LA OCULTA
Héctor Abad erzählt eine epische Familiengeschichte Südamerikas
LA OCULTA – so der Name der titelgebenden Finca in Héctor Abads Roman von 2014 (Deutsch 2016) – ist ein Ort im Verborgenen, wie es der Begriff schon andeutet. Verborgen, aber natürlich schwingt auch das „Okkulte“ mit, also etwas Magisches. Und genau das ist dieser Ort – im positiven wie im negativen Sinne – für die, die ihn seit Generationen bewohnen.
Dreistimmig erzählt Abad von der historischen wie persönlichen Geschichte der Familie Ángel, in deren Besitz sich die Finca und das sie umgebende Land befindet. Da ist einmal Antonio, der in New York lebt und dort eine freiere Gesellschaft findet, als im katholischen Kolumbien, aus dem er stammt. Er ist homosexuell, in einer engen Beziehung zu Jon, er ist ein Geiger in einem großen Orchester und trotz seiner Distanz zur Heimat fast obsessiv mit der Geschichte La Ocultas beschäftigt. Dann gibt es Pilar, die ältere Schwester, das älteste von drei Geschwistern, die seit Jahren mit ihrem Mann Alberto auf La Oculta lebt und am stärksten mit dem Haus und dem Land verbunden ist. Und schließlich Eva, die ein gespaltenes Verhältnis zu der Finca hat, da sie dort einst fast Opfer eines Anschlags der Paramilitärs geworden wäre.
Abwechselnd und in individuell erkennbaren Stimmen, lässt Abad die drei Geschwister nun berichten.
Antonio erzählt die Generationen zurückreichende Historie der Provinz Antioquia, in der La Oculta liegt. Wie Siedler einst hierher aufbrachen und in einer Art sozialistisch-reformistischen Kommune eine freie Gemeinde aufzubauen trachteten, in der es keine Sklaven, keine Leibeigenen und keine Unterdrückung der Indios gibt; in der das Land zwar nicht gleich, jedoch nach Leistung und Talent, nicht nach Geburtsrecht oder Stand verteilt wird; wo der EInfluß der Kirche zwar nicht vollends zurückgedrängt, jedoch stark eingehegt wird. Er erzählt, wie es der Siedlung erging, wie sich das Land im Laufe von ca. 160 Jahren durch die Erbschaftsfälle zwischen den Generationen immer weiter aufteilte und wie die Familie Ángel eben im Besitz der Finca und der Hektar darum herum blieb.
Pilar hat einen weitaus persönlicheren Zugang zum Thema. Sie erzählt von den innerfamiliären Verwerfungen und auch der Härte, die in der Familie herrschte. Wie ihr Vater einst darum bat, das Land niemals zu verkaufen, unter keinen Umständen, nicht einmal, als Pilars Sohn von Guerilleros entführt und für Monate verschleppt wird und sie und ihr Mann alles versuchen, um das Lösegeld zusammen zu bekommen. Sie berichtet von dem Riss, der zwischen ihr – der mit Abstand konservativsten Vertreterin ihrer Generation – und ihren Geschwistern verläuft, wie sie aber immer bemüht ist und war, die Familie irgendwie zusammenzuhalten. Auch nach dem Tod der Mutter – der Vater ist da schon lang verstorben – die Traditionen und Rituale erfüllen will, die das Leben auf La Oculta bestimmen. Eva und auch Pilar leben eigentlich in Medellin, sie haben Ausbildungen und Studiengänge absolviert, daß Pilar einst zurück auf das Land gezogen ist, das die Familie die vergangene Dekaden eher als Urlaubs- und Rückzugsort betrachtet hat, liegt eher an ihren Schulden und dem Wunsch, ein einfaches Leben zu führen als daran, daß sie die Stadt meidet.
