TRUTZ
Ein weiterer Teil in Christoph Heins Panorama ostdeutschen Lebens
Nur ein Jahr nach dem Roman GLÜCKSKIND MIT VATER (Berlin, 2016) legt Christoph Hein sein neues Werk TRUTZ vor, erneut die Beschreibung eines ostdeutschen Lebens unter den Bedingungen der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Anders als im Vorgänger oder auch schon in der früheren LANDNAHME (Frankfurt a.M., 2004) und in FRAU PAULA TROUSSEAU (Frankfurt a.M., 2007), die alle spezifisch ostdeutsche Schicksale in der DDR selbst behandelten, greift Hein diesmal nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich weiter aus.
Er erzählt – von einer Erzählerperspektive aus, die seinen eigenen Standort beschreiben könnte, immerhin erklärt der namenlose Erzähler uns, auf die Geschichte seines Protagonisten während seiner Recherchen zu einem Roman über einen Terroristen gestoßen zu sein, was Heins eigenen Recherchen zu seinem Werk IN SEINER FRÜHEN KINDHEIT EIN GARTEN (Frankfurt a.M., 2005) entspräche – von dem Schriftsteller Rainer Trutz, der in den frühen 1930er Jahren aus seinem Dorf in Vorpommern nach Berlin kommt, dort seine Frau Gudrun kennenlernt, mit dieser dank der Freundschaft zu einer sowjetischen Kulturbotschafterin nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten und ersten Repressionen nach Moskau flieht und dort Vater des jungen Maykl wird. Die Familie Trutz lernt den Linguisten und Mnemoniker Waldemar Gejm kennen, sie freunden sich an, Maykl und der Sohn der Gejms, Rem, werden von Waldemar im Zuge seiner Studien in mnemonischen Techniken ausgebildet, was beiden später auf ihren Lebenswegen helfen wird. Die Säuberungen unter Stalin 1937/38, der Krieg, erneute Repressalien durch das Regime gerade gegen die Auslandsdeutschen, Verbannung – all diese für ein Sowjetleben durchaus typischen Entwicklungen schildert der Roman; schließlich kehrt er mit dem fast erwachsenen Maykl zurück in das gerade neu entstehende Deutschland, wo er eine leidliche Karriere macht, allerdings auch und gerade aufgrund seiner Geschichte als Flüchtlingskind und Rückkehrer neuen Repressalien ausgesetzt ist. Endend nach der Wiedervereinigung mit einem Treffen der alten Freunde Maykl und Rem, umfasst TRUTZ also ein gutes Stück deutscher Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Christoph Hein hat immer einen eher zurückhaltenden Stil gepflegt, manches Mal mutet das dann schon zu gleichförmig, fast phlegmatisch oder gar depressiv an, wie in dem frühen DER FREMDE FREUND/DRACHENBLUT (Berlin, 1982) oder streckenweise auch in WILLENBROCK (Frankfurt a.M., 2000). Da spiegelt es allerdings eine Stimmung, eine Grundhaltung wider, dient dieser Prosastil also durchaus der Erzählung. Vielleicht schon in WILLENBROCK deutete sich jedoch eine Änderung an. Immer stärker bediente sich Hein eines eher dokumentarischen, rein deskriptiven Stils, der den Erzählungen immer stärker den Anstrich von Berichten verpasste. Das manchmal arg gleichförmige Tempo, die mangelnde Dramaturgie, die sich selten erregende Sprache, die genutzt wird, entspricht natürlich dem Fluß der dahingleitenden Zeit, der Geschichte, die sich als unempfänglich für menschliches Leid erweist. In TRUTZ führt das zunächst dazu, daß der Leser dem Geschehen entäußert bleibt, selbst die schrecklicheren Ereignisse distanziert zur Kenntnis nimmt, zugleich aber entsetzlich wirkt, wenn sie beispielsweise ebenso lapidar wie kurzerhand den Tod einer Figur beschreibt, die dem Leser dann doch ans Herz gewachsen ist. Hein weiß diese Momente mit hoher Präzision zu setzen und damit genau die Sicherheit zu nutzen und zu untergraben, die seine Sprache zuvor schuf.
Die Geschichten der Familien Trutz und Gejm, die einerseits exemplarisch sind in der Zusammenkunft hoher akademischer und proletarischer wie künstlerischer Kreise und damit ein Schlaglicht auf bestimmte Flüchtlingsströme wirft, die nicht gen Westen oder Süden nach Marseille und dann ins gelobte Land Amerika auswandern konnten, sondern denen vor allem der Weg nach Osten und damit oftmals vom Regen in die Traufe blieb, andererseits ist das Schicksal der Freunde Maykl und Rem durch ihre gemeinsame Geschichte als trainierte Mnemoniker außergewöhnlich genug, um das Interesse des Lesers zu fesseln. Christoph Hein schaut mit brennendem Blick auf die Schicksale eben dieser Generation und ihre Hoffnungen und Enttäuschungen. Man könnte kritisieren, daß die Stalinistische Sowjetunion in Heins Text weitaus genauer betrachtet und in ihren oft grausigen Entwicklungen und Auswirkungen beschrieben wird, als das Deutschland unter Hitler 1933/34. Doch zollt Hein damit einerseits der historischen Realität Respekt, denn als die ersten Terrorwellen die Sowjetunion zu erschüttern begannen, konnte man in Deutschland zwar absehen, daß es auch dort schlimm wird, wie schlimm es werden sollte, war allerdings noch nicht zu erahnen, andererseits verlässt sich Hein wohl auf Intelligenz und Bildung seiner Leser, von denen er weiß, daß es nur gewisser Schlüsselbegriffe bedarf, um bestimmte Zusammenhänge zu evozieren. Daß die Familie Trutz Deutschland bereits anderthalb Jahre nach der Machtergreifung verlassen muß, verdeutlicht zudem, wie hoch der Druck des Regimes schon zu dieser Zeit auf politische Gegner war. Rainer Trutz wird als Schriftsteller verfolgt, seine beiden veröffentlichten Romane werden in Folge der Bücherverbrennungen 1933 als entartet angegriffen, Gudrun als Mitglied der Gewerkschaft der christlichen Sozialisten, die ihr später auch in Stalins Reich zum Verhängnis werden soll. Für Menschen wie sie wurde es n Deutschland sofort ungemütlich.
Allmählich kann man Christoph Heins letzte Werke inhaltlich wie stilistisch als Chronik auffassen, die einen Panoramablick auf ostdeutsches Leben wirft, auf seine Prägungen und Ausprägungen, auf die Wesensmerkmale und die Spezifika, die es bestimmten und auch regulierten. In dieser Chronik nimmt TRUTZ durch die Ellipse über die Sowjetunion eine gewisse Sonderstellung ein, werden hier doch mehr als in früheren Werken der Blick und auch der Einfluß von außen thematisiert. Also der sowjetische Einfluß. Das ist möglicherweise ein Komplex, dessen sich weder die zeitgenössische Forschung noch Literatur oder die Künste (abgesehen von Neo Rauch vielleicht) wirklich angenommen haben. Hein eröffnet ein weites Feld und gibt ein paar Eindrücke, was da durchaus noch zu bewältigen sein könnte. Literatur als Seismograph, als Beschreibung, als Bericht – als ein Bericht aus dem ach so lang vergangenen 20. Jahrhundert, das immer noch herüberlangt in unsere scheinbar doch so andere Zeit und sie immer noch mitzubestimmen versteht.