KRUSO

Lutz Seiler bietet ein sprachgewaltiges Bild vom Untergang der DDR

Welch eine Wucht! Welch Sprachgewalt! Was für Bilder, Metaphern und Vergleiche! Nach ca. 200 Seiten Lektüre denkt man, KRUSO (erschienen 2014) von Lutz Seiler sei sicherlich eines der besten Bücher deutscher Sprache, welches man seit mindestens 30 Jahren gelesen hat. Und ja, auch nach 476 Seiten bleibt der Eindruck weitestgehend bestehen. Wie häufig man an bestimmten Wendungen hängen bleibt, wie überraschend manche Metaphern sind, Begrifflichkeiten, die wie Widerhaken den Lesefluß unterbrechen und den Rezipienten innehalten und nachdenken, im besten Sinne des Wortes sinnieren lassen.

Seiler, eigentlich als Lyriker bekannt geworden, bleibt sich und seinem Leser nichts schuldig, es gelingt ihm, seine Sprachmächtigkeit in einen Roman zu übertragen, er bleibt sich als Poet treu und lässt die poetische Sprache in den Prosa-Text einfließen, ja, eindringen. Momentweise entsteht den Eindruck, daß die lyrische Sprache den Roman geradezu verdrängt, sich ihr eigenes Recht auf Uneindeutigkeit bei gleichzeitiger Verdichtung herausnimmt. Und so tritt ebenso momentweise das, was da erzählt wird, hinter der sprachlichen Fassung, der reinen Form, zurück. Und dennoch ist das spannend zu lesen, was da über die letzten Tage der Deutschen Demokratischen Republik berichtet wird, es packt, auch wenn Seiler sich aller herkömmlichen Sichtweisen entzieht und eine ganz eigene Geschichte und eine ganz eigene Erzählung aus einer ganz eigenen Perspektive auf diese historischen Tage und Wochen ausbreitet.

Seiler ist es allerdings nicht darum zu tun – und es ist sicherlich auch nicht sein Anspruch – die Sprache zum Eigentlichen seines Textes zu machen, um dem Leser die Welt als Sprache, in und aus Sprache gemacht, moduliert, zu präsentieren. Er ist, in diesem Sinne, nicht mit bspw. Peter Handke zu vergleichen. Seiler nutzt Sprache – brillant – , um seinen Lesern eine Welt nahezubringen, die in den Jahren des Entstehens dieses Romans bereits lange versunken war. Es ist die spezifische Welt der DDR unter den Bedingungen einer alternativen Lebensform, unter den Bedingungen dessen, was man im Westen gern als „Aussteigerleben“ beschrieb. Aber wie soll man in einem Land, das selber schon Inselcharakter hat, einen Ort finden, an dem man sich dem gesellschaftlichen Druck, der zugleich immer auch ein staatlicher ist, zu entziehen? Außer vielleicht auf einer Insel?

Die Inselmetapher hat es in der DDR-Literatur einige Male schon gegeben, exponiert vor allem bei Matthias Wegehaupts DIE INSEL (erschienen 2005). Seiler nutzt die Insel Hiddensee, die an sich schon ein ganz eigenes Odeur mitbringt, eine Symbolik, hatte sie doch schon lange bevor sie Teil der Deutschen Demokratischen Republik wurde den Ruf, ein Paradies für Freigeister zu sein. Gerhart Hauptmann vor allem gab ihr den Ruf einer „Künstlerinsel“, aber auch Schauspieler und Architekten kamen gern hierher, genossen eine intellektuelle, kulturelle und auch persönliche Ungebundenheit. Und auch während der Jahre der DDR war Hiddensee ein Rückzugsort für Künstler, Schriftsteller, Schauspieler und Intellektuelle. Aber eben auch für Aussteiger, die hier einerseits einen gewissen Geist der Freiheit atmen konnten, zugleich aber als Saisonarbeiter in den Gaststätten und Hotels der Insel Arbeit fanden.