Eva schließlich ist die Ausbrecherin. Sie hat sich den Traditionen der Familie entzogen, führt ein aufregendes Liebesleben, war dreimal verheiratet und ist doch nie wirklich glücklich. Sie hat ihre Vorlieben in der Kultur, in der Literatur und dem Theater, ist aber – auch aufgrund innerfamiliärer Notwendigkeiten – in Medellin hängengeblieben und hat dort die Buchhaltung in der mütterlichen Bäckerei besorgt. Sie schließlich wird es im Verlauf des Romans sein, deren Bedürfnisse immer kleiner, immer nichtiger werden, die sich immer mehr nur und ausschließlich auf sich zurückzeiht, keinen Besitz mehr will und damit den ursprünglichen Siedlern in Antioquia und deren Idealen näher kommt, als ihre Geschwister. Und damit auch einen Kreis schließt.
In den drei sich ergänzenden, manchmal auch widersprechenden Stimmen schwingt aber mehr mit als die Geschichte einer Familie. Es ist die Geschichte eines Landes, das an der Schwelle zwischen Gestern und Morgen in die Moderne einen Weg sucht. Die Familien zerbrechen, es treibt sie auseinander und der Zusammenhalt ist nicht mehr der, den es einst gab. War schon der Aufbruch in die Gegend um Jericó einer in die Moderne, so blieben die Siedler doch konservativen, religiös geprägten Ritualen und Traditionen verhaftet. Antonio berichtet, daß seine Familie ursprünglich von Sephardim abstammt, also spanischen Juden, die einst vor den antisemitischen Dekreten der spanischen Könige ins Ausland flohen. Viele konvertierten auch. So war es auch in der Familie Ángel. Doch gerade Pilar schlägt dieses Erbe aus, sie ist katholisch, wenn auch gemäßigt, und legt wenig Wert auf die Geschichten ihres Bruders.
Ohne dies zu kritisieren oder darüber zu urteilen, erzählt Abad also auch von den gesellschaftlichen Fesseln der Religion, die aber zusehends abgestreift werden. Das führt zu Freiheiten – man bedenke die mehrfachen Scheidungen und Neu-Ehen Evas – doch der Umgang mit dieser Freiheit ist nicht leicht und führt eben auch zu Einsamkeit und Verlust. Dabei muß man allerdings bedenken, daß hier von einer im europäischen Sinne bürgerlichen Familie erzählt wird, die sich eines gewissen Wohlstands erfreut. Eines Wohlstands, über den zumindest Pilar auch reflektiert – auch, wenn sie stets bemüht ist, ihn zu verteidigen, zumindest zu rechtfertigen.
Im Zentrum des Buchs steht jedoch der Traum von jener Utopie, die wir Kindheit nennen, die uns unweigerlich entfleucht, der wir unweigerlich entwachsen. La Oculta war ein Traum-Ort, ein Refugium, an dem die Familie Ángel zusammenkommen konnte, an dem alle gleich waren und jeder sich auf seine Weise ausleben konnte. Man ritt, man schwamm im See, man verträumte die Nachmittage, las oder malte. Es wurde viel und gut gegessen. Und doch verliert der Ort seine Magie. Bzw. entpuppte er sich zumindest für Eva, die über Dutzende Seiten von ihrer nächtlichen Flucht vor den „Musicos“, einer Guerilla-Bande, berichtet, auch als ein Albtraum-Ort, als eine Ausgeburt finsterer Magie, wenn man so will. Sie hat nach diesem Erlebnis, das eindringlich geschildert wird, ein zunehmend gebrochenes Verhältnis zu La Oculta.
