SCHWARZE HUNDE/BLACK DOGS (Re-Read 2025)
Auch nach dreißig Jahren kann Ian McEwans Roman mit Bravour bestehen
Kurz nachdem die Mauer gefallen und der Warschauer Pakt der Geschichte anheimgegeben war, schrieb der britische Autor Ian McEwan eine Parabel auf Europa und eine Epoche, die mit der Zeitenwende 1989/90 untergegangen schien.
SCHWARZE HUNDE (BLACK DOGS, Original erschienen 1992; Dt. 1994) erzählt aus der Perspektive von Jeremy die Geschichte seiner Schwiegereltern, June und Bernard Tremaine, die nach dem Zweiten Weltkrieg zu jener Generation junger, zunächst idealistischer Menschen gehörten, die hofften, mit dem und durch den Kommunismus endlich die Schrecken der Zeit, die Ungerechtigkeiten und vor allem: weitere Kriege überwinden zu können. Während Bernard lange an seinem ideologischen Glauben festhält, später – ernüchtert durch die brutale Unterdrückung des ungarischen Volksaufstands 1956 und die Gräuel des Stalinismus, die immer deutlicher zutage treten – zum linken Flügel der Labour-Partei wechselt und für diese auch ins englische Unterhaus einzieht, wendet sich June nach einem für sie einschneidenden Erlebnis vom ideologischen Glauben ab und wendet sich einer innigen Spiritualität zu, die stark von der Dichotomie von Gut und Böse geprägt ist. Während einer Reise ins südfranzösische Languedoc wird sie auf einer Wanderung mit zwei riesigen schwarzen Hunden konfrontiert, in denen sie instinktiv das materialisierte Böse zu erkennen glaubt. Zu ihrer Rettung wird sie aber auch eines übernatürlichen Lichts, eines grellen Schattens in ihrem Innern gewahr, welchen sie als die Präsenz Gottes interpretiert. Bald wendet sie sich auch von Bernard ab und obwohl die beiden in der folgenden Dekade drei Kinder bekommen – darunter Jenny, Jeremys spätere Frau – trennt sich June von ihm und zieht schließlich in die Nähe jenes Ortes, an welchem sie das ihr ganzes späteres Leben prägende Erlebnis hatte.
Nach einem einführenden, als „Vorrede“ deklarierten Kapitel, in welchem Jeremy kurz sein eigenes Leben skizziert – früh hat er die Eltern verloren, wuchs bei seiner älteren Schwester auf, wurde dort zu einem großen Bruder für seine Nichte Sally, suchte immer die Nähe zu den Eltern von Freunden, oft fühlte er sich in deren Gegenwart wohler als in der Gleichaltriger, was als Erklärung für sein Verhältnis zu seinen Schwiegereltern gelten kann – berichtet er in vier Abschnitten von wesentlichen Begegnungen mit June und Bernard. Zunächst erzählt er von seinen Besuchen bei der im Sterben liegenden June, die für ihre letzten Jahre aus ihrem französischen Exil nach England zurückgekehrt ist. Mit ihr setzt er sich vor allem über ihren Gottglauben und ihre spirituelle Weltwahrnehmung auseinander, aber auch darüber, dass dieser Glaube sie letztlich von der Welt getrennt, sie isoliert habe – auch von den Kindern. Der zweite Abschnitt berichtet davon, wie Bernard, völlig eingenommen von den Ereignissen in Berlin unmittelbar nach der Öffnung der Mauer, Jeremy bittet, ihn in die alte Reichshauptstadt zu begleiten. Hier, inmitten des Trubels, mitten in einem, vielleicht dem prägenden historischen Ereignis des ausgehenden 20. Jahrhunderts, streiten sich Schwiegervater und Schwiegersohn darüber, ob der Sozialismus nun endgültig gescheitert und ob June in ihrer Weltabgewandtheit nicht ihrer Zeit endlos weit vorausgewesen ist. Es ist eine irrwitzige Situation, die McEwan, der sowas perfekt kann, hier kreiert: Da geschieht Weltgeschichte unmittelbar und zwei Männer streiten sich um höchst eigene, private Probleme, denn letztlich wird dies zu einer Auseinandersetzung über die Ehe von June und Bernard.
