PICKPOCKET
Robert Bressons formvollendeter Beitrag zur 'Nouvelle Vague'
Michel (Martin LaSalle), ein junger Intellektueller, vertritt die Meinung, daß das Genie – ein Mensch, der über außergewöhnliche intellektuelle Fähigkeiten, Geist, Bildung und Zugang zur Welt verfügt – das Recht habe, sich über das Gesetz zu erheben, da er für Größeres geschaffen sei. Er selber gibt sich dem Verbrechen des Taschendiebstahls hin, das er auf Bahnhöfen, in Zügen und auf der Rennbahn begeht. Seine Freunde und schließlich auch die junge Jeanne (Marika Green), die sich um seine Mutter kümmert, bedrängen ihn, da er ihnen zu entgleiten droht. Doch Michel wird sein Tun geradewegs zur Obsession. Er flieht die Stadt, bleibt einige Jahre fort, kehrt zurück, erlernt sein Handwerk derweil bei echten Meistern des Diestahls, mit denen er – bspw. um einen Zug auszuräumen – auch gemeinsame Sache macht. Doch zugleich spürt er, wie er der Welt abhanden kommt und die Welt ihm. Er besucht seine Mutter nicht mehr und als Jeanne ihn endlich dazu bekommt, es doch zu tun, kann er mit den Ermahnungen der alten Frau, die sich lediglich nach einer Berührung ihres Sohnes sehnt, nichts mehr anfangen. Seine Diebestouren werden immer dreister und obwohl sogar der Kommissar ihn ermahnt, er wolle ihm helfen, Michel habe es gar nicht nötig, als Dieb durchs Leben zu gehen bei seiner Intelligenz und Bildung, geht Michel ein immer größeres Risiko ein, bis er schließlich gefasst wird. Doch selbst das scheint ihm zu gefallen, wie ein Katz-und-Maus-Spiel betrachtet er die Bewegungen zwischen sich und der Polizei. Doch als Jeanne, die ihn immer wieder besucht, schwanger wird und den Vater des Kindes nicht heiraten will, da sie erkannt habe, daß sie nur einen – nämlich ihn, Michel – liebe, gibt der sich dieser Liebe hin und erfährt Erlösung durch Jeannes Worte, Gesten und Küsse.
Robert Bresson steht im europäischen Kino wie ein Solitär, darin solchen Giganten wie Ingmar Bergman oder Pier Paolo Pasolini verwandt. Es wird weitere Beispiele geben von Künstlern, Filmkünstlern, die schwerlich einer „Bewegung“ zuzuordnen sind, deren Filmsprache etwas Ureigenes wurde, unverkennbar und einzigartig. Bresson hatte bereits vor dem Krieg bei René Clair und anderen an Filmen mitgewirkt, u.a. hatte er Drehbücher geschrieben, doch nach dem Krieg erst begann er, sich ernsthaft für die Regiearbeit zu interessieren. So hatte er durchaus schon Fuß gefasst in der Filmindustrie, als die ‚Nouvelle Vague‘ mit Leuten wie Truffaut, Chabrol oder Rohmer Mitte bis Ende der 1950er Jahre aufkam. Doch wirkt Bressons PICKPOCKET (1959) durchaus wie ein Werk der ‚Nouvelle Vague‘. Im Film wird mit offenen Formen experimentiert und Bresson hatte schon länger sein Konzept, nur Laiendarsteller einzusetzen, verfeinert, ein Prinzip, das bspw. Pasolini später ebenfalls verfolgte. Bresson wollte größtmögliche Distanz zu seiner Geschichte, er ließ seine Schauspieler nahezu ohne Regieanweisungen arbeiten und gestaltete damit den Interpretationsspielraum, den der Zuschauer hatte, enorm weit.
So kann man PICKPOCKET unter ganz verschiedenen Aspekten betrachten: Als filmisches Experiment, als philosophische Abhandlung über das Wesen des Verbrechens und was es ausmacht, bzw. mit den Menschen macht, oder aber, womit man allerdings Punkt zwei ebenfalls streifen würde, man betrachtet den Film als Literaturverfilmung. Ganz offensichtlich hat sich Bresson als Vorlage für seine Geschichte bei Dostojewski bedient und den Grundkonflikt aus VERBRECHEN UND BESTRAFUNG in diese französische Intellektuellen- und Gewissensstudie implementiert. Der junge Intellektuelle Michel stellt sich – in leicht abgemilderter Form, geht es hier doch nicht um Mord – die Frage, die auch Raskolnikow in Dostojewskis Werk umtreibt: Darf der Mensch, der über besondere – Dostojewski nennt es „napoleonische“ – Wesensmerkmale ausgesprochen hoher Intelligenz, Bildung und Weitsicht verfügt, sich über herrschende Gesetze hinwegsetzen und einer eigenen Moral folgen, da er für Höheres, Wichtigeres bestimmt ist? Bressons Film umspielt dieses Motiv unermüdlich, denn Michel wird während der erzählten Geschichte ununterbrochen mit seinen Gewissensentscheidungen konfrontiert und schneller als er denkt, entpuppt er sich als das genaue Gegenteil dessen, was er propagiert. Als der Kommissar ihn fragt, woran denn dieser Übermensch sich verdeutlichen würde, wer ihm das Außergewöhnliche bescheinige, da antwortet Michel: Der Mensch selbst, indem er sich an seinem reinen Gewissen prüft.