Von genau solch einem Saisonarbeiter erzählt Seiler. Ed kommt nach Hiddensee. Er ist auf der Flucht. Er flieht vor der kaum zu bewältigenden Trauer um seine Freundin, im Buch nur G. genannt, die bei einem Unfall ums Leben gekommen ist. Er flieht aber auch vor dem, was Adorno einst damit umschrieb, daß es im falschen kein richtiges Leben geben könne. Ed ist Student der Germanistik in Halle/Saale, sein Kopf ist voller „Bestände“ – Zitate, Gedichte, Textpassage, vor allem von Georg Trakl, über den Ed forscht – , die ihn manchmal quälen, weil sie sich immer wieder in sein Bewußtsein schieben, zu passenden wie unpassenden Gelegenheiten. Ed fährt nach Hiddensee – eben gerade weil die Insel den Ruf hat, der oben beschrieben wurde – und kommt dort im „Klausner“ unter, einer auch im realen Leben existierenden Kneipe, einem Ausflugslokal im Norden der Insel. Hier lernt Ed, neben den anderen Angestellten, auch Kruso kennen.

Dieser Kruso ist sowohl der eigentliche Mittelpunkt des Romans – obwohl dieser rigoros aus der Sicht Eds erzählt wird – als auch das Emblem und das große Geheimnis des Romans wie der Insel. Kruso, oder besser Alexey Krusowitsch, genannt Aljoscha oder Losch, ist der Sohn eines russischen Generals und einer deutschen Zirkusartistin, er lebt und arbeitet seit jeher auf Hiddensee, er hat hier eine Sonderstellung und betreibt eine Art Geheimgesellschaft. Er organisiert Schlafplätze und Gelegenheitsarbeiten für die „Gestrandeten“, eben jene Aussteiger, die auf Hiddensee einen Hauch von Freiheit zu erhaschen hoffen. Er vertritt aber auch eine teils ausgefeilte, teils rudimentäre Philosophie der Freiheit, welche er nur in der äußeren Unfreiheit zu erlangen zu können glaubt.

Natürlich ist „Kruso“ eine Anspielung auf Defoes Inselhelden, der einst mit dem Eingeborenen „Freitag“ Jahre und Jahrzehnte auf einer Südseeinsel verbrachte, bevor er gerettet wurde. Nur ist das Verhältnis hier umgekehrt – „Kruso“ gehört sozusagen zum Inselinventar, während Ed, der dem Defoe´schen „Freitag“ entspricht, ein „Gestrandeter“, ein „Schiffbrüchiger“ ist. Es ist nicht die einzige literarische Anspielung des Romans. Krusos Geheimnis und tiefer Schmerz ist die Liebe zu seiner Schwester, die ihn einst, als kleinen Jungen, am Strand zurückließ und ins Meer ging. Wollte sie fliehen, wie so viele es versuchten, direkt unter den Augen der Stasi und der NVA? Oder wollte sie aus einem Leben scheiden, das ihr in all der Beengung nicht mehr lebenswert erschien? Wie Kruso, wie Ed, wird auch der Leser dies nie mit letzter Sicherheit erfahren. Eds Trakl-Besessenheit verweist auf das mögliche Verhältnis von Bruder und Schwester, wurde Georg Trakl doch gern ein inzestuöses Verhältnis zu seiner Schwester nachgesagt. Einer der Kellner im „Klausner“ wird Rimbaud genannt und auch dies darf man getrost als intertextuellen Bezug verstehen. Manches Mal fühlt man sich an Uwe Johnson und dessen JAHRESTAGE erinnert, an anderen Stellen an Siegfried Lenz´ DEUTSCHSTUNDE und andere Werke des großen Chronisten (west)deutscher Nachkriegsbefindlichkeiten.

