VALENTINSTAG/BE MINE
Ein letzter Trip mit Frank Bascombe, einer der großen Figuren der (post)modernen amerikanischen Literatur
Unter den großen Figuren der amerikanischen Literatur nimmt Frank Bascombe – einst Sportreporter, später Immobilienmakler, mehrfacher Gatte und dreifacher Vater – einen ganz besonderen Platz ein. Dieser Sonderstatus ergibt sich daraus, dass Bascombe, anders als Natty Bumppo, besser bekannt als Lederstrumpf, Kapitän Ahab oder Huckleberry Finn, anders als der große Jay Gatsby, Tom Joad oder auch Nathan Zuckerman, um nur einige der wesentlichen Figuren der amerikanischen Literaturgeschichte aufzurufen, dezidiert keine mythische Aura umgibt (wobei fairerweise angemerkt sei, dass auch Nathan Zuckerman dieser – scheinbar – entbehrt). Sein Erschaffer, der Autor Richard Ford, legte Frank Bascombe in den bisherigen Romanen und Novellen, deren Hauptfigur er ist – DER SPORTREPORTER (THE SPORTSWRITER, 1986; Dt. 1989), UNABHÄNGIGKEITSTAG (INDEPENDENCE DAY, 1995; Dt. 1995), DIE LAGE DES LANDES (THE LAY OF THE LAND, 2006; Dt. 2007) und FRANK (LET ME BE FRANK WITH YOU, 2014, Dt. 2015) – bewusst als einen All-American-Guy an, einen Mann, wie er (scheinbar) durchschnittlicher kaum sein könnte. Ein Mann der weiter nicht entfernt sein könnte vom Mythischen, dem Überlebensgroßen. Ein Mann, der vollkommen geerdet ist im amerikanischen Alltag und dessen An-, und den sich darin ununterbrochen auftuenden Widersprüchen. Natürlich stimmt dies nicht so ganz, was sich aber erst auf den zweiten, meist erst den dritten Blick offenbart. Die Anlage als scheinbarer Mr. Jedermann ist es aber, die es Ford immer wieder erlaubte, diesen Frank Bascombe zu nutzen, um sehr, sehr scharfsinnige, oft tiefschürfende und manchmal schlicht urkomische Betrachtungen der (post)modernen amerikanischen Wirklichkeit anzustellen.
Nun also ist VALENTINSTAG (BE MINE, 2023; Dt. 2023) erschienen. Der fünfte Teil der Frank-Bascombe-Reihe[1]. Frank hat seine Siebziger erreicht, das Alter macht sich deutlich bemerkbar und damit auch die eigene, erlebte Geschichte, die sich teils gewollt, teils ungewollt in seine Gedanken, Erinnerungen und Empfindungen drängt – Gedanken und Erinnerungen übrigens, denen Frank altersbedingt nicht immer wirklich traut. An einer Stelle zählt er auf, was ihm im Leben so alles widerfahren ist – und da kommt, inklusive eines Schusses in die Lunge, so einiges zusammen. Und doch möchte er eigentlich vorausschauen, möchte auch dem aktuellen Lebensabschnitt Positives abgewinnen, weiter er-leben und er-fühlen und be-denken, was dieses Leben, was die amerikanische Wirklichkeit und deren Wechselwirkung mit seinem ganz eigenen, ganz spezifischen Leben, ausmacht. Doch das Leben, wir ahnen es alle, bevor wir es begreifen, ist nun einmal endlich; eine Binsenweisheit, die uns zumeist dann vor Augen geführt wird, wenn wir mit dem Tod anderer konfrontiert werden. Denn so häufig müssen wir selbst ja keine Nahtoderfahrungen erleben. Umso schlimmer – und einer Nahtoderfahrung vielleicht am nächsten – wenn der Tod des anderen, mit dem wir konfrontiert werden, der des eigenen Kindes ist.
Was also vor allem an Frank Bascombe nagt und was er zugleich zu verdrängen sucht in seiner ganzen fürchterlichen Bedeutsamkeit, ist die Tatsache, dass sein Sohn Paul – es ist sein jüngerer Sohn; der ältere ist einst im Alter von neun Jahren verstorben – aufgrund einer äußerst aggressiven ALS-Erkrankung dem Tode geweiht ist. Frank hat sich auf Anweisung einer alten Freundin nun also mit Paul in eine Klinik in Rochester, Minnesota, zurückgezogen. Hier, so seine Hoffnung, könnte Paul die bestmögliche Behandlung bekommen, die überhaupt menschenmöglich sei und die das Unausweichliche doch noch ein wenig hinausschieben möge. Frank ahnt allerdings – und wird von dem gelegentlich sehr zynischen Paul auch gern daran erinnert – dass dies ein eher hoffnungsloses Unterfangen ist.