Die letzten beiden Abschnitte des Romans spielen im Languedoc, dort, wo die Begegnung mit „dem Bösen“ einst stattgefunden hatte. Zunächst berichtet Jeremy, wie er in das Haus in Les Salces fährt, das Jenny und er und damit auch ihre eigenen Kinder nach Junes Tod geerbt haben und wo sie nahezu alle Ferien verbringen. Jeremy will es vorbereiten für das anstehende Weihnachtsfest. McEwan erfasst – und das wird gern vergessen, denn auch darin ist er ein wahrer Meister – die Landschaft und die ihr eigenen Spezifika mit einer sprachlichen Genauigkeit, die es ermöglicht, den bevorstehenden Winter riechen zu können, in den Beschreibungen der Sommer, welche June, er selbst und seine Familie dort verbracht haben, die Hitze zu spüren, das Flirren des späten Nachmittags, man sieht förmlich den Staub, der in der Sonne tanzt, kann die verbrannte Erde, kann die Wärme empfinden, die von ihr ausgeht. McEwan beschreibt Flora und Fauna derart scharf, dass die Leser*innen gleichsam durch diese Landschaft wandern. Diese Beschreibungen korrespondieren – und kollidieren – dann umso härter mit denen der polnischen Landschaft, in welche er die Leser*innen zu Beginn des dritten Kapitels lotst.
Dort, während eines Kongresses, an dem er teilnimmt, lernt er Jenny kennen. Sie sucht einen Begleiter, sie will in das ehemalige Konzentrationslager Majdanek, wo sie für eine Freundin, die an einem Buch über das Lager arbeitet, Fotografien erstellen soll. Auch diese Beschreibung ist enorm intensiv, jedoch anders, als man es erwarten würde. Denn McEwan verweigert die Betroffenheit, die sich einstellen müsste, wovon wir als Lesende zwangsläufig ausgehen. Vielmehr nimmt Jeremy die Szenerie als etwas Pervertiertes wahr, empfindet eher ein stilles Einverständnis mit den Tätern; die Opfer, so nimmt er es wahr, verschwinden vollends unter den Bergen ausgestellter Brillen, Schuhe und Haare. Und Jenny weist ihn darauf hin, dass auf einer Tafel alle möglichen Opfergruppen – im Grunde nach Nationalitäten unterteilt – erwähnt werden, doch mit keinem Wort die Juden als die eigentlichen Opfer des industrialisierten Massenmords.
Der letzte Abschnitt des Romans führt die Leser*innen dann abschließend ins Languedoc, ins Jahr 1946, jenes Jahr, in dem June ihre einschneidende Begegnung mit dem Bösen hatte. Hier wird nüchtern die Begebenheit erzählt, um welche sich das ganze Buch eigentlich dreht, das jedoch wie eine Leerstelle, wie ein McGuffin wirkt. McEwan, Jeremy, geht jedoch weiter, geht über die reine Beschreibung des Ereignisses hinaus, denn es wird auch von der Begegnung mit dem Bürgermeister des nahegelegenen Dorfs berichtet, der Bernard und June von den Schwarzen Hunden erzählt. Es sind verwilderte Gestapo-Hunde, die zurückblieben, als die Deutschen nach der Invasion in der Normandie überstürzt abzogen. An die Erzählung des Bürgermeisters – die u.a. von einer besonders perfiden und widerlichen Behandlung weiblicher Angehöriger der Résistance handelt – schließt sich ein Streit zwischen ihm und der Besitzerin des örtlichen Hotels an. Und anhand dieser Auseinandersetzung lernen nicht nur June und Bernard, sondern auch wir, die Leser*innen dieses Texts, sehr viel darüber, wie der Krieg immer fort wirkt, wie er sich nicht nur zwischen die Völker, sondern in die Bevölkerungen selbst hineinfräst und dort sein Gift verbreitet.
So schließt sich der Kreis: Der Zweite Weltkrieg wird gleichsam zum Nexus des 20. Jahrhunderts, zumindest dessen zweiter Hälfte. Nichts ist ohne diesen Fixpunkt denkbar – nicht die Entwicklungen der Menschen, die ihn überlebt haben, nicht die Prägung durch die Schuld des Versagens, nicht der Moment, in dem mit dem Fall der Mauer das ganze Zeitalter an sein „natürliches“ Ende zu kommen scheint. Geschichte vergeht nicht, der „…eben beendete Krieg [war] keine historische, keine geopolitische Tatsache, sondern eine Vielzahl, eine nahezu unendliche Fülle privaten Leides, ein grenzenloser Jammer[…]ungeschmälert verteilt auf Individuen, die den Kontinent wie Staub überzogen, wie Sporen, deren jeweilige Identität unerkannt bleiben würde…“(S. 214). Und selbst Junes Schicksal, ihr Erlebnis mit den schwarzen Hunden, den ehemaligen, verwilderten Gestapo-Hunden, gehört so betrachtet in dieses Geflecht.
