IM STEIN
Von der Verfasstheit des Landes
Ein vielstimmiger, oft chaotischer und somit kakophoner Chor hebt an in Clemens Meyers Werk IM STEIN. Da sprechen Luden, besser: Im Vermietungswesen Tätige, da sprechen die Damen, an die diese Herren vermieten, daß sie ihrer Arbeit ungestört nachgehen können, da sprechen Anverwandte jener Damen, die im Sog aus Drogen, Sex und der Nacht verschwunden und nie mehr aufgetaucht sind, da sprechen Polizisten einerseits und Halb- und Vollzeitkriminelle andererseits und sie alle sprechen scheinbar wahllos durcheinander. Zu einem „Chor der Nacht“, so die durchwachsene Kritik an dem Buch, schwellen diese Stimmen an. Ist das so? Oder ist es vielmehr so, daß man es hier mit einem vielstimmigen großen Gesang jener 20 Jahre zu tun hat, die seit der Wende vergangen sind? Ein Chor, der erzählend und kommentierend zugleich davon berichtet, wie ein ganzes Land nach und nach übernommen und dabei kräftig übers Ohr gehauen wurde? Wie die Halbseidenen und die vermeintlich besonders Pfiffigen sich zu bedienen wussten, als es darum ging, sich die besten Plätze für den Start ins „Neue Deutschland“ zu sichern? Und kann es sein, daß das dem Betrachter, der zum Erzähler wird, zum Arrangeur dieses Chors, all dieser Stimmen, schlichtweg vorkommen muß wie die größte Prostitution, die es in diesem Lande je gegeben hat? Daß „Prostitution“ zur Chiffre wird? Zur Metapher auf diese „Goldgräberjahre“, die „wilde Zeit“ nach der Wende, als im Osten „alles ging“? Als das Geld floß und man zugreifen musste und sich bedienen musste, wollte man nicht auf der Verliererseite der Straße enden?
Sicher, es geht um das sogenannte Rotlichtmilieu, es geht darum, wie in diesem Milieu Menschen benutzt und weggeworfen, wie sie ausgebeutet und zur Ware werden. Es geht aber auch darum, wie sie durchaus zusammenhalten können, wie es gelingt, unter den herrschenden Umständen seine Würde zu bewahren, es geht um das Vergehen der Zeit und was es mit einem macht. Clemens Meyer hat keine stringente Geschichte zu erzählen, er läßt Fragmente aus einer Wirklichkeit erzählen von denen, die sie erleben (müssen) und was sich dabei zusammensetzt, sind teils sich ergänzende, teils im narrativen Nirgendwo versandende Stränge von Lebenswegen, Ideen und Geschäftsabschlüssen. Dabei kreist dieses Erzählen um „Eden-City“, Leipzig, und dessen Rotlichtviertel; zentrale Figuren sind „AK47“, ein „Vermieter“, der den Damen die Räumlichkeiten zur Verfügung stellt, der Clubbesitzer Hans, der „Bielefelder Graf“ und die Engel, jener Motorradclub, der immer stärker um die Jahrtausendwende einsteigt ins Geschäft mit dem lebendigen Fleisch. Auf diese Protagonisten kommen die meisten Erzählungen irgendwann zurück, wieder und wieder werden Facetten deutlicher, die zum Verständnis beitragen, um die Geschäftsbeziehungen zu verstehen, die alle Parteien miteinander eingegangen sind, um zu verstehen, wer sich wie gegenübersteht, zwischen wem zumindest freundschaftliche Bande zu spüren sind und wer einfach nur gefährlich, weil vollkommen undurchsichtig ist.
Hinzu kommt eine Anzahl namenloser, jedoch in ihren Erzählungen mit viel Liebe zum Detail ausgestatteter Huren. Ihre Erzählungen gehören mit zum besten, was dieses Buch zu bieten hat, gerade weil es Meyer gelingt, sie weder eindimensional als Opfer noch – ebenso eindimensional – als „Huren mit Herz“ darzustellen, sondern ganz unterschiedliche Wege in diese Art der Betätigung aufzeigt und dabei weder halt macht vor Beschreibungen der Härten des Geschäfts, noch davor, dessen manchmal unfreiwillig komischen Seiten offenzulegen.
