SPIEGELLAND

Kurt Drawerts frühe Abrechnung mit dem Land und dem System der Väter

Fast schon ließe sich behaupten, es gäbe seit Mitte der 90er Jahre ein neues, ganz eigenes Genre der deutschen Literatur: Den DDR-Verarbeitungsroman. Erich Loest, Christa Wolf – alte Helden der DDR-Literatur – legten ebenso ihre Erinnerungen und Reflexionen zum Thema vor, wie sich mit Ingo Schulze, Jana Hensel, Uwe Tellkamp, Clemens Meyer, Erich Ruge oder Lutz Seiler, um nur einige zu nennen, neue Generationen in Ostdeutschland aufgewachsener und sozialisierter Autoren aufmachte, ihre Kindheits- und Jugenderinnerungen aufzuschreiben und dieses untergegangene, so ferne, fremde, wie auch vertraute Land, das auch den Westen 40 Jahre lang definierte, zu erforschen, literarisch auszuleuchten und einerseits den Westlern, andererseits aber auch sich selbst zu vermitteln.

Einer der vielleicht sprachmächtigsten und vielleicht genau deshalb weniger im Fokus der allgemeinen Öffentlichkeit stehenden Autoren dieser Gattung, ist Kurt Drawert. Dabei hatte er mit SPIEGELLAND (Erstveröffentlichung 1992; dieser Text bezieht sich auf die Neuveröffentlichung bei C.H. Beck 2020, die ein den Text reflektierendes Nachwort des Autors enthält) schon in den frühen 90ern eine sehr persönliche Abrechnung mit dem Land und seiner Familiengeschichte vorgelegt. In Drawerts Fall kann man von einer Engführung sprechen, in der der Begriff des „Vaters“ nahezu in eins fallen konnte mit dem paternalistischen Staat, der die DDR eben auch immer war, weil er sich wie ein alles beherrschendes Familienoberhaupt einzumischen leisten konnte, ein Anrecht auf die Gedanken in den Köpfen seiner „Untertanen“ (Kinder) sowie deren Leben und Träume zu haben glaubte. Drawerts Vater war bei der Kriminalpolizei, zunächst in mittlerer Funktion in der Nähe Berlins, später in führender Funktion in Dresden. So steht er wie ein Synonym für die Staatsmacht, für die Übergriffigkeit, aber auch für die Gefühllosigkeit und Kälte eines Systems, das sich anschickte, dem Volke jedwede Individualität auszutreiben und das dem Kollektiv immer den Vorrang einräumte.

Drawerts Schreiben wird also zu einer Art Exorzismus, in dem er sich sowohl aus den Fängen seiner (kollektiven) Geschichte zu befreien, als auch die maximale Distanz zu seiner Familiengeschichte einzunehmen sucht. Dabei ist Drawert aber hochbewandert in den (post)modernen Theorien zu Literatur, zur Linguistik, zur Sprache, hauptsächlich geprägt durch die Poststrukturalisten wie Paul de Man oder Jacques Derrida, Roland Barthes und Julia Kristeva, die uns gelehrt haben, niemals Repräsentanz und Repräsentiertes, niemals Sprache als hochsymbolische Bewegung und das von ihr Beschriebene in eins zu setzen, mehr noch: Wir haben von ihnen gelernt, daß die Sprache eine eigene Wirklichkeit, einen eigenen Raum, eine eigene Welt errichtet. Drawerts Texte – auch die jüngeren, wie zuletzt DRESDEN. DIE ZWEITE ZEIT (2020) – denken diese Ebenen immer mit, thematisieren sie, lassen sie die Kohärenz seiner Texte unterwandern und auch sprengen. Genau das macht seine Art der Literatur schwer zugänglich, für viele wahrscheinlich nicht lesbar, verleiht ihr aber eine intellektuelle Fallhöhe, die seine Kollegen nur selten erreichen. Vor allem aber kann der Autor so eine sehr genaue Reflektion über seinen Gegenstand und die Art der Verarbeitung, ihre eigene Wirklichkeit und ihr eigenes Recht, anstellen, die die Distanz zwischen dem einst reell Erlebten und der Repräsentanz durch einen und in einem Text vermisst.

