LEKTIONEN/LESSONS

Ian McEwan nimmt seine Leser*innen mit, ein ganzes langes Leben zu begleiten

Lektionen lernen wir, wenn wir eine Sprache, ein Musikstück oder eine schwierige Turnübung einstudieren. Wir lernen, die Schwierigkeiten, die die Übung bereithält, zu erkennen, sie zu meistern, uns nicht von ihnen beherrschen zu lassen, sondern sie zu beherrschen; wenn wir wirklich gut werden, lernen wir gar, mit ihnen zu spielen, sie zu genießen, sie uns Untertan zu machen. Lektionen lehrt uns aber vor allem auch das Leben. Seine Härten, aber auch das Glück, das es bereithält. Wir lernen anhand seiner Lektionen, das Leben zu meistern, mindestens aber, es zu ertragen. Und wenn man so will, ist das ganze Leben eine einzige, nie endende Lektion. So in etwa muss man die Moral von Ian McEwans Roman LEKTIONEN (LESSONS, Original erschienen 2022; Dt. 2022/24) verstehen.

Der englische Autor erzählt in seinem Buch von Roland Baines, Sohn eines britischen Captains und dessen ihn auf all seinen Kommandos von Singapur bis Libyen begleitenden Gattin, der als Frühpubertierender in ein englisches Internat verbracht wird. Hier trifft er auf die Klavierlehrerin Miriam Cornell, die ihn einerseits triezt und sogar schlägt, als es ihm nicht gelingt, gewisse Lektionen (sic!) nach ihrer Zufriedenheit zu erlernen, andererseits aber verführt. Diese Verführung wird für Roland zum Fixpunkt seines Lebens. Denn obwohl er sich – wahrscheinlich gerade rechtzeitig – ihres Zugriffs entzieht, bleibt seine erste sexuelle Erfahrung nicht nur der Maßstab seiner späteren Beziehungen zu Frauen, sondern wird auch zum Ausgangspunkt eines sexuellen Begehrens, welches man heutzutage wahrscheinlich mit dem Label „Sexsucht“ versehen würde. Im Jahr 1986 schließlich muss Roland der Tatsache ins Auge sehen, dass seine Frau Alissa – sie wiederum Tochter einer Engländerin und eines Deutschen, die sich nach dem Krieg in München kennen gelernt haben – ihn und den gemeinsamen, vier Monate alten Sohn Lawrence verlassen hat. Sie erstickt an der Enge der Londoner Vorstadt, wollte nie in das Korsett eines bürgerlichen Lebens gezwängt werden und nun verlangt es sie danach, ihren Traum – und letztlich auch den Lebenstraum ihrer Mutter, deren Leben als Hausfrau zu wiederholen ihr droht – zu verwirklichen: Sie möchte eine Schriftstellerin werden. Das gelingt ihr schließlich auch, während Roland, der einst ein Dichter sein wollte, dann aber als Erfinder von Post- und Grußkartenlosungen endet, Lawrence erzieht, verschiedene Affären und Beziehungen durchlebt, sich politisch engagiert, wenn auch nur auf niederer Ebene und das lebt, was man gemeinhin ein „einfaches Leben“ nennt. Erzählt wird diese Geschichte aus der Perspektive Rolands.

Sobald McEwans Erzählung im Jahr 1986 angelangt ist – bis dahin wechselt sie zwischen den Erlebnissen und den damit verbundenen Reflektionen des erwachsenen Roland und seinen Erinnerungen an jene Jahre, als er Miriam Cornell verfiel – wird sie vergleichsweise konventionell, in gewisser Weise gar behäbig weitergeführt bis in die Zeiten von Corona und endet schließlich im Jahr 2021.

