TIEFE WASSER/DEEP WATER
Einbrüche des Surrealen in den Alltag
Victor Van Allen, kurz ‚Vic‘, lebt trotz der Eskapaden seiner Frau, Melinda, ein vergleichsweise normales und beschauliches Kleinstadtleben abseits der großen Metropolen und all dem Gedröhn und der Hektik, die dort herrschen. Vic ist ein Privatier, dem es aufgrund des Reichtums seiner Familie vergönnt ist, einen kleinen, exquisiten Verlag zu betreiben, in dem die Bücher per Hand hergestellt werden und die Auflagen verschwindend klein sind. Vic liebt es zu kochen, er züchtet Schnecken und beobachtet deren Liebesspiel, das so anders und entfernt von all den menschlichen Irrungen und Wirrungen scheint, er gärtnert mit Hingabe und großem Können und zeichnet sich nicht nur durch seine ausgesprochen guten Manieren, seine liebenswürdige Art und seine nie angeberisch zur Schau gestellte Bildung aus, sondern auch durch seinen liebevollen Umgang mit seiner Tochter. Einzige Betrübnis seines Lebens ist seine Frau, die er liebt, verehrt und auch anhimmelt. Sie hält sich Liebhaber, sie trinkt, sie legt bei öffentlichen Anlässen wie den zahlreichen Partys im Bekannten- und Freundeskreis immer wieder ein unglaublich schlechtes Benehmen an den Tag und niemand, der Vic nahesteht, kann nachvollziehen, wieso der all die Demütigungen, denen er immer wieder ausgesetzt wird, stoisch erträgt. Warum er sich nicht scheiden ließe, will sein bester Freund immer wieder von ihm wissen. Und dessen Frau versichert Vic, daß im Falle eines Falles alle, alle, alle auf seiner Seite stünden. Doch Vic schmettert Fragen, Vorschläge und gutgemeinten Rat immer wieder ab, mehr noch: Er verteidigt Melinda gegen die Anwürfe der Freunde. Er versucht, sich selbst gegenüber Rechenschaft über sein Verhalten abzulegen, ist aber grundlegend der Meinung, daß er es Melinda schuldig sei, zu ihr zu halten, ihre „Zustände“ hätten sich noch immer irgendwann gelegt. Und doch: Während einer Party, die unter anderem gemeinsames Schwimmen im Pool der Gastgeber vorsieht, übermannt es Vic und er ertränkt den aktuellen Verehrer seiner Gemahlin. Fortan muß er mit ihren dauernden Anschuldigungen leben, damit, daß sie ihn überall im Städtchen anschwärzt, ein Mörder zu sein. Natürlich glaubt ihr niemand derer, die Vic kennen, aber es gibt durchaus offene Ohren für Melindas giftige Tiraden. Vic sieht sich zunehmend in einer Zwickmühle aus Loyalität, verletzter Eitelkeit und dem Bemühen um unbedingte Normalität…
DEEP WATER , erschienen 1957, war Patricia Highsmith´ fünfter Roman. Sie hatte enormen Erfolg gehabt mit STRANGERS ON A TRAIN und auch ihr ein Jahr zuvor erschienener Roman THE TALENTED MR. RIPLEY, der die Figur des Tom Ripley eingeführt hatte, war gut aufgenommen worden. Doch wollte sich die Schriftstellerin nicht auf die Zeichnung rein amoralischer Figuren festlegen und entwarf für den vorliegenden Roman ein vollkommen anderes Setting mit komplett anderen Voraussetzungen. Ein freundlicher Mann, der sich müht, seiner vielleicht etwas exzentrischen Frau gerecht zu werden, die ihn zunehemend öffentlich demütigt, bis dieser Mann schließlich in einem entscheidenden Moment die Contenance verliert. Seltsamerweise lautete das einhellige Urteil der Literaturkritik: Schizophrenie!
