SATIN ISLAND
Verloren im Meer der Zeichen...und Wunder...
Tom McCarthy sitzt mit einem Stipendium in New York und denkt darüber nach, daß man keinen Roman schreiben kann – genauer: Er denkt über die Unmöglichkeit nach, einen Roman zu schreiben. Tom McCarthy hat aber sehr viel gelesen – ganz sicher den Anthropologen Claude Lévi-Strauss, ebenso sicher Ferdinand de Saussure und auch all dessen Epigonen, Kritiker und Nachfolger von Roland Barthes, über Michel Foucault bis zu Jacques Derrida. McCarthy kennt die sogenannten Postmodernisten und Poststrukturalisten ganz genau und ist sich also generell aller Unmöglichkeit einer kohärenten Narration vollauf bewusst. Was also wäre einfacher, als genau diese Unmöglichkeit zum Thema eines…? Genau.
U. – so der Name des uns berichtenden Icherzählers – arbeitet als Anthropologe in einem nie näher beschriebenen Unternehmen, das im weitesten Sinne wohl Beratung bietet. Sein Chef, Peymann, hat einen großen, ebenfalls nie näher beschriebenen, supergeheimen Auftrag, das Koob-Sassen-Projekt, an Land gezogen, woran U. ab nun exklusiv arbeiten soll. Dennoch geistert ihm zugleich ein ominöser Auftrag im Kopf herum, den Peymann ihm im Grunde nie erteilt, eher empfohlen hat: Er, U., solle doch einen Bericht über alles schreiben. Form wie Inhalt, Art der Präsentation wie Konservierung sind U. vollkommen freigestellt. Und während seine Arbeit am Koob-Sassen-Projekt scheinbar enorm erfolgreich ist – er wird belobigt und gefeiert, ohne je wirklich zu erfahren, worin seine Beteiligung eigentlich bestand – droht er an dem Bericht zu scheitern. Zunehmend wird sein Denken von diesem Scheitern beherrscht, bis ihm eine Vision den Weg weist hin zu dem, was ein ewiges Jetzt formal eigentlich ausmacht.
Wenn Ferdinand de Saussure uns lehrt, daß ein jeder Signifikant sich über die Unterschiedlichkeit zu allen anderen Signifikanten definiert und im Kontext gebildet wird, jedoch immer noch abhängig vom Signifikat (als Bezeichnetes und also Sinnstiftendes) sei, so führt Jacques Derrida diese Überlegung derart weiter, daß es keinen Signifikant mehr geben kann, da Sprache (Zeichen; Texte) ein immanentes System sei, in dem alles sich auf alles bezieht. Jedes Zeichen sich auf ein anderes beziehen kann, nein, beziehen muß. Bedeutung generiert sich also aus den Zeichen und dem Spiel der Zeichen untereinander, Bedeutung ist immer ein Überschuss, über den das Zeichen als solches keine Macht besitzt. Man hat es mit einer spielerischen, einer dauernden Bewegung von Bedeutung, Pfropfung, Markierung zu tun, in welchem sich diese ebenso dauernd verändern und verschieben. McCarthy nimmt genau dies ernst und lässt seinen Protagonisten U., der die „Geschichte“ aus der Ich-Perspektive erzählt, genau diesen Kontextualisierungen, diesem Spiel der Bedeutungen nachspüren. U. wird alles zum Zeichen und alles zur Bedeutung – nur er ist in der Lage, die Zusammenhänge herzustellen und auszudeuten. Ganz nebenbei erhält der Leser eine kleine Einführung in die Arbeit des Anthropologen, in die Morphologie und lernt nach und nach zu verstehen, warum gerade die Zwischenräume der Bedeutungen, die Grauzonen, da, wo sich eben Bedeutungsüberschuss sammelt, so wesentlich sind. Und wie der Anthropologe sich die Unterschiedlichkeit nicht nur zu Nutze, sondern geradezu zu einem Verbündeten macht bei seiner Weltlektüre. U. meint zunehmend den geheimen Zusammenhang in allem zu erkennen und muß doch immer wieder erleben, wie die Unberechenbarkeit der scheinbaren Wirklichkeit ihm Striche durch seine Rechnungen und Gleichungen macht. Mit jeder zusätzlichen Information ändert sich jedes theoretische Konstrukt grundlegend. Da Informationen aber immer fließen und sich jeder Sachverhalt somit ununterbrochen ändert, ist eine gültige Aussage über eine Wirklichkeit außerhalb eines ewigen Präsens, also eine Wirklichkeit, die sich in das Gefüge aus Vergangenheit und Zukunft einbettet, nicht mehr möglich. Die einzige Form, in der ein Bericht über die Gegenwart abzufassen ist, ist die Gegenwart selbst.