Doch Michel ist feige, wie wir wissen. Weder ist er in der Lage, gegenüber Freunden offen zu reden, noch, sich seiner Mutter zu stellen, spät im Film erfahren wir auch warum: Er hat sie bestohlen als sie schlief. Zudem ist das Handwerk des Taschendiebstahls zwar ein könnerisch hochwertiges, doch ist es eben auch ein feiges Geschäft. Anders als Raub oder gar Mord, stellt sich der Taschendieb seinen Opfern nicht offen, sondern begeht seine Vergehen heimlich, im wahrsten Sinne des Wortes „hintenrum“. Bresson umkurvt die Gefahr des Antisemitismus, der in Dostojewskis Roman virulent ist, denn es ist wesentlich für Raskolnikow, eine Jüdin zu erschlagen, die sowieso nicht wohlgelitten ist, die aber auch als „unnützes Mitglied der Gesellschaft“ denunziert wird, da sie als Wucherin ihr Geld verdient. Michels Opfer werden wahllos ausgesucht, bestenfalls ist es die Qualität der Handtaschen, die ihn seine weiblichen Opfer, die der Krawatten, die ihn die männlichen Opfer aussuchen lässt. Doch haben wir bei Michel nie den Eindruck, daß er seine Arbeit gern verrichtet. Sein Streifzüge auf den Bahnhöfen, in den Metrostationen und den Zügen wirken wie die Wanderungen eines Somnambulen, den die Idee des Diebstahls mehr umtreibt als der zu erwartende Gewinn.
So haben sowohl Jeanne, die ihn liebt und schließlich – eine weitere Parallele zu Dostojewski – mit ihrer Liebe eine Erlösung für Michel darstellt, als auch sein Freund und sogar der Kommissar eher Sorge um sein Seelenheil, als daß sie sich darum sorgen, daß Michel in die Mühlen der Justiz geraten könnte. Freilich ist dem das auch scheinbar vollkommen egal. Bresson zeigt Michels Verhalten duchaus als Sucht. So wird ständig ein Spannungsfeld aufgetan zwischen Moral und Psyche, zwischen den Regeln einer funktionierenden Gesellschaft und der Selbstermächtigung des (vermeintlichen) Genies, zwischen der Liebe und dem Egoismus des Süchtigen. Der Film enthält sich dabei nahezu jedweden eigenen Standpunkts. Unkommentiert lässt er das Geschehen ablaufen und zwingt den Zuschauer, sich selbst in den Konflikt mit einzubringen. Wir müssen den Standpunkt in uns selbst finden und einnehmen, den wir zu dieser Geschichte haben. Und wir müssen uns fragen, wieso wir gerade den Standpunkt einnehmen, den wir einnehmen. PICKPOCKET ist mit seiner distanzierten, fast kühlen Betrachtung seiner selbst ein Film, der es seinem Publikum denkbar wenig kommod macht. Man kann sich in diesem Film weder ausruhen, noch sich entziehen – es sei denn, man beschließt, daß das der falsche Film für einen ist, was Bresson möglicherweise ganz klug fände, jedenfalls einen denkbaren Standpunkt.
Filmisch gelingen Bresson teils unfassbar elegante Szenen und Sequenzen. Michel auf der Rennbahn, wie er, während sich die Köpfe des Publikums, uns zugewandt (das Rennen sehen wir nie), mit den vorbeidonnernden Pferden drehen, Handtaschen ausräumt und Brieftaschen aus Jacketts fischt; Michel, wie er von seinem Mentor die wesentlichen Tricks beigebracht bekommt, was wie ein Ballett der Finger wirkt, wenn sie geschmeidig gemacht werden und dann die unglaublichsten Tricks ausführen; schließlich, sicherlich der filmische Höhepunkt des Werks, jene Sequenz, in der die Taschendiebe, einer Armee gleich aber sich bewegend wie Tänzer, wie Akrobaten, durch einen stehenden Zug voran arbeiten, niemanden auslassen, kurz aussteigen, ihre Beute dem nächsten wartenden Komplizen zustecken, der das Geld aus den Brieftaschen in seine Tasche wandern und die entleerten Börsen unter dem Zug verschwinden lässt, während die andern schon weitermachen. Ein wunderbarer Tanz aus ausnahmsweise exakten Regieanweisungen, brillant angeordneten Kameraperspektiven und schließlich einer Vervollkommnung im Schnitt und der Montage, wie es sie selten auf der Leinwand gab.
