UNSER TEIL DER NACHT/NUESTRA PARTE DE NOCHE

Magischer Realismus? Eine Allegorie auf die jüngere Geschichte Argentiniens? Oder doch eine einfache Gruselgeschichte?

Manche Bücher kauft man – zugegeben nicht der beste Ratgeber – nach ihrem Einband. Schwer zu erklären, weshalb – ist es das Motiv, die Haptik, ein Detail, das ins Auge springt? Wahrscheinlich eine Mischung aus all dem. Manche Bücher kauft man und dann liegen sie auf dem Schreibtisch – oder dem Nachttisch oder wo immer man ungelesene Bücher aufbewahrt – und man zögert die Lektüre hinaus, weil man sich so darauf freut. Die Thematik wirkt anziehend, vielleicht schreckt der Umfang etwas ab. Man ist gespannt darauf, wie der Autor oder die Autorin ihr Sujet angeht, wie sich das Werk entwickeln wird. All dies erfüllt auch Marina Enriquez´ UNSER TEIL DER NACHT (NUESTRA PARTE DE NOCHE, 2019; Dt. 2022). Ein dramatisches Motiv schmückt den Einband, ein Ausschnitt aus dem Gemälde Fallen Angel, welches Alexandre Cabanel 1847 malte. Der Umschlag des im Tropen-Verlag erschienen Werks fühlt sich samtig, handschmeichlerisch an und lädt geradezu ein, die Lektüre zu beginnen. Gewicht und Umfang – mehr als 820 Seiten – mögen ein wenig abschrecken, weiß man doch, dass einen dieses Buch nun einige Zeit begleiten wird, doch andererseits verspricht der Klappentext doch eine spannende Lektüre.

Ein Mann fährt mit seinem Sohn durch das Argentinien des Jahres 1981. Es ist die Endzeit der Diktatur, die Militärs wüten mit immer härterer Hand, je stärker sie das Ende ihrer Zeit kommen spüren. Juan und der sechsjährige Gaspar sind auf dem Weg zu Juans Schwiegerfamilie. Seine Frau, Gaspars Mutter, ist kürzlich verstorben, sie starb bei einem Autounfall. Je länger die Fahrt dauert, desto stärker beschleicht den Leser das Gefühl es bei Juan und seinem Sohn nicht mir „normalen“ Menschen zu tun zu haben. Juan scheint Herr einer mächtigen Kraft zu sein, welche in Ermangelung eines besseren Wortes „Düsternis“ genannt wird und die offenbar etwas Lebendiges ist, etwas Forderndes. Und richtig – als die beiden auf dem Anwesen der Schwiegereltern ankommen, wird bald deutlich, dass Juan offenbar eine Art Medium für diese Dunkelheit darstellt. Seine Schwiegermutter und deren Schwester sind Hohepriesterinnen eines offenbar weltweiten Ordens, der die „Düsternis“ verehrt, gleichsam anbetet. Einige der Angehörigen des Ordens geben sich der Dunkelheit, die Juan heraufbeschwören kann, sogar entzückt hin – und werden von ihr gefressen oder aber verstümmelt. So erkennt man einige der Anhänger daran, dass sie ihre Arm- oder Beinstümpfe wie Trophäen zur Schau stellen.

Was als Allegorie auf ein Land beginnt, in dem eine fürchterliche Macht unter Mitwirken ihrer willigen Vollstrecker Menschen wahllos und willkürlich bedroht, terrorisiert, unterdrückt, verschwinden lässt oder offen tötet, wandelt sich im Laufe dieses ersten Abschnitts in einen durchaus bedrohlichen und auch bedrückenden Genrebeitrag. Enriquez bietet weniger ein Beispiel für den die südamerikanische Literatur so prägenden Magischen Realismus, den einst Autoren wie Gabriel García Márquez, Isabel Allende oder Gioconda Belli begründeten, sondern mehr und mehr einen astreinen Horrorroman in der Tradition eines Stephen King, Peter Straub oder Dean R. Koontz. Das mag zugleich erfreuen und verärgern. Denn eine gute Geschichte des Grauens kann immer unterhalten und durchaus kann ein Künstler anhand einer Genregeschichte einen Kommentar auf die Wirklichkeit – auch die vergangene – abliefern. Doch wenn sich der Künstler oder die Künstlerin dann nur noch auf den Schrecken der Geisterbahn verlässt und ansonsten hofft, der geneigte Leser interpretiere die Relevanz dann schon hinein, dann ist das Ganze eher ärgerlich.