Vic Van Allen, dieser freundliche Mann, dieser liebende Vater, dieser verständnisvolle Geist, beherbergt eben zwei Seelen in seiner Brust, bei der die eine nicht weiß, wie sehr die andere leidet. Verdrängung!, ist also die anschließende Diagnose. Wer handelt, wie Vic es tut, der verdrängt den ungeheuren Schmerz, der ihm zugefügt wird. Dem kann man zustimmen und sich ansonsten an der strengen und höchst diszipliniert ausgeführten Form erfreuen, die die bei Veröffentlichung 35jährige Autorin wählte. Doch fällt dem Leser schnell auf, daß wir nie ein Begründung für Melindas Benehmen bekommen, kein Motiv sehen, nicht verstehen, aus welchen Quellen der offensichtliche Hass, den sie ihrem Gatten gegenüber empfindet, sich speist. Ein Zeichen dafür, wie zerrüttet Vics Geist bereits ist? Oder vielmehr ein gar nicht mal so subtiler Hinweis der Autorin auf ihre nie wirklich bestrittene Misogynie, die sich auch aus zurückgewiesener Liebe ihrer Geschlechtsgenossinnen erklärt? Es gibt leise Hinweise und Anzeichen für früheres Fehlverhalten seitens Vics aber nichts wird konkretisiert, nichts auch nur so angedeutet, daß es wirklichen Interpretationsspielraum erlaubte. Melinda wird von der Autorin extrem unsympathisch gezeichnet. Sie ist herrsch- und rachsüchtig, sie trinkt und benimmt sich dann wie eine Schlampe, ganz offen fügt sie ihrem Ehemann wiederholt Demütigungen zu und verhöhnt ihn dann dafür. Mögen darin versteckte Hinweise auf eine weibliche Psychologie liegen, die im Widerstreit liegt zwischen moralischem Ermessen, Wut auf ein zu enges Leben, der Anziehung einer gewissen Männlichkeit und dem inneren Flehen danach wahr- und ernstgenommen zu werden – so, wie Highsmith die Figur anlegt und ausarbeitet, bleibt nichts mehr, das uns mit ihr fühlen ließe.
Im Gegenteil – im Verhältnis Melindas zur Umwelt weht ein Hauch „Ripley“ durch den Roman: Wie Marge ist sie die einzige, die die Wahrheit erkennt, sie ausspricht und wieder und wieder darauf hinweist, was es mit Vic und seiner Gutmütigkeit auf sich hat, es hört ihr aber niemand zu. Das hat verschiedene Gründe, auch, daß Melinda eh nicht wohl gelitten ist, aber auch ihre wiederholte Lügerei unter Alkoholeinfluß. Anders als in Marges Fall, der man schlimmstenfalls ihre Naivität zum Vorwurf machen kann, wird Melinda aber eben als durchtrieben und dementsprechend unangenehm charakterisiert. Hinzu kommt, daß es sich weitaus angenehmer in der Gesellschaft des kultivierten Vic aufhält, denn in der vulgären Atmosphäre, die Melinda kreiert. Subtil gelingt es Highsmith so, den Leser zu manipulieren und zugleich ein gesellschaftliches Phänomen zu in Figuren und Handlung spiegeln. Denn obwohl wir wissen, daß Vic einmal die Nerven verloren und wirklich getötet hat, bleibt er uns derart sympathisch, daß auch wir auf seiner Seite stehen und anfangen, Melindas Anschuldigungen in Abrede zu stellen, was in Widerspruch zur auktorialen Erzählhaltung des Buches steht. Zugleich spiegelt diese Ignoranz ihr gegenüber natürlich eine gesellschaftliche Haltung zu einer Frau, die sich das Recht herausnimmt, sich Liebhaber zu suchen, zu trinken und dreckige Witze zu reißen, wie es einige der wohlsituierten Herren um sie herum im Country Club die ganze Zeit tun. So wenig sympathisch Highsmith Melinda auch beschreibt, das Dilemma in dem diese steckt, erkennt die Autorin nur allzu genau, eben weil sie es aus eigener Erfahrung kennt.