Daß in einer Welt, die nur noch textuell zugänglich ist, Emotionen, zwischenmenschliche Ereignisse, Interaktion nur noch bedingt eine Rolle spielen – vielleicht ist dies noch am ehesten die Bedeutung, die dieser Roman/Text für sich reklamiert. U. pflegt eine Intimbeziehung zu einer Frau, die sich immer geheimnisvoll gibt, die in dem Moment, in dem sie bereit ist zu erzählen, von einem fürchterlichen Ereignis während des G-8-Gipfels in Genua berichtet und deren Bericht dennoch eher an den Besuch einer Kunstaustellung erinnert, als an die traumatische Erinnerung einer Geschändeten. Fast fühlt es sich an, als wolle McCarthy hier die letzten traurigen Versuche denunzieren, die Menschen noch unternehmen, um sich gegen die Macht der Ökonomisierung und also einer anonymisierten Gegenwart zu stemmen. Doch denunziert er eher U., der keinen emotionalen Zugang mehr zu Themen außerhalb seines unmittelbaren Umfeldes findet. Allerdings ist sein unmittelbares Umfeld ja mehr oder weniger die ganze Welt. Die ersten zehn Seiten des Textes sind ein furiose-atemloser Ritt durch die perfekt multi-medialisierte Globalisierung und ihr über Kontinente und Zeitzonen hinweggreifendes Zusammenwirken. U. sitzt mittendrin und dennoch nur am Rande. In diesem Spannungsfeld bewegt sich also SATIN ISLAND und spielt dabei nicht nur mit seinen Thesen und theoretischen Ansätzen, sondern auch mit dem Leser. Manchmal mit dessen Geduld. Oft mit seinem Gefühl.
Doch sollte man diesen Bedeutungsebenen nicht zu viel Aufmerksamkeit schenken, nicht zu viel Bedeutung beimessen, sozusagen. Man hat es bei SATIN ISLAND keinesfalls mit einem Roman im herkömmlichen Sinne zu tun. Eher mit einer ebenso tiefschürfenden wie humorvollen kulturtheoretischen Abhandlung. Daß der Text und sein Autor sich dabei vor allem in den modernen Medien umschauen, daß die Oberflächen von Fernsehern und Rechnermonitoren, daß das Weißglühen der Smartphones und das Blinken an Anrufbeantwortern dabei nahtlos in die Signifikantenketten eingereiht werden, ja, dort sogar, sollte man das Saussure folgende Barthes´sche System binärer Oppositionen anerkennen, die hierarchisch eindeutig übergeordnete Positionen einnehmen, das, was einst als „reale Welt“ wahrgenommen wurde zunehmend zu dem wird, was Saussure ‚Supplement‘ nennt, daß also das Multimediale hier gesonderte Aufmerksamkeit genießt, sollte in Zeiten des www. und der Smartphones, Tablets und Gigabytemonster nicht weiter verwundern. Was, so scheint uns der Text zu fragen, was kann ein Text, bestehend aus den phonetischen Zeichen unseres Alphabets, denn überhaupt noch ausrichten gegen die Fülle nicht-sprachlicher/phonetischer Zeichen und Symbole, die uns Tag für Tag zu ertränken droht? Was ist Form? Was Inhalt? Tom McCarthy lässt die Zeichen tanzen, er wirbelt die Sprache auf und lässt die Gedanken Pirouetten drehen, daß es eine Lust ist.
Sicher, man muß Spaß an dem Nebeneinander von intellektuellem Überschäumen und manchmal giftigem Humor haben. Wenn McCarthy anhand einer defekten, Millionen Liter Rohöls ins Meer pumpenden Bohrinsel das Prinzip der Différance erläutert und dabei die Ästhetik des Unglücks erhellt, kann einem bei der Lektüre durchaus das Lachen im Halse stecken bleiben. McCarthy verunsichert den Leser maximal, wenn er U., der sich mit diesem Namen phonetisch natürlich den Leser zu eigen macht, seine Umwelt zunehmend als eine Art Theater wahrnehmen lässt. Und der Intendant, der große Macher und Regisseur hinter all dem ist Peymann – wir dürfen davon ausgehen, daß Tom McCarthy ganz genau weiß, wessen Namen er da adaptiert. Und so führt er uns mit manchmal beißender Ironie ins Theater der abnehmenden Bedeutungen, läßt den Leser durchaus ratlos zurück und wendet sich lässig ganz anderem zu. Ohne es zu merken, hat man am Ende dieser 220 Seiten ein sehr gefährliches Schloss, eine Pforte geöffnet, die das Lesen selbst zu einem Abenteuer macht. Grandios.