Mag der erste Teil eben noch als magisch realistisch durchgehen, ändert sich dies schon – nach einem kurzen und schnell vergessenen Intermezzo, welches von der Entdeckung der „Düsternis“ handelt – mit Teil 3 des Romans. Nun springt die Handlung in die Jahre nach der Diktatur, wir treffen auf einen älteren Gaspar, ein – seinem Vater nicht unähnlich – wunderschöner Junge, der mit seinen Freunden Vicky, Pablo und Adela, der ein Stück ihres Unterarms fehlt, einige recht typische Abenteuer eines Heranwachsenden erlebt. Enriquez erzählt nun eine Coming-of-Age-Geschichte unter verschärften Bedingungen, denn wie wir noch vom Ende des ersten Teils des Romans wissen, will der nun langsam dahinsiechende Juan mit allen Mitteln verhindern, dass sein Sohn, der über ähnliche Fähigkeiten verfügt wie er selbst, womöglich weitaus stärkere, dem Orden in die Hände fällt. Er zeichnet ihn mit einer fürchterlichen Wunde, die wie ein Zauber wirken und Juan vor allem vor den Kräften, die in ihm schlummern bewahren soll. Während dieses langen Abschnitts des Romans verlieren Gaspar, Pablo und Vicky ihre Freundin Adela, als sie in ein Haus einbrechen, welches ihnen allen auf sehr unterschiedliche Art und Weise Angst einflößt. Adela bleibt, als sie fliehen, im Haus zurück und taucht nie wieder auf.

Schon hier tauchen die Diktatur und die Traumata, die sie in der Gesellschaft hinterlassen haben, kaum mehr auf. Lediglich Adelas Mutter wird als Frau eines Widerstandkämpfers geschildert, dessen Schicksal unklar bleibt. Wenn dann ein weiterer Teil folgt, in welchem die Vorgeschichte der Familie Bradford – der die Schwiegereltern Juans entstammen – erzählt wird, vor allem aber der der Schwestern Florence und Mercedes, die lange dem Orden vorstehen, dann macht Enriquez einen eleganten Schlenker nach Europa. Die Schwestern leben in London, während die Stadt zum Mittelpunkt der jungen und hippen Welt wird. Es sind die späten 60er, die Swingin´ Sixties, man trifft sich in den weltberühmten Clubs, verkehrt, da die Bradfords unendlich reich sind, natürlich unter seinesgleichen und lebt das Leben der jungen Rock´n´Roll-Prominenz. So kann die Autorin ein wenig aus einer Zeit erzählen, die sie nicht kennt, die sie aber wohl zu faszinieren scheint. Die Heimat, die Bedingungen eines Argentiniens, das vor allem durch Armut geprägt war und einigen wenigen Familien – wie den Bradfords – gehörte, bleibt ausgespart. Eher scheint es, als feiere der Roman ein wenig die Dekadenz derer, die sich dieses Leben leisten konnten.

Die soziale Realität betrachtet dieser Roman ausschließlich aus der Ferne und zumeist aus Der Perspektive derer, die dafür verantwortlich sind. Vielleicht will die Autorin ihr Personal – das bis auf Gaspar und seine Freunde sowie Juans Bruder durchweg unsympathisch ist – als so böse stigmatisieren, wie sie als Ordensleute daherkommen müssen. Doch begeht sie dabei den fürchterlichen Fehler der Trivialisierung. Sowohl die traditionellen Herrschaftsverhältnisse vor der Diktatur bleiben so im Ungefähren, wie im ersten Abschnitt schon die Diktatur selbst.

Der Rest des Romans setzt sich dann aus dem Bericht einer Journalistin zusammen, in dem die Ereignisse, wie wir sie bisher berichtet bekamen, noch einmal sammelt, ordnet und vor allem einordnet. Wir erfahren, wie die Öffentlichkeit auf das Verschwinden der jungen Adela reagiert hatte und dass die Journalistin, die den Spuren der Bradfords folgt, ihre Recherchen schließlich lieber abbricht, als auch sie mit etwas Unheimlichen und sehr Machtvollen konfrontiert wurde. Danach kehren wir zu dem mittlerweile – wir schreiben die frühen 90oer Jahre – halb erwachsenen Gaspar zurück. Sein Vater ist gestorben und Gaspar, hochbegabt, wunderschön, ein tiefgreifender Charakter, lebt in den Tag hinein. Doch ist auch ihm inzwischen klar, was für Kräfte in ihm schlummern und einige davon kann er sogar völlig ohne Anleitung anwenden. Sein Onkel Luis kümmert sich seit Jahren um ihn und als der Orden, dessen Mitgliedern ebenfalls dämmert, dass sie Gaspars habhaft werden müssen, diesen umbringt, um gegenüber Gaspar ein Zeichen zu setzen, beschließt der junge Mann, die ganze Sache zu einem Ende zu bringen.