Ian McEwan webt hier ein thematisch ebenso weit gefassten wie fein gesponnenes Netz, in welchem er neben der bereits erwähnten Dichotomie von Gut und Böse auch Fragen nach der persönlichen Freiheit und dem dafür zu entrichtenden Preis, danach, wie man mit gescheiterten Utopien – historischen wie privaten – umgehen kann und vor allem – anhand eben dieses Scheiterns – behandelt er die Frage, wie sich Spiritualität, die Wirklichkeitswahrnehmung, die so erfasste Wahrheit, auf eine reine Ideenwelt, auf abstraktes Denken, auf theoretisches Wissen auswirkt – und vice versa. Bernards (vermeintlicher) Rationalismus, der das Erlebnis mit den Hunden abtut, der den Weg seiner Frau, von der er nie lassen konnte und mit der er aber auch nicht mehr eine Gemeinsamkeit erleben konnte, als sie ihren höchst eigenen Weg eingeschlagen hatte, wird ununterbrochen durch Junes Spiritualität in Frage gestellt, gespiegelt und gebrochen. Und schließlich kommt Winston Churchill höchstpersönlich Bernard zur Hilfe (S.134), denn der bezeichnete seine gelegentlich auftretenden Depressionen einst als „schwarzer Hund“. Auftritt die Psychoanalyse, dieses so willkommen geheißene Werkzeug, welches Ideologie, Geschichte und Privates zusammenbringt, wie es Hollywood in etlichen Werken des ‚Film Noir‘ schon vielfach vorgeführt hatte, und bietet Bernard eine Möglichkeit, Junes Entwicklung zu rationalisieren.
Es zeigt McEwans später in vielen Werken ausgearbeitete und verfeinerte Fähigkeit, einer (scheinbaren) Familiengeschichte so viele, scheinbar voneinander unabhängige Themen wie selbstverständlich, geradezu natürlich, einzuschreiben und sie gleichsam organisch zusammenzuführen, sie ineinander fließen zu lassen. Sie bedingen sich gegenseitig und erklären wechselweise die Entwicklungen der Protagonist*innen und erzählen doch auch ganz eigene, sehr persönliche Geschichten. Es ist brillant, wie alles, was sich auf den knapp 230 Seiten des Romans ereignet, in jenen 18 Seiten der Vorrede beglaubigt wird, weil hier ein mittlerweile erwachsener Mann von den Sehnsüchten seiner Kindheit und Jugend erzählt, von der Sehnsucht nach einem Heim, nach einem Elternhaus, wo er Geborgenheit finden könnte – und stattdessen in den häuslichen Stürmen, die die Ehe seiner Schwester bestimmen, zum Hort der Geborgenheit für seine Nichte wird.
Anhand der Geschichte – besser: der Nicht-Geschichte – dieser Nicht, Sally, die im späteren Roman lediglich angeschnitten wird und doch so spannend gewesen sein muss, deutet Jeremy doch an, dass sein Fortgehen Sallys Leben massiv und nicht zum Besten beeinflusst (eine Thematik, der McEwan in vielen späteren Werken sehr genau auf den Grund ging) und er somit Schuld auf sich genommen hat, kann man die (wenigen) Schwachstellen des Romans anreißen. Es wird eben Vieles nur angerissen, was im Grunde genauerer Ausführung wert gewesen wäre. Es gibt eine Menge Versprechen, die der Autor hier nicht erfüllt, denen er sich später, in anderen, umfangreicheren Werken aber zuwenden sollte. Gleiches gilt für die theoretischen Aspekte, um die sich hier im Kern ja alles dreht. Anstatt die Auseinandersetzungen, die Jeremy sowohl mit June als auch mit Bernard führt, genauer und epischer auszugestalten, bleibt auch hier Vieles im Vagen, manches gar ein wenig schemenhaft. Und gerinnt damit zur These, nur bekommt Thesenhaftigkeit einem Roman nie sonderlich gut. Auch die Auswirkungen und Einwirkungen, die Jeremys Verhältnis zu seinen Schwiegereltern auf seine eigene Familie, sein Verhältnis zu Jenny, deren Beziehung zu ihrer Mutter laut Jeremy immer eine angespannte war, und das zu seinen Kindern hat, bleiben weitestgehend ausgespart. So bleiben diese Beziehungen, bleiben gar diese Figuren – Jenny und die Kinder – Pappkameraden, reine Behauptungen. Das ist schade, es schadet aber der Gesamtkonstruktion nur marginal.
SCHWARZE HUNDE ist ein Roman, der erstaunlich gut gealtert ist, auch wenn jüngere Werke des Autors – LEKTIONEN (2022) sei hier stellvertretend genannt – von weiterer Entwicklung und wachsender Meisterschaft künden. Entgegen späteren Romanen fällt hier natürlich auf, dass McEwan nicht episch erzählt, viel weniger Raum benötigt, um das Wesen seiner Erzählung zu entfalten. Und auch das kann natürlich ein Merkmal von Qualität sein. So elegant die späteren Werke auch sein mögen – hier bringt der Autor Wesentliches auf wenigen Seiten auf den Punkt. Ein großer Wurf, der sich unerschrocken eines großen Themas: Das 20. Jahrhundert, annimmt und dabei besteht.