McEwan, mittlerweile in den mittleren Siebzigern seines eigenen Lebens angelangt, berichtet aus und von einem ganzen Leben, einem echten, authentischen Leben, denn das ist die große Kunst dieses Schriftstellers, den man mögen kann oder nicht, dem man aber seine Könnerschaft niemals absprechen sollte. Im Gegenteil – man wartet Jahr für Jahr darauf, dass McEwan dann doch den Nobelpreis für Literatur erhält, ist sein Werk doch mittlerweile auf eine stattliche Zahl von Romanen, Theaterstücken, Drehbüchern und Essays angewachsen – und darunter, vor allem im Romanwerk, findet man so einige Meisterwerke. Immer wieder gelingt es ihm, seinen Lesern Menschen und deren Erlebnisse näher zu bringen, die absolut authentisch wirken, Leben, die man nachvollziehen kann, deren Entwicklung man glaubt, und die doch immer wieder große Fragen – manchmal gar überlebensgroße Fragen – aufwerfen, verhandeln, debattieren und gelegentlich auch beantworten.

Immer wieder sind es besondere Begegnungen oder einschneidende Erlebnisse, die McEwans Figuren prägen, deren Leben nachhaltig und manchmal dramatisch beeinflussen. Und oft sind es die Leben von künstlerisch tätigen Menschen, die da beeinflusst werden. So sind McEwans Werke oft auch Reflektionen über das Schreiben, die Kunst, Musik, Bildung. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass er, als Mann, sehr häufig über Männer schreibt, die verlassen oder aber bedrängt oder aber fürchterlich verletzt werden. Und zwar von Frauen. Gelegentlich – wirklich nur gelegentlich – könnte sich bei den Leser*innen das Gefühl einschleichen, dass hier sogar einer schreibt, der sich heimlich rächen will. Denn einige dieser Frauenfiguren, so stark sie sein mögen, so überzeugend sie sein mögen, bleiben doch erstaunlich unsympathisch, auch wenn sie ausgesprochen differenziert gezeichnet werden.

Auch verlässt McEwan im Grunde nie die bürgerliche Perspektive, aus der heraus er schreibt, die wahrscheinlich die Perspektive seines eigenen Lebens ist. Seine Figuren sind in der britischen Mittelklasse zuhause, eine Stellung allerdings, die gerade im englischen Klassensystem immer prekär lebt, immer bedroht wird, woraus sich sowohl McEwans als auch die Haltung seiner Figuren zu Politik und Gesellschaft ableiten lässt. Umso faszinierter und faszinierender (gerade für deutsche Leser*innen) ist sein Blick nach Deutschland. Denn dieses Land fasziniert ihn offensichtlich, wie viele Briten seiner Generation, deren Väter an den Küsten und in den Weiten des Kontinents gegen das Hitler-Regime gekämpft haben und die doch wussten, dass es eine der ihren nicht unähnliche Kultur-Nation ist, gegen die sie da in den Krieg zogen. Immer wieder kehren McEwans Romane nach Deutschland zurück, immer wieder besuchen seine Figuren dieses Land und machen dort einschneidende, manchmal auch die weiter oben erwähnten lebensprägenden Erfahrungen.

Nimmt man nun all diese Themen und Motive und verbindet sie mit der Erzählung eines gesamten Lebens von der frühen Jugend bis ins hohe Alter, so hat man als Quintessenz einen Roman wie LEKTIONEN. Da sind die prekären Verhältnisse eines sich der Mittelklasse zugehörig Fühlenden; da sind die Frauenfiguren, die ebenso faszinierend wie gefährlich sind – die eine als Verführerin, die andere als Verlassende; da sind die großen Fragen und die manchmal so kleinen Antworten; da ist Deutschland als Fixpunkt, denn erzählt wird hier nicht nur die Geschichte von Roland Baines, sondern aus seiner Perspektive auch die seiner Eltern und vor allem jene seiner Schwiegereltern. Die Schwiegermutter, selbst Engländerin, brach einst nach Deutschland auf, um einen Bericht über die Widerstandsgruppe der Weißen Rose zu schreiben, verliebte sich dann aber in ihre Quelle, ein entfernter Bekannter von Hans und Sophie Scholl, und lebte ein Leben, das ihre Tochter Alissa nicht nachleben will, aus dem sie ausbrechen will zugunsten der Kunst, des Werks, des großen Romans. Den sie schreibt – einen nach dem andern.

