt, zwecks späterer Aha-Erlebnisse. Viel mehr gelingt es der Autorin mit erstaunlicher Souveränität, ihr Material zu beherrschen, stringent zu ordnen, dem Leser aber auch immer genügend Stoff anzubieten – ob Handlung oder Reflektion – , um bei der Stange, um neugierig zu bleiben. Gelegentlich erschließt sich nicht unbedingt, wann die Autorin die Zeitsprünge ansetzt, sind die Zeitebenen doch nur oberflächlich aufeinander bezogen. Eher geht es hier darum, schreibend zu ergründen, wie wir werden, was wir sind und wohin wir gehen von unseren Aufbrüchen aus, wie wir uns entwickeln, wie einige – Gustav bspw. – ihrer Berufung folgen und bereit sind, dafür auch einen Preis zu entrichten, andere – Martin bspw. – sich letztlich vom eigenen Leben überwältigen lassen und doch in ihren nun alltäglichen Aufgaben aufgehen: Die Kinder versorgen, einem Beruf nachgehen, den Alltag bewältigen. Und einige werden zwischen den eigenen (intellektuellen) Ansprüchen und dem Leben, seinen manchmal unerwarteten Brüchen und Wendungen, schlicht zerrieben. Das passiert Cecilia.

Sie ist das heimliche Epizentrum dieses Romans. Eine starke und zugleich schwache Frauenfigur, ein Mysterium, nicht fassbar, nicht für Martin, ihren Gatten, nicht für Gustav, der es in seinen Bildern wieder und wieder versucht, nicht für ihre Freundinnen und Bewunderer und letztlich auch für den Leser nicht. Cecilia bleibt eine Art Geistererscheinung, durchscheinbar, eine Lichtgestalt einerseits, eine Schimäre andererseits. Sie verfügt über eine ungeheure geistige Kraft, kommt aber mit den Ansprüchen des Lebens – der Liebe zu einem Kind bspw. – kaum zurecht. Sie ist der McGuffin, die Leerstelle, um die alles hier kreist. Allerdings nicht bei Martin, der das Verschwinden seiner Frau seltsam gleichmütig hingenommen zu haben scheint und nach außen hin kaum mitgenommen wirkt. Und auch dem Leser erschließt sich erst nach und nach, weshalb dieser Mann, der manchmal ein wenig wie ein zerstreuter Professor wirkt, reagiert, wie er reagiert. Es ist mutig von Sandgren, nicht alles zu erklären, Lücken zu lassen dem Leser zu vertrauen, ihm eigene Schlüsse zuzumuten. Und sie begeht nicht den Fehler – und es wäre ein Fehler gewesen! – dem Leser ein Ende zu bieten, das ihn befriedigt und erlöst zurücklässt. Im Gegenteil.

GESAMMELTE WERKE ist ein Werk für den Winter, für lange Abende und Sonntagnachmittage, die es erlauben, auch mal ein paar Stunden am Stück in einen Roman einzutauchen. Es ist ein Roman, der durchaus unterhält, geprägt von großer Zuneigung zu all diesen Figuren, es ist ein spannendes Buch, weil es dem Leser sehr, sehr lebensechte Protagonisten präsentiert, mit Ecken und Kanten, Macken und Eigenarten und doch jedem sein Recht zukommen lässt. Ein Buch, das aber auch von durchaus tiefgründigen Gedanken zeugt, von Kenntnis der Conditio Humana, vom Wissen um unsere Fehlbarkeiten – und von einem tiefen Verständnis der Literatur und dem Wechselspiel zwischen Leser und Text. Denn natürlich reflektiert Martin Berg viel und gern über die Objekte seines professionellen Lebens, über Bücher. Und so reflektiert dieser Roman durchaus auch immer wieder sich selbst. Ein erstaunliches Debut, ein erstaunlicher Roman, sicherlich keine Weltliteratur (die es auch nicht sein will), aber dennoch ein großer Wurf.

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