Dementsprechend sollte man hier – trotz des Aufdrucks auf dem Umschlag – keinen „Roman“ im herkömmlichen Sinne erwarten. Drawert erzählt keine Geschichte, liefert keine kohärente Erzählung, eher gleichen die 19 Kapitel dieses Textes assoziativen Gedankenreihungen, die sich frei mäandernd von einem oft nicht erklärten und nicht erklärbaren Ausgangspunkt auf verschiedenen Ebenen – zeitlich, räumlich, formal, theoretisch-reflexiv – bewegen und sich gegenseitig durchkreuzen, befruchten, aber auch immer Widerstände für den Leser bieten. Diesen Text kann man nicht „herunterlesen“, er erfordert permanentes Reflektieren der eigenen Position als Lesender, aber auch schlicht hohe Aufmerksamkeit, damit der Leser sich nicht irgendwo zwischen den Gedankenketten verliert.

Drawert ordnet sich einer Dresdner Szene zu, die geprägt war von den „systemrelevanten“ Berufen ihrer Väter, die Beamte, Staatsanwälte, Parteifunktionäre waren, in deren Sinne sich die Söhne natürlich systemkonform zu verhalten gehabt hätten, deren tatsächliches Verhalten aber oft darin bestand, sich den Ansprüchen ihrer Familien, sprich: der Väter, zu entziehen, indem sie sich verweigerten. Verweigerung als Widerstand – eine Haltung, die Drawert spät im Text reflektiert und konkretisiert und ihr – vielleicht – einen Sinn einschreibt, den der Pubertierende, der früh Erwachsene, so nicht hineininterpretiert hätte. Drawert, geboren 1956, definiert damit aber auch einen maximalen Abstand zu Autoren wie Uwe Tellkamp, der, 1968 geboren, die DDR nahezu ausschließlich als junger Mensch erlebt hatte und zudem – ebenfalls Dresdner – einem Milieu entstammt, das sich als großbürgerlich definierte und darin auch Widerstand gegen den „Arbeiter- und Bauernstaat“ leistete, indem es streng an den Konventionen dieses Bürgerlichen festhielt. Drawert hatte bereits in der DDR veröffentlicht, was weder bei seinem Vater, noch weniger aber beim Großvater auf Verständnis stieß. Vor allem aber trug Drawerts Sprechen, sein Schreiben, das eben auch ein Sprechen ist, zur Verfestigung der Sprachlosigkeit innerhalb der Familie als Kleinstbiotop und zugleich Minimalversion der DDR bei, in der ja auch eher verklausuliert, wenn überhaupt laut, gesprochen wurde.

Drawert, auch darin in maximaler Distanz zu Tellkamp, aber bspw. auch Ingo Schulze, scheint die DDR wirklich gehasst zu haben, scheint früh durchschaut zu haben, was die Sprachlosigkeit eines ganzen Volkes (wenn man es denn so nennen will) mit eben den Menschen macht, die dieses „Volk“ bilden. Mehr noch als in SPIEGELLAND reflektiert er diese Deformationen durch Nicht-Sprechen, das Schweigens, das eingehüllte Wort, in DRESDEN. DIE ZWEITE ZEIT, was sicherlich sowohl am zeitlichen Abstand liegt, als auch in der Natur von nahezu 30 Jahren fortlaufender Geschichte, die schließlich in Phänomene wie die Dresdner Pegida-Bewegung mündete, bei der rechtskonservatives und teils reaktionäres (wenn nicht gar schon faschistisches) Denken sich problemlos mit einer seltsam anmutenden Nostalgie hinsichtlich der DDR, ja einer Sehnsucht nach den geordneten Verhältnissen eines starken, autoritären Staates, vielleicht sogar einer Diktatur, vermischte.

