OFFENE SEE/THE OFFING

Benjamin Myers entführt seine Leser in einen magischen Sommer nach dem 2. Weltkrieg

Überschwänglich ist der junge Geist, wenn er erstmals in die Welt hinauszieht, sie sich erobernd mit Blicken in Besitz nimmt und erst recht, wenn er ansetzt, sie zu rückblickend beschreiben.

Es ist in etwas solche Prosa, die Benjamin Myers seinem Ich-Erzähler Robert in den Mund – oder besser: die Feder – legt, respektive fließen lässt, um uns das Erschauern, das Staunen des jungen Mannes aus einem Bergarbeiterdorf in Nord-Yorkshire verständlich zu machen, als dieser kurz nach dem Ende des 2. Weltkrieges, gerade einmal 16jährig, sein Elternhaus für einen Sommer verlässt, um an Englands Ostküste entlang zu wandern. Eine Coming-of-Age-Geschichte und eine Éducation sentimentale ersten Ranges ist, was Myers dem Leser offenbart. Und dabei gleißt die Sonne auf dem sich wiegenden Meer, es wogt das Gras auf Englands grünen Hügeln, die dunkelste, von allerhand Geräuschen beschallte Nacht zieht auf, es rattert die Metapher, es schäumt und sprießt das Adjektiv und das Adverb erst recht.

Nach ca. 50 Seiten fragt man sich, ob das wirklich so weitergehen soll, zumal das eine oder andere Bild – Heckenwände aus Brombeersträuchern, undurchdringlich wie die Stacheldrahtrollen in Bergen-Belsen – gerade dem deutschen Leser säuerlich aufstoßen wird. Zumal es kaum eines solchen Vergleichs bedarf, um den Leser an die Schrecken des Krieges zu erinnern, die im Roman eine eher untergeordnete Rolle spielen. Und doch gelingt es Myers, seine Leser auf eine seltsame, schwer zu definierende Art und Weise – ist es letztlich doch der Stil?, ist es die Geschichte selbst?, ist es die Lebendigkeit der Figuren? – an seinen Text zu binden. Und der wird besser. Deutlich besser. Robert trifft Dulcie, eine alternde Dame, ein Freigeist, die in einem Cottage nah der Küste lebt und Robert, zu dem Zeitpunkt bereits seit Wochen unterwegs, unter ihre Fittiche nimmt. Leben und Literatur – so ließe sich Dulcies Programm beschreiben, das sie an Robert ausprobiert. Sie zeigt ihm, was es bedeutet, den eigenen Gedanken Raum zu geben, sich von Konventionen und Anspruchshaltung anderer zu befreien, aber auch, dem Geist und den Gedanken anderer – in ihrem Falle ist es die Lyrik des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts sowie ausgesuchte Literatur der Zeit – zu folgen und sich in diesen wiederzufinden und schließlich über diese hinauszuwachsen, um sich selbst zu entdecken und die eigene Kreativität zu entfalten. Robert bleibt bei ihr, hilft ihr, den Garten wieder in Schuß zu bringen, renoviert die Laube in selbigem und erkundet nebenbei die Umgebung, den Strand, die Hügel, Felder und Wälder der Küste Yorkshires.

Das alles mutet natürlich wie ein Klischee an und es ist Myers so gesehen zunächst einmal hoch anzurechnen, daß er nicht darauf verfällt, den jungen Mann und die alternde Frau ein Liebesverhältnis eingehen zu lassen. Mehr noch – dieser Aspekt wird auf fast angenehme Art und Weise ausgespart. Robert linst auf der Strandpromenade nach den jungen Damen, mehr aber interessieren ihn Dulcies Gedichte und ihre Geschichten. Offenbar ist sie weit herumgekommen und hat ein für ihre Generation von Frauen ungewöhnliches Leben geführt. Wie ungewöhnlich, wird Robert erst klar, als er im Gartenhaus auf ein altes, fast vergessenes Manuskript stößt. Es wurde von Romy, einer Deutschen und einst Dulcies engste Freundin (und möglicherweise noch mehr?) verfasst und enthält einige tieftraurige, aber ebenso verführerische wie berührende Gedichte. Und anhand der von Dulcie nur widerwillig und stockend erzählten Lebensgeschichte dieser Frau, begreift Robert langsam, daß das Leben eben doch mehr ist als ein endloser Sommer am Meer.

Myers variiert seinen Stil, läßt ihn reifen, in gewisser Weise erwachsener wirken. Wenn dies so gewollt ist – und man möchte das zunächst einmal unterstellen – gelingt ihm ein Kabinettstück, indem er durch die Variation den Reifungsprozeß eines jungen Mannes darstellt und charakterisiert. Das wäre eine literarische Leistung. Allerdings wird die Erzählung eingerahmt durch den alten Robert, der ein erfolgreiches Leben als Schriftsteller geführt hat und eigentlich wissen müsste, was der übermäßige Gebrauch von Adjektiven und Adverbien anrichtet. Aber vielleicht wollte auch der seinen Lesern verdeutlichen, daß die Jugend ein Recht auf Pathos hat, zumindest solange, bis sie echte Gefühle kennenlernt und versteht.

Benjamin Myers ist trotz aller Einwände ein Roman gelungen, der unterhält, der ein gutes Gespür für die Atmosphäre des unmittelbaren Nachkriegsenglands, aber auch für jene grauen Landstriche im Norden beweist, die durch Kohlebergbau, Armut und den allgegenwärtigen Staub geprägt wurden. Man begreift die Lebenslust und Neugier dieses jungen Mannes, der die Kriegsjahre als Heranwachsender erleben musste und somit die Zeiten der Entbehrung, der Lebensmittelkarten und Rationierungen früh im Leben kannte. Sein Zusammentreffen mit Dulcie ist auch ein Fenster in eine vergangene Zeit, die Vorkriegszeit, in der es einen gewissen europäischen Kosmopolismus gegeben hatte, eben auch Frauen eine gewisse Freiheit besaßen, ungebunden zu reisen, die Welt zu erforschen. Wobei Dulcie und Romy auch in ihrer Generation wahrscheinlich Ausnahmegestaltenihrer gewesen sein dürften. Diese alte und doch so lebensfreudige Dame bemüht sich inständig, den durch die britische Propaganda beeinflussten Jungen mit einem Interesse für die Welt jenseits der Grenzen des Landes zu begeistern, ihm auch die Deutschen als Kulturvolk nahe zu bringen und ihn zudem in die Welt des (europäischen) Geistes einzuführen, was ihr schließlich auch gelingt.

Myers umschifft die ärgsten Klischees, er erzählt eine unaufgeregte Geschichte – oder, besser, er erzählt seine manchmal durchaus dramatische Geschichte unaufgeregt und damit glaubwürdig. Ein junger Mann reift, in jenem mythischen Sommer, den wir alle einmal erlebt haben (und der in sich natürlich bereits zum Klischee geronnen ist), in dem sich Weichen fürs Leben stellen, in dem man Grundlegendes begreift und aus dem man als ein anderer hervorkommt.  Und an den man eines Tages, später, mit einer gewissen Wehmut, ja sogar nostalgischen Gefühlen, zurückdenken mag. So ist dies eine Lektüre wie ein warmer, nicht zu heißer Sommertag, an dem eine leichte Brise das Meer erahnen lässt und die selbstgepresste Limonade umso besser mundet. Nicht mehr, nicht weniger, sondern genau so.

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