Bresson verschafft dem „Handwerk“ der Diebe damit durchaus eine Legitimation. Er zeigt es als Arbeit – sie müssen üben, sie müssen probieren, man muß die Gelenke geschmeidig halten usw. Nur für Michel, dessen Hintergrund wir nach anfänglicher Verwirrung immer besser verstehen, für Michel gilt dies nicht, ahnen wir doch, daß sein Hang zum Diebstahl eher psychologisch motiviert ist, sein Intellekt, seine Bildung würden es ihm – Jeanne sagt es an einer Stelle des Films deutlich – erlauben, schnell einen gut dotierten Job zu ergattern. Michels Hang ist also zugleich die moralische Verwerfung eine vielleicht Wirren, es ist eine existenzialistische Erfahrung – ein Aspekt, der ebenfalls nicht unterschlagen werden sollte, denn Michels Selbstbefragung erinnert durchaus an jene Überlegungen moralsicher Natur, die ein Sartre oder Camus angestellt haben – und vor allem ist Michels Hang eben auch Sucht.
PICKPOCKET changiert zwischen moralischer Mär, psychologischer Betrachtung und philosophischer Auseinandersetzung. Zur Untermalung zeigt Bresson ein Paris, wie es selten im Film zu sehen ist: Bar aller Wahrzeichen, dreckig und staubig, geht er in die Nebenstraßen und die schäbigen Dachgestühle, er zeigt die undichten Heizungen und die abgeranzten Tapeten. Dieses Paris hat nahezu nichts gemein mit der „Stadt der Liebe“, im Gegenteil wirkt Paris hier wie die „Stadt der Kälte“.
Der Film wird heute gern gepriesen als Meilenstein im Schaffen Bressons, formvollendet und stilecht, streng und durchkomponiert, zugleich aber auch frei in der Gestaltung der Rollen, mit offenen Texten, die oft mehr deklariert als gelernt wirken, was den Entfremdungseffekt natürlich steigert. Kühl und distanziert, zugleich jedoch voller Emotion für die subkutanen Abläufe dieser Geschichte, letzten Endes mit einem – ebenfalls bei Dostojewski entlehnten – Plädoyer für die Liebe als jene Kraft, die imstande ist, die menschliche Verirrung einzufangen und in Wärme zu verwandeln. So ist auch der Interpretation zu widersprechen, daß am Ende Michels Sucht jedwede Emotion auslöscht, daß Michel die Gefahr mehr sucht, als die Liebe ihn zu binden vermag. Wahr ist, daß uns die Over-Voice, in der Michel uns den Verlauf dieser Geschichte, seine inneren Zustände schildert, durchaus mitteilt, daß es ihm immer gleichgültiger gewesen sei, ob er erwischt würde oder nicht. Doch die letzte Einstellung des Films, wenn Jeanne ihm im Gefängnis ihre Liebe gesteht, spricht deutlich eine andere Sprache. Michel ergibt sich in diese Liebe und wird bereit sein, ihr zu folgen. Es vereinfacht diese Wendung, daß Bresson auf die Melodramatik eines Mords als Verbrechen, wie es bei Dostojewski geschieht, verzichtet. So kann er seine Fragen an Moral und Gewissen, an die Existenz und das Leben weitaus unbefangener stellen, wäre Diebstahl doch ein Verbrechen, das durchaus zu rechtfertigen wäre in einer Welt, in der Menschen hungern und kein Dach über dem Kopf haben. Ein Mord wäre von allem Anfang an weitaus schwieriger zu rechtfertigen, ist seine moralische Verwerflichkeit doch weitaus größer und vor allem: eindeutiger.
PICKPOCKET markiert neben anderen Werken jenen Moment, an dem das europäische Kino sich von Hollywood löste und das sogenannte ‚Autorenkino‘ gebar. Ein intellektuelles, genreunabhängiges Kino, das mehr Zugriff auf das allgemein Menschliche zuließ als der amerikanische Genrefilm. Doch auch formal stellt PICKPOCKET neben Filmen wie Resnais ´ L`ANNÉE DERNIÈRE À MARIENBAD (1961) oder Pasolinis ACCATTONE (1961) eine Wegmarke dar, steht er doch für die Neuerungen, die größere Experimentierfreude und gewagtere formale Umsetzung des europäischen Kinos. Und noch immer spürt man diese Kraft des Films, wenn man ihn heute sieht. Es geht eine Aura des Neuen und Aufregenden von ihm aus, der man sich nur schwerlich wird widersetzen können – so man das denn will.