Und auch auf einer rein wirtschaftlichen, also ausgesprochen weltlich-realistischen Ebene, geht die Magie nach und nach verloren. Immer mehr Land musste verkauft werden, immer näher rücken die städtische Lebensweise und das (post)moderne Leben. So bringt die Befriedung des Landes – nachdem die Farc und andere Terrororganisationen ihren Frieden mit dem kolumbianischen Staat gemacht hatten, die paramilitärischen Kommandos nicht mehr ihre Schreckensherrschaft ausübten und die Drogenkartelle ihre Kriege gegen das In- und Ausland schließlich aufgegeben hatten – eben nicht nur Frieden und mehr Wohlstand nach Kolumbien, sondern sorgt eben auch für weitere Veränderungen. Immer schwingt dieser unlösbare Konflikt, dieses Dilemma, zwischen einer traditionellen Gesellschaft, die eben ihre ganz eigenen Korsette, Sitten und Riten aufrecht zu erhalten versucht, und der (Post)Moderne mit, in der vieles einfacher, weil freier und gleicher wird, die aber auch vieles einebnet und über Bedürfnisse und Eigenheiten und viele Differenzen hinweggeht.
So kommt es, wie es kommen muß: Irgendwann will die eine ihren Anteil verkaufen, der andere kann sich den Unterhalt der Finca nicht mehr leisten und so wird das verbliebene Land verkauft, nur das Haus mit einem kleinen Grundstück bleibt erhalten. Der Wald wird gerodet, der See trockengelegt, die Kaffeesträucher werden ausgerissen und weggeschmissen, die Pferde müssen ebenfalls verkauft werden, weil ihre Koppeln ebenfalls Zugangswegen und den Pools der neu entstehenden Villen weichen müssen. Was bleibt, ist die Erinnerung an einen magischen Ort, das Land der Kindheit, an Feste und auch Trauer, an etwas Gemeinsames, das vielleicht unmerklich gewichen ist. Und wofür La Oculta also ebenso als Symbol steht, wie für die Tage des Glücks.
Abad gelingt da ein kleines Meisterstück. Wie er die Geschichte des Landes mit der der Familie Ángel verwebt und daran die Modernisierung Südamerikas generell thematisiert, zeugt von großem literarischem Können. Natürlich vernimmt man in Antonios Chronologie immer auch ein fernes Echo von Marquez´ HUNDERT JAHRE EINSAMKEIT, jenem Großroman aus Kolumbien, der einst weltweit für Furore sorgte. Doch anders, als es der Titel vielleicht vermuten ließe, bleibt Abad ganz diesseitig. Sein Roman ist weit entfernt vom „magischen Realismus“, der die südamerikanische Literatur so lange bestimmt hat. Viel mehr bedient Abad sich eines fast gnadenlosen Realismus, indem er seine Erzähler – und damit sich selbst – jeglicher Urteile enthalten lässt. Deskriptiv ist dieser Text, scheinbar einfach in seiner klar strukturierten Sprache. Aber sie hat Fallen, Untiefen, Momente, in denen man ein Mehr spürt. Die leise Melancholie aber, die den Leser aus den Zeilen und zwischen den Seiten anweht, ist der Geschichte selbst geschuldet. Die Erzählenden hingegen sind nüchterne Menschen, die die Notwendigkeiten und Bedürfnisse hinter ihren Entscheidungen sachlich erklären können.
So bleibt nur ein kleiner Hauch von Kritik. Denn Abads Erzählung ist nicht wirklich spannend. Man folgt diesen verschiedenen Stimmen, wechselt damit immer wieder, manchmal etwas unvermittelt, zwischen der großen, fast epischen Erzählung, die Antonio bietet, und den kleinen familiären Ereignissen und Begebenheiten, die sich dann auch wieder nicht so sehr von anderen Familiengeschichten unterscheiden, die man in den vergangenen Jahren aus allen Teilen der Welt gelesen und gehört hat.
Doch warum kritteln? Héctor Abad, der gemeinhin schon zu den Großen der zeitgenössischen Literatur Südamerikas gezählt wird, ist da ein großartiger Roman gelungen, der ein weites Feld absteckt und auf diesem Feld lauter kleine Areale. Und auf jedem dieser Areale gibt es wieder kleine Bereiche zu entdecken. Trotz vielleicht mangelnder Spannung, packt das und entwickelt einen Sog, in den der Leser sich gern hineinziehen lässt.