So hat er für sich und Paul ausgerechnet zum titelgebenden Valentinstag am 14. Februar einen Trip zum Mount Rushmore geplant. Im tiefsten Winter will Frank zum berühmten Monument mit den Köpfen der vier in den Augen vieler Amerikaner wesentlichen Präsidenten fahren. Und dieser Ausflug soll in einem Wohnmobil namens Warm Wind stattfinden. Der amerikanische Trip schlechthin: Unterwegs in einem Wagen, unterwegs gen Westen, um einen der Orte zu besuchen, wo Amerika wohl zu sich selbst kommen soll, wo dieses Land sich seiner selbst, seiner Geschichte und natürlich auch seiner Bedeutung vergewissern kann.
Doch ist es gerade die scheinbare Unsinnigkeit des Unterfangens – aufgrund der gesundheitlichen Voraussetzungen der beiden, aber auch aufgrund des Wetters -, die Frank näher an seinen Sohn zu bringen hofft, teilen die beiden doch, wenn schon sonst nicht viel, zumindest einen gewissen Sinn für das Groteske, einen gewissen sarkastischen Humor, der sie mit einem ähnlichen Blick auf eben diese viel beschworene amerikanische Wirklichkeit blicken lässt. Die Beziehung der beiden zueinander war immer schon eine schwierige, eine belastete, von gegenseitigem Misstrauen geprägte, wozu Franks Trennung von Pauls Mutter ganz sicher ihren Teil beigetragen hat. Die Leser*innen von INDEPENDENCE DAY werden sich erinnern, dass es auch in jenem Roman den Versuch gab, mit einem Roadtrip eine Annäherung zwischen dem weitaus jüngeren Frank Bascombe und seinem damals pubertierenden Sohn Paul herzustellen. Auch damals schon ein Unternehmen mit vagen, wenn nicht gar gen Null tendierenden Erfolgsaussichten.
Frank mag Paul nicht sonderlich, mochte ihn eigentlich nie sonderlich, was wohl auf Gegenseitigkeit beruht. Frank mochte die seltsame Schwerfälligkeit des Jungen nicht und auch nicht dessen oft behäbige, fast antriebsarme Art, die den postmodernen, diagnoseverliebten Menschen schnell an das Asperger-Syndrom oder gar Autismus denken lässt, vielleicht aber einfach nur in Lebensverdruss gründet. Möglicherweise ja sogar angeborenem Lebensverdruss? Frank lehnt auch die zugegeben eher wenig durchdachten Lebensentwürfe Pauls und dessen ebenso undurchdachten Versuche, im Berufsleben Fuß zu fassen, ab. Und diese Abneigung, gepaart mit schlechtem Gewissen, der Sorge, als Vater versagt zu haben, und dem immer wiederkehrenden Wunsch, eine Verbindung zwischen sich und Paul herzustellen, bestimmen auch diesen Roman und den darin beschriebenen Versuch, mitten im Winter, im Grunde mitten in einem Blizzard, einen Ausflug zu einem der Nationalheiligtümer der Vereinigten Staaten zu unternehmen. Und gemeinsam darüber zu lachen.
Einmal mehr ist es die Mischung aus einem für den durchschnittlichen Amerikaner besonderen Ort und einem Feiertag – in den bisherigen Romanen waren es Ostern, der ebenfalls titelgebende Unabhängigkeitstag, sowie Thanksgiving, also das Erntedankfest, die zumindest den Romanen die äußere Handlungseinheit gaben – , die es Ford erlaubt, Bascombe diese Bascombe-typischen Betrachtungen seiner spezifischen Situation im Besonderen – als Mann, als Vater (ganz besonders) und als Familienmensch, also Gatte, aber eben immer auch als Amerikaner, weißer, männlicher Amerikaner, wessen sich Frank ausgesprochen bewusst ist, auch wenn er dieses Bewusstsein nicht immer schätzt –, aber eben auch zur allgemeinen Lage des Landes generell mit der ebenfalls typischen bascombe´schen Scharfsinnigkeit und Franks ganz eigenem Humor anstellen zu lassen. Und gerade in den aufgewühlten Zeiten der Präsidentschaft Donald Trumps, den Frank – ein eingefleischter Demokrat alten Schrot und Korns, wie es diese heutzutage so vielleicht gar nicht mehr gibt – ganz besonders wenig leiden kann (und der ihn, erstaunlicherweise, zu vergleichsweise wenig Spott oder gar Hohn herausfordert, vielleicht weil die Lage dafür dann doch zu ernst und das Objekt ein zu einfach zu verspottendes ist), gibt es natürlich eine Menge anzumerken zu einem Land, welches Maß und Mitte verloren zu haben scheint.