Man wundert sich nach weit über 800 Seiten Lektüre, die wahrlich nicht immer spannend oder gar fesselnd ist, wie Enriquez denn nun auf den letzten 15 Seiten plötzlich zu einem befriedigenden Schluss kommen will. Es sei vorweggenommen – sie schafft es nicht. Doch ist es im Kontext des gesamten Buchs letztlich nicht überraschend, sondern macht sie Sache eher rund. Denn das eigentliche Problem dieses Werks ist nicht zwingend sein Inhalt. Es ist eine solide Gruselgeschichte, wie es sie so etliche gibt – Satanskult, Dämonologie, Hexensabbat, nun ja – und es ist auch nicht unüblich sich viel Zeit zu nehmen um letztendlich wenig zu erzählen. Auch die a-chronologische Erzählstruktur gehört heute ja zum guten Ton. Obwohl man auch hier sagen kann, dass eine chronologische Struktur der Erzählung nun auch nicht geschadet hätte. Letztlich ist es vollkommen egal. So wie Enriquez ihre Erzählung anordnet, wirkt es, als ginge es ihr schlicht um Spannungssteigerung. Das ist legitim, aber durchschaubar.

Wirklich problematisch ist der Stil selbst. Dieses Buch scheint nie wirklich bei sich selbst anzukommen. Die Figuren bleiben dem Leser ebenso fremd, wie ihn die geschilderten Ereignisse nicht sonderlich berühren. Auf die Gesamtlänge gerechnet, erzählt Enriquez einfach von einer Vater-Sohn-Beziehung, die unter anderem von Gewalt, selten durch Liebe, und vor allem durch Heimlichtuerei geprägt ist. Das könnte man auch ohne das ganze geisterhafte Brimborium um einen Orden und die „Düsternis“ erzählen – aber gut, der Autorin war offenbar nach Grusel und Schrecken. Um den zu erzielen, gelingen ihr gelegentlich doch wirklich bedrückende Bilder. Zwar hält Enriquez sich mit Schocks und Ekel zurück – eine einmalige Schilderung eines durch die „Düsternis“ begangenes Massakers reicht ihr – doch hier und da schickt sie den Lesern kalte Schauer über den Rücken. So fordert Juan seinen Sohn auf, die Hand in einen Karton zu stecken, in welchem er selbst bereits eine seiner Hände durch etwas Raschelndes gleiten lässt. Juan folgt der Anweisung und findet heraus, dass es sich um abgeschnittene Augenlider handelt. Gelegentlich sind es solche Momente, die die Lektüre durchaus mit Grauen erfüllen. Und sie charakterisieren Juan, einen undurchschaubaren Mann, der einem wahren Jekyll-and-Hyde-Syndrom unterliegt. Denn seine Fähigkeiten haben ihn geprägt und so weiß er immer auch um das Böse, das in ihm steckt.

Doch auch diese Momente und Begebenheiten erzählt Enriquez mit einer seltsamen, schwer fassbaren Distanz und scheinbar unbeteiligt. Es zieht sich durch den gesamten Roman: Man wartet, dass das Ganze endlich mal so richtig los geht, in Schwung kommt, doch es geschieht nichts. Das dümpelt vor sich hin, selbst von vermeintlichen Höhepunkten wird wie nebenher berichtet und die Figuren machen bestenfalls recht holzschnittartige Entwicklungen durch, die allerdings kaum erwähnenswert sind. Befreit man das Ganze von all den schmückenden Nebenhandlungen, bleibt eine dünne Geschichte, die so auch aus einer von Lovecrafts kürzeren Kurzgeschichten stammen könnte. Und die bietet dann auch noch eine Moral – die Mächtigen haben sich schon immer mit der herrschenden Macht gemein gemacht oder diese gar gefördert; meist stehen sie aber eh über den Gesetzen ihrer Heimatländer – die eher einer Binse gleicht und von der zu berichten es vielleicht zwei bis fünf Seiten bräuchte. Kaum über 800.

So bleibt ein schaler Geschmack am Ende der Lektüre. Und der hat weder mit dem Inhalt, und auch nicht wirklich mit dem Stil zu tun, sondern vor allem mit der Frage, ob man mit diesen vielen, vielen Seiten einfach zu viel Zeit seines Lebens verschwendet hat.

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