Seiler nutzt seine Sprache und die Querverweise oft, um im Ungefähren, in der Anspielung, im manchmal märchenhaft Anmutenden zu verbleiben; kontrastiert aber auch mit äußerst realistischen Beschreibungen der zu verrichtenden Arbeit im Klausner, die durchaus abstoßend und eklig ist. Wie es immer wieder aus der ehemaligen DDR berichtet wird, nutzt und entwirft aber auch Seiler eine Sprache, die selten benennt, was sie meint und oft auf Umwegen zu dem gelangt, wovon zu erzählen ist. Das hat zur Folge, daß sich durch den Roman ein Raunen zieht, ein Wispern von Dingen, die verborgen sind, von tieferliegenden Wahr- und Wirklichkeiten, es wird vieles angedeutet und nur manches erklärt. Diese versteckte und versteckende Sprache korrespondiert mit Krusos „Freiheitsphilosophie“. Es ist dies auch der Moment, etwa nach 200 Seiten, der den Leser stutzen lässt. All diese Sprachgewalt scheint eben auch etwas zu verschleiern. Und es ist dies eben diese seltsame Freiheitsidee, die Kruso vertritt. Sicher, es ist nicht neu, daß wahre Freiheit vielleicht nur da entstehen kann, wo die äußere Freiheit eingeschränkt ist. Eine Haltung, die gerade DDR-Schriftsteller nicht selten vertreten haben. Eine Sprache, die so bedingt ist durch staatliche Repression und Einflußnahme, sucht sich Wege, Umwege, um zu benennen, was nicht benannt werden darf, nicht benannt werden soll. Sie sucht Wege, um frei zu sprechen, indem das Eigentliche im Uneigentlichen sich äußerst, in der Umschreibung, der (schiefen) Metapher, im Ungefähren. Es ist aber auch dieses Ungefähre, das seinerseits wieder Hierarchien festlegt. Denn „drin“ ist nur, wer die Anspielung auch versteht, mitreden kann nur, wer die Codes kennt und die sprachlichen Zeichen genau zu deuten versteht.

Und so raunt nicht nur Kruso von einer Freiheitsidee, sondern auch KRUSO, der Roman, selbst. Seiler schreibt eine DDR-Geschichte, vorbei an allen gängigen Klischees und Ansätzen. Die Wende, die in die Monate fällt, in denen Ed auf der Insel weilt, spielt nur indirekt eine Rolle, was auch daran liegt, daß lediglich ein altes Viola-Radio, das nur ausschließlich den Deutschlandfunk wiedergibt, die einzige Verbindung nach „draußen“ ist. So kommen die großen Veränderungen des Sommers, die Flüchtlinge in den BRD-Botschaften in Warschau und Prag, so kommt das berühmte „Picknick“ in Ungarn, das schließlich in eine Massenflucht gen Österreich gipfelte, nur zeitlich verzögert im „Klausner“ an. Dann aber, ab Oktober und erst recht im November, leert sich auch das Lokal, das Kruso und Ed so liebevoll die „Arche“ nennen. Auch die Freunde und Kollegen werden vom großen Sog ergriffen und setzen sich ab. Dieser Entwicklung kann auch Kruso nichts mehr entgegensetzen – was bei ihm zu fortdauernder Verbitterung beiträgt.

KRUSO ist vor allem die Geschichte einer Freundschaft unter den Bedingungen der Diktatur, es ist aber auch – darin Uwe Tellkamps DER TURM nicht ganz unähnlich – die Beschreibung einer Nische, eines träumerischen, fast verwunschen wirkenden, magischen Enklave, in der etwas überdauert (Tellkamp) oder möglich ist (Seiler), das in der restlichen Republik nicht oder nur gelegentlich und nur unter große Risiken möglich war. Was Tellkamp das Bürgertum, ist Seiler eine Aussteigergesellschaft. Doch anders, als es bei Tellkamp der Fall ist, hat man bei Seiler trotz allen Geraunes und aller Nische – oder gerade deswegen? – den Eindruck, stärker als in anderen Romane zur DDR und zur Wende, Einblicke in Gedanken und Leben echter Bürger dieses Landes zu erhaschen. Das ist, neben der sprachlichen Brillanz, das eigentliche Verdienst und Gelingen dieses Romans.

Man muß nicht mit allem übereinstimmen, was Kruso da so von sich gibt, auch die Härte, die unter den Saisonarbeitern der Insel herrscht, mag manchmal abstoßen, man mag nicht jede Wendung mitgehen, man mag Ed, der gerade zu Beginn seiner Insel-Zeit häufiger in Fantastereien verfällt, bei denen sich ihm Wirklichkeit, Traum und Einbildung ineinander zu schieben scheinen, in seiner Unentschlossenheit nicht folgen mögen und man kann den Epilog, der aufgesetzt und angeklatscht wirkt, getrost für überflüssig halten – man wird aber nicht umhin können, KRUSO für eines der wesentlichen deutschen Werke der letzten 30 Jahre und mehr zu halten. Ganz unabhängig davon, ob sein Thema die DDR oder die Wende sein mag. Es ist schlicht ein großer, vor allem sprachlich großer Roman.

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