Wahrscheinlich muss man dieses Buch, muss man LEKTIONEN, also auch als Rechenschaftsbericht eines Schriftstellers lesen, der langsam ans Ende seines Schaffens gelangt.

Rechenschaftsbericht? Nein, das ist eine zu technokratische Bezeichnung. Doch stimmt es schon: Hier schreibt einer, der sich noch einmal seiner Themen, aber auch seiner Mittel versichert. Hier schreibt einer, der sich dieser Mittel aber sehr sicher ist und sie sehr gezielt und gekonnt einzusetzen versteht. Denn obwohl dies oft eher bedächtig, fast schon konventionell daherkommt, ein wenig gemächlich in der Erzählweise, packt es das Publikum, werden die Leser*innen in diesem Strom eingesogen, der nicht mehr loslässt, der diese über 700 Seiten wie einen Fluss vorbeiziehen lassen. Man wird gepackt von diesem Leben ebenso wie von der Art und Weise, wie der Autor aus diesem Leben erzählt. Denn so konventionell das vielleicht wirken mag, McEwan wendet viele kleine und große stilistische Mittel an, Perspektiv- und Zeitenwechsel, Einschübe und Ausblicke, um sein Publikum in diese Geschichte hineinzuziehen und an sie zu binden.

Man wird gepackt davon, wie dieser Mann – Robert Baines – bei all seinen Unzulänglichkeiten, seiner manchmal etwas selbstgefälligen Art auf sein und das Leben anderer zu blicken, dieses Leben eben doch auch meistert und ihm, selbst dann, wenn es wenig Aufregendes bietet, immer etwas abzugewinnen versteht. Seine Reflektionen auf das Vergehen der Zeit, auf Unerledigtes und darauf wie Dinge, Geschehnisse, die uns einst so unendlich wichtig und wesentlich erschienen, die uns Jahre, manchmal Jahrzehnte begleitet haben, irgendwann an Bedeutung verlieren, aber auch seine Überlegungen hinsichtlich der Kunst und was sie fordert – und dass sie, wie man am Beispiel seiner Ex-Frau Alissa sehen kann, manchmal den höchsten Preis für die ganze Leidenschaft fordert, sie sie er-fordert – all diese Gedanken, die er sich macht, während er durch sein eigenes Leben schlurft, sind von allergrößter Tröstlichkeit.

Vielleicht ist das das eigentliche Wunder dieses Buchs: Wie da einer, der in seinem schriftstellerischen Leben so manche Katastrophe über seine Protagonisten hat hereinbrechen lassen, der Geschichten erfinden konnte, die oftmals in ihrer Schmerzlichkeit, manchmal aber auch in ihrer bürgerlichen Naivität kaum auszuhalten waren, wie dieser Autor nun zu einer Konklusion kommt, die nicht nur ihm und seinen Figuren, sondern auch uns, seinem mit ihm in die Jahre gekommenen Publikum, ein wenig Trost zu spenden versteht, ohne dass das je in Kitsch abgleiten würde. Nein, hier schreibt einer aus der Mitte des Lebens – oder, besser, von seinem späten Rand her, aber im vollen Bewusstsein dessen, was er durchschritten hat – einer, der auch weiß, dass so ein Werk nur entstehen kann, wenn man all die anderen Werke bereits geschrieben hat. Und der weiß, dass man ge- und er-lebt haben muss, um dies alles so schreiben zu können. Denn nur so wird es nicht überdramatisch, nur so kippt es nicht ins Melo, nur so bleibt es glaubhaft und authentisch. Nur so: Mit der Beglaubigung des Eigenen.

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