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Ein großer europäischer Gesang - aktueller, als wir es gern hätten
In einem Zug von Mailand nach Rom sitzt ein junger französischer Beamter, der einen Metallkoffer voller Belege für Massenmorde, Kriegsverbrechen, Untaten, Morde, Vergewaltigungen und Folter mit sich führt. Diesen will er an den Vatikan verkaufen, um sich damit ein neues Leben zu erkaufen. Seinem Gedankenstrom folgen wir lesend, fast lauschend, möchte man sagen. Er selbst war aufgrund seiner kroatischen Herkunft an den Kriegen und Kämpfen auf dem Balkan in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts verwickelt. Nun versucht er vor sich selbst, aber auch in stiller Zwiesprache mit seiner Mutter, den Frauen in seinem Leben, dem Vater und uns, den Lesern, zu rechtfertigen was er getan hat, aber auch zu erklären, was ihn, den in Wohlstand und Frieden aufgewachsenen Jungen eines für die Franzosen in Algerien folternden Vaters dazu brachte, an diesen Kriegen teilzunehmen und dann für den französischen Geheimdienst die geheimen Kriege der (Post)Moderne fortzuführen. Dabei ist er immer in der Hoffnung an seinem Bestimmungsort Rom eine von ihm zutiefst verehrte und auch begehrte Frau wiederzutreffen, von der er aber keineswegs weiß, ob sie ihn überhaupt wiedersehen will, von der er aber eine Art Erlösung erhofft, Erlösung davon, sich selbst als Monstrum wahrnehmen zu müssen, die Erlösung, noch einmal Mensch sein zu können.
Sich an der Odyssee orientierend, erzählt Mathias Énard in einem großen Gesang, ohne Punkt und Komma und dennoch in einem Rhythmus, der den Leser immer verstehen läßt, wo er sich in der Erzählung befindet, von den Schmerzen, den Gräueln, den Wunden und tiefen Narben, die Europa geschunden, geprägt und zerissen haben.
Énard nimmt den europäischen Gründungsmythos sehr ernst, indem er auf europäische Urtexte, Homers ILIAS und ODYSSEE, zurückgreift. Diese handeln vom Krieg und der Suche nach Heimat. Énards Protagonist, der gedanklich die Region rund um das Mittelmeer abwandert, dabei den Kriegen und Vernichtungen folgend, die sie durch die Jahrhunderte europäischer Geschichte geprägt haben, ist selbst ein Heimatloser. Dem ehemaligen Kroatien entstammend, diesen Wurzeln auch durch seine Verwandten, die die „verweichlichten“ westlichen Zivilisationen verachten, verbunden, sucht er sein Glück, wie er erzählt, in einer bürgerlichen Ehe mit einer durch und durch bürgerlichen Frau, die sich ihm, dem „Monstrum“, jedoch in der Gründung einer „richtigen“ Familie, also einem Kind, verweigert. Allerdings will sie eben auch ihre eigene Karriere, will ihre eigenen Erfolge, will sich auch nicht den Schrecken und den Gespenstern aussetzen, die den Protagonisten umtreiben. Sie will im Innendienst arbeiten, wo all die grauenhaften Details dessen, was an den Orten selbst geschieht, nur Erzählungen, Schrift, Text sind, eben nicht Blut und Knochen und Organe, die durch Waffen, Raketen, Mörser zerrissen wurden.
Wir werden in diesem Text, der einem einzigen Satz gleicht, der auf Interpunktion komplett verzichtet und dennoch verständlich bleibt, Zeuge eines typischen postmodernen Schicksals: Entwurzelt, fragmentiert und heimatlos, sucht dieser Mensch danach, irgendwo auf der Welt ankommen und bleiben zu dürfen und zwar er selbst sein und bleiben zu dürfen. Daß er dabei vor allem ein Entwurzelter ist, weil er an den Sollbruchstellen moderner Zivilisationen arbeitet, dort, wo geheime Gesellschaften (Geheimdienste) immerzu daran arbeiten, geheime, nicht nachvollziehbare Entscheidungen durchzusetzen und zu verwirklichen, damit andere ihre Heimat verlieren, bzw. dieses Konstrukt „Heimat“ ein Begriff ohne Inhalt wird, macht ihn einerseits exemplarisch zu einem postmodernen Menschen und könnte somit – auch in der Umwelt, in die der Roman ihn setzt – als symbolisch betrachtet werden. Doch wagt Énard ein Epos, einen weiten Panoramablick auf dieses Europa und auf die Jahrhunderte, die es durchlebt und durchlitten hat und macht seine Figur damit zu einem sehr spezifischen Agenten europäischer Geschichte.
Wir täten alle gut daran, scheint uns der Autor durch diesen im Original dem Rhythmus eines Zuges folgende Text zuzuraunen, uns darauf zu besinnen, was dieser Kontinent an Schmerz, Hass, Gewalt und Tod bereits durchmachen musste in nahezu 2000 Jahren Geschichte. Es wäre an der Zeit, uns eine neue Geschichte, neue Aufgaben zu suchen, damit wir, müde all dieser Vernichtung, daran arbeiten könnten – auch exemplarisch in einer Welt, die nahezu ununterbrochen weiterhin Schmerz, Gewalt und Tod produziert – endlich andere, vielleicht bessere Beispiele auszusenden. Und zugleich verdeutlicht uns dieser Text, wie wir unserer Geschichte, egal wie gleichgültig wir uns ihr gegenüber zeigen, nicht entkommen können, wie sie uns niemals losläßt, entkommen läßt, vergessen läßt.
Mathias Énard ist ein großer Gesang, ein großer Text, ein großer Roman gelungen, der viel wagt, indem er sehr weite, sehr offene Blicke in die Geschichte wirft und der auf der ganzen Linie gewinnt, weil es ihm gelingt, seinen Blick offen und unkorrumpierbar zu halten, ebenso die Sprache und den Ton. Es ist nicht immer leicht erträglich, diesem Gesang zu folgen, notwenidg ist es allemal. Und auf eine seltsame Art und Weise ist es sogar ein sprachliches, ein lyrisches Vergnügen.