Das ist sperrig. Man muß diese 22 Kapitel sehr aufmerksam lesen, denn oft erschließen sich Zusammenhänge erst nach Hunderten von Seiten. Meyer schreckt nicht davor zurück, in einem Satz sowohl zwei unterschiedliche Icherzähler, als auch noch eine auktoriale, erklärende Stimme zu Wort kommen zu lassen. Zudem schert er sich oftmals nicht darum, ob die gerade Erzählenden zu identifizieren sind (sie sind es oft nicht). Man kann dem folgen, man erkennt einzelne Stimmen auch durchaus wieder, doch nie fügt sich dies alles zu einer Kohärenz zusammen. Das Buch lädt oft nicht zum Schmökern ein, nein – „schmökern“ ist sowieso das falsche Wort in Bezug auf Thema, also Inhalt, als auch die formale Umsetzung – es ist viel mehr eine offene Zumutung. Man könnte es so sagen: Dieses Buch will nicht geliebt werden, so, wie die Damen, um die sich alles dreht, von ihren Kunden nicht geliebt werden wollen, es will dem Leser oft schlichtweg einen Hieb in die Magengrube verpassen.
Man kann durchaus Kritik üben daran: Allzu oft werden einem diese Typen da auch zu schnell sympathisch, es entbehrt manchmal nicht eines gewissen Witzes, was und auch wie erzählt wird und ein Jargon, der jenem gleicht, wenn Opa vom Krieg erzählt, schleicht sich ebenfalls ein. Zu sehr gehe Meyer seinem Sujet auf den Leim, zu selten würde die ganze Härte dieser Zunft dargestellt, war in der Kritik zu lesen. Meyer nähme keine klare Haltung ein. Das ist alles richtig, man kann es so sehen. Doch müsste man dann konstatieren, daß man es hier wirklich mit einer Art Sozialreportage aus dem Rotlichtmilieu zu tun hätte. Und dem aufmerksamen Leser wird nicht entgehen, daß dem nicht so ist. Wie angedeutet wird zu oft der Blick auf das ganz große Panorama geöffnet, wird die Spezifik dieses Gewerbes mit der kapitalistischen Übernahme der ehemaligen DDR durch die Bundesrepublik kurzgeschlossen, als daß nicht recht früh bei der Lektüre der Eindruck entstünde, es hier mit einem kühlen, oft wirklich maximal distanzierten Blick auf die allgemeinen Geschehnisse der Zeit nach 1990 zu tun zu haben. Da wird ein ganzes Land prostituiert und den brutalen Gesetzen eines an sich schon brutalen Marktes unterworfen, dessen Bedingungen sich am „Milieu“ lediglich noch enimal verschärft genauer ablesen lassen.
Es ist nicht zu bestreiten, daß es auf der Strecke von 560 Seiten durchaus Längen zu bemängeln gibt, nicht alles gelingt dem Autor gleich. Einige seiner Charakterisierungen wirken arg konstruiert, an medialen Vorbildern angelehnt. Dann allerdings baut er eine Szene ein, in der ein namenloser Fragesteller (der Autor?) einen Engel – den „Mann hinter den Spiegeln“ – befragt. Und wie der den Fragesteller vorführt, auflaufen läßt und auch lächerlich macht, verdeutlicht schon intensiv, wie die Recherche zu diesem Werk (auch) verlaufen sein wird. Und das ist mutig. Clemens Meyer nennt u.a. Céline als ein Vorbild: Literatur, so meiint er, die „erkämpft“ werden muß, die sich was traut, die ohne Seil und doppelten Boden auskommt, die erarbeitet ist. Nun hat der misantrophe Franzose ja mit ähnlicher Kühle aus ähnlichen Milieus berichtet. Und Meyer gelingt es durchaus, ähnlich dampfend zu erzählen. Allerdings mit weitaus mehr Menschenliebe zumindest zu den schwächeren Gliedern dieser Ketten, die da aneinandergefesselt miteinander auszukommen haben, in diesem Markt. Für diesen Mut allein, für den Willen, ein erzählerisches Experiment zu wagen und (weitestgehend) zu bestehen, gebührt Meyer schon Anerkennung. So macht allein die formale Umsetzung – sicher die gewagteste seit Thomas Lehrs SEPTEMBER. FATA MORGANA von 2010 – schon einen Stern aus. Dieses Buch sollte gelesen werden, denn es hat uns allen, auch denen unter uns, die sich maximal weit von seinem Inhalt entfernt wähnen, eine Menge mitzuteilen. Über die Verfasstheit eines gewissen Marktes, über die Verfasstheit aller Märkte und v.a. über die Verfasstheit dieses Landes, 23 Jahre „danach“…