Frank, der sich Altersweisheit wünscht, der sich immer wieder überlegt, bei wem und mit wem er hätte glücklich werden können in einem Leben, das halbwegs erfüllt zu leben die eigentliche Aufgabe eines amerikanischen Mannes sei, der schließlich bei seiner alten Bekanntschaft Catherine Flaherty in Kalifornien unterkommt, wo Ford ihm ein letztes (?) Zuhause zugesteht, Frank also stößt auf dieser Reise, auf diesem Trip endgültig an seine Grenzen. Und mit ihm möglicherweise auch Richard Ford. Denn anders als in den Vorgängern, können sich Ford und Frank Bascombe – es mag am Alter liegen, daran, dass sowohl der Autor als auch seine Figur der Meinung sind, mit gewissen Einstellungen nicht mehr hinter dem Berg halten zu müssen, sie vielleicht aus Zeitgründen auch nicht mehr zurückhalten zu können – eine gewisse Gehässigkeit nicht verkneifen.
Diese Gehässigkeit ergießt sich vor allem über Paul, dessen Krankheitszustand zu Situationen führt, die oft unerträglich sind, die Ford/Frank allerdings meist mit einem gewissen Anstand zu schildern vermögen, bis sich dann – bspw. wenn Paul, der darauf besteht, allein auf die Toilette zu gehen, sich dabei, unfähig, seine Kleider vernünftig zu ordnen, die Vorhaut seines Penis´ einklemmt und den Rest der Reise an dieser sehr unangenehmen Verletzung laboriert – an einigen Stellen eine Lust an der Demütigung der Figur(en) Bahn bricht, die für Richard Ford, obwohl der auch sonst gelegentlich scharf an der Kante zum Zynismus entlang balanciert, doch eher untypisch ist. An anderer Stelle trifft es eine junge Frau vietnamesischer Abstammung, bei der sich Frank während seiner Zeit in Rochester regelmäßig massieren lässt und zu der er – ob eingebildet oder nicht, jedenfalls scheint sie ihn immer wieder sexuell zu stimulieren und auch zu befriedigen – ein Liebesverhältnis aufbaut. Doch muss er feststellen, dass ihr Interesse an ihm offenbar eher – oder ausschließlich – ökonomischer Natur ist, was ihr einige ausgesprochen unfreundliche Kommentare seitens Frank´ einbringt. Sicher, das ist nie – oder zumindest fast nie – wirklich platt, meist kommen die Gemeinheiten subtil, gut verpackt, hintergründig daher. Dennoch bleiben es Gemeinheiten.
Diese letzte Reise, die Frank Bascombe und sein Sohn unternehmen – Paul, so teilt Frank uns am Ende des Romans mit, ist schließlich im Herbst 2020 nicht an ALS, sondern an einem neuartigen Virus namens Covid-19 verstorben – ist mit Sicherheit die bitterste, auf die uns Richard Ford in den vergangenen nahezu vierzig Jahren an der Seite seines Protagonisten eingeladen hat. Und es wird wohl seine letzte gewesen sein. Zumindest hat Ford seine Leser*innen wissen lassen, dass er nicht mehr die Kraft habe für einen weiteren Roman. So entschwindet Frank Bascombe also schließlich, als er aus einem Moment der Amnesie auftaucht – den ganzen Roman hindurch beschreibt und fürchtet er, dass sein Gedächtnis nachlässt – und eine Stimme hört, die ihn auffordert, sich für Neues bereit zu machen.
So entschwindet eben auch eine der großen Figuren der jüngeren, postmodernen amerikanischen Literatur aus dem literarischen Kanon. Frank Bascombe hat seinen Freunden und Anhängern in diesen vielen Jahren und durch fünf Bücher hindurch eine Menge Einsichten geschenkt, Freude bereitet und auch Traurigkeit. Er hat Trost gespendet und mit seiner oft lakonischen Art, das Leben zu nehmen, eine Wirklichkeit erträglicher – und verständlicher – gemacht, die sich durch all diese Jahre hindurch nicht zwingend zum Besseren verändert hat. Wir werden ihn missen. Ver-missen.
[1] Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass Ford neben den Bascombe-Romanen auch andere, ebenfalls oft großartige Bücher schreibt, u.a. das Meisterwerk KANADA (CANADA, 2012; Dt. 2012).