Umso spannender ist Drawerts Nachbemerkung, die er mit 2014/20 signiert, was also auch hier nochmal einen Zeitraum benennt, in dem Gedanken weiterentwickelt wurden oder sich gar erst gebildet haben – und in der sich sein Schreiben, sein Sprechen in Schrift, ebenfalls weiterentwickelt hat. Hier wird, ebenfalls auf hohem intellektuellem Niveau, noch einmal jener Text reflektiert, der da so kurz nach der Wende entstanden ist. Damals – auch das thematisiert Drawert in SPIEGELLAND – unter wirklichen Schmerzen des Körpers wie des Geistes ausgestoßen, in die Welt geworfen, immer wieder mit wochenlangen Pausen geschrieben und in ständiger Angst und dem Unwohlsein, nicht jene Sprache zu finden, nicht jenen Satz zu schreiben, der in sich stimmig, nötig und dadurch schön ist, um auszudrücken, was so dringend hinausmusste. Damals, so der spätere Drawert, sei das Buch zu früh gekommen. Zumindest zu früh für seine Landsleute aus den damals wirklich noch „neuen“ Bundesländern, weshalb es eher im Westen rezipiert und durchaus auch begeistert aufgenommen worden sei.

Das mag aber auch daran liegen, daß sich Drawert auch damals offensichtlich schon auf theoretischer Augenhöhe zu seinen westdeutschen Neu-Landsleuten bewegte, aber auch, weil er auf interessante und recht einmalige Weise die persönliche Familiengeschichte eben engzuführen verstand mit der Geschichte eines Landes, das letztlich an der eigenen Sprachlosigkeit erstickt, an der eigenen Unzulänglichkeit hinsichtlich seines paternalen Überbaus eingegangen war. Vielleicht aber auch, weil Drawert sich sprachlich gelegentlich auf einem Niveau befindet, daß viele westliche Leser damals gut gekannt haben dürften, denn gerade in jenen Kapiteln, die sich intensiv mit dem Vater und dessen Haltungen auseinandersetzen, später mit seiner Krankheit und der leere des Sohnes, der hier einen Triumph erwartet und doch nur damit konfrontiert wird, daß Rache leer ist, ein hohles Gefühl hinterlässt, das die eigenen Gefühllosigkeit nicht zu überdecken versteht, erinnert diese Sprache an Thomas Bernhard. Das Uneigentliche, die indirekte Sprache, die grammatikalischen Konstruktionen des „sagt man“, „so hieß es“, „meinte er“, eine Sprache des Nichtgreifbaren, der Distanz, die der Österreicher zu einem Kunstprodukt entwickelt hatte, das auch immer das Mittel der Ironie einschloß, wird Drawert zu einer Hilfestellung im Zugriff auf das Persönlichste und Unpersönlichste, womit es sich auseinanderzusetzen gilt: Dem Vater als Symbol (im Lacan´schen Sinne) der Übermacht eines Staates einerseits, der Unerreichbarkeit dieses Staates andererseits.

Es sind gerade diese Kapitel, die den Text gelegentlich enervierend machen, das Lesen zu einer quälenden Angelegenheit. Man muß, man sollte, da durch, auch wenn Drawert den zahllosen Auseinandersetzungen mit übergroßen Vaterfiguren, die die Literatur über die Zeiten hinweg hervorgebracht hat, nur wenig Neues hinzuzufügen weiß. Da bewegt er sich durchaus im Mittelmaß all jener etwas weinerlichen Söhne, die den Vater als Über-Figur ablehnen und unter ihm gelitten haben. Im Kontext dieses „Romans“ sind es aber wesentliche und gerade sich auch in ihrer Qual des Lesens erschließende Kapitel.

SPIEGELLAND ist sicherlich kein DER TURM (Tellkamp , 2008) und auch kein SIMPLE STORYS (Schulze, 1998) – Romane, die sehr anschaulich aus dem vergangenen wie dem neuen Leben der Ostdeutschen erzählten – eher schon könnte man ihn bei einem Autor wie Lutz Seiler (KRUSO; 2014) verorten, der über ein ähnlich hohes Sprachvermögen und ähnliche Reflektionsmöglichkeiten verfügt. Doch was sollen die Vergleiche? Drawerts Schreiben steht für sich und bietet Blicke auf ein untergegangenes Land, das vielleicht so virulent wie nie in den 30 Jahren seit seinem „Untergang“ in den Köpfen und auch Seelen seiner ehemaligen Bewohner gegenwärtig ist, die eine andere, eine spezifische Perspektive eröffnen und von einer eigenen Qualität zeugen, die selten bis nie anzutreffen ist in jenem Genre, das es gar nicht gibt, der DDR-Literatur, danach.

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