So unglaubwürdig Melinda erscheinen mag, wie Ripley gelingt es Vic, die Menschen um sich herum zu täuschen. Anders jedoch als Ripley – und das widerspricht auch der Schizophrenie-These – muß Vic sich aber nicht verstellen, ja, man kann in seinem Fall nicht einmal wirklich davon sprechen, daß er seine Umwelt täuscht. Im Kontext des Buches bleibt er vollkommen er selber. Niemand traut ihm einen Mord zu und wenn, würden wahrscheinlich die meisten Männer seiner Umgebung – scherzhaft natürlich – behaupten, sie verstünden sein Handeln. Worin sich Vic und sein literarischer Vorgänger allerdings wieder ähneln, ist die Tatsache, daß sie ab dem Moment, da sie von der Norm abweichen, Gefangene ihres Verbrechens sind und nahezu jede Handlung danach eine Folge ihrer Tat ist. Das Wesen des Verbrechens fasziniert die Schriftstellerin Highsmith seit jeher. Es ist auch diese Faszination, die sie zum Schreiben treibt. Aber welch ein Schreiben!
Man muß noch einmal die schon erwähnte Disziplin hervorheben, mit der es Highsmith gelingt, uns das Kleinstadtleben des Vic Van Allen zu portraitieren; ein Leben, wie es idyllischer kaum sein könnte. Zumindest vordergründig. Mit scheinbar leichter Hand skizziert sie seine diversen Hobbys und tagtäglichen Verrichtungen, zeigt ihn in oft zwar belanglosem, jedoch immer freundlichem Austausch mit Nachbarn und Kollegen und vor allem in von Highsmith liebevoll und genau ausgearbeiteten Szenen zwischen ihm und seiner Tochter Trixie. Sie wirken authentisch und zugleich wie aus einem Märchen oder einem Tagtraum entliehen. Dieser Mann ist kein Mörder, dieser Mensch leidet doch nicht unter Schizophrenie! Oder doch? Wohlhabend, gesegnet mit Bildung, Pli und Stil, ist dieser so freundliche und hilfsbereite Mensch eben doch nicht vor dem gefeit, was Elias Canetti einst als „Masse in uns selbst“ bezeichnete. Sei es ein Affekt, der dann kühl, sachlich und ohne sonderliche Dramatik geschildert würde, sei es ein kalkulierter Mord, der nicht weniger kühl, sachlich und ohne sonderliche Dramatik geschildert würde – Vic ist danach schnell der gleiche wie zuvor. Wenn ihm die Situation schließlich entgleitet, wird Vics Umgebung als mindestens ebenbürtig daran beteiligt geschildert, wie er selbst. Die Dinge geraten ins Rutschen, und die Situation spitzt sich zu, was aber nicht mehr in Vics Kontrolle liegt.
Patricia Highsmith hatte schon sehr früh einen sehr hohen Grad an schriftstellerischer Autorität, sie war eine harte Arbeiterin am geschriebenen Wort. DEEP WATER mag vollendet anmuten, man merkt aber doch die strenge Konstruktion. Die Autorin folgt dem Programm, Vics außerordentlichen Charakter in seiner alltäglichen Routine zu verdeutlichen, dabei immer wieder Einbrüche des Surrealen durch Melindas Ausfälle zu inszenieren und die Schraube dabei so anzuziehen, daß der Leser zwangsläufig an den Punkt gelangt, sich zu fragen, wann und vor allem wie Vic denn eigentlich noch reagieren will? Das Highsmith´sche Räderwerk dabei zu beobachten, wie es läuft und aus einem fast banalen und millionenfach vorkommenden Ehezwist in eine unaufhaltsame Tragödie abdriftet, macht natürlich – wie immer – einfach Spaß. Hier ist es vielleicht ein wenig zu strukturiert, wirkt zu konstruiert, aber wenn dies eine Kritik ist, dann ist es eine Kritik auf sehr hohem Niveau. DEEP WATER reiht sich fast nahtlos ein in die Riege jener Beschreibungen seelischer Zerrüttung, die Patricia Highsmith so zahlreich vorgelegt hat.