VIEWS

Eine ausgesprochen bedrückende Vision dessen, was KI bedeuten kann...

Marc-Uwe Kling? Der mit den Kängurus? Ja, der. Marc-Uwe Kling. Der macht jetzt in Krimi? So isses, der hat einen Krimi geschrieben. Ach was.

Und er hat einen guten geschrieben, wenn eben auch „nur“ einen Krimi. Aber einen höchst brisanten. Eine 16jährige verschwindet, einige Tage später geht ein Video viral, in dem sie von mehreren – offenbar südländischen – Männern vergewaltigt wird. Die junge Frau bleibt verschwunden, Kommissarin Yasira Saad und ihre Kollegen gehen recht bald von einem Tötungsdelikt aus, da das Schreiben eines Entführers ausbleibt. Schnell entwickelt sich der Fall zu einem Politikum, auf den Straßen Berlins kommt es zu Demonstrationen. Eine Gruppe namens „Aktiver Heimatschutz“ scheint schneller als die Polizei zu sein: Ebenfalls in einem Video dürfen die Ermittler und Millionen von Followern mit ansehen, wie einer der Vergewaltiger geradezu hingerichtet wird. Diese Tat findet schnell einen Nachahmer, den Saad ebenso schnell stellen kann. Doch der Täter aus dem ersten Video bleibt unauffindbar, ebenso die Entführte. Und genau das gibt der Kommissarin mehr und mehr zu denken. Bei einer Auseinandersetzung mit ihrer Tochter, die, wie viele Pubertierende dieser Tage, einer Influencerin folgt, erfährt Saad, dass das Wesen aus dem Internet gar keine real existierende Person ist, sondern rein künstlich, rein digital erschaffen wurde. Daraufhin beschleicht sie ein unglaublicher Verdacht…

Kling versteht es geschickt, mit manchmal ebenso eingängigen wie einfachen Mitteln der Kriminalliteratur, nicht nur Spannung aufzubauen, sondern auch ein Geflecht ebenso verblüffender wie einleuchtender Handlungsstränge zu knüpfen. Da wird aus einer herkömmlichen, wenn auch ekelerregenden Vergewaltigung erst eine Entführung, dann ein politisches Statement und schließlich eine an Science-Fiction gemahnende Dystopie hinsichtlich dessen, was heute unter dem Label „KI“ läuft. Nur das Motiv – der schnöde Mammon – bleibt sich denn gleich und das ist einerseits beruhigend, andererseits umso verstörender, weil es ein Schlaglicht darauf wirft, wie weit Menschen zu gehen bereit sind, um das eigene Portemonnaie aufzufüllen. Immerhin könnte man sagen, dass er sich bei allen technischen Erfindungen, Möglichkeiten und Erweiterungen letztlich gleichbleibt, der Mensch, dieses so fehlbare Wesen.

Doch dass der Mensch noch zu ganz anderem fähig ist, wenn er nur die richtigen „Triggerpunkte“ aktiviert werden, wie schnell der Mob bereit ist, blindlings denen zu folgen, die die vermeintlich einfachen Antworten bieten, wie schnell aus einer diffusen Stimmung ein Pogrom entstehen kann – all das flirrt hier im Hintergrund mit, all das vermag Kling eben auch aufzuzeigen. Und dabei gelingt es ihm, beim Publikum ein tiefes Unwohlsein zu erzeugen. Ein nachhaltiges Unwohlsein. Das nachklingt, wenn der Roman längst weggelegt wurde.

Kling, der einst das kommunistische Känguru für seine KÄNGURU-CHRONIKEN erfand, bleibt sich in der Analyse der Wirklichkeit also treu. Was in den früheren Werken ironisch bis satirisch aufbereitet wurde, nimmt hier, in VIEWS, dann aber extreme, extrem ernste und absolut tödliche Züge an und reflektiert damit auf eine Wirklichkeit, der wir uns alle werden stellen müssen, gerade jetzt, wo Tech- und KI-Könige wir Elon Musk und Konsorten dabei sind, politische Macht zu erringen. Medienkompetenz ist gefragt, doch verweist ein Text wie dieser auch und vor allem darauf, dass es selbst Experten, ja sogar denen, die maßgeblich an der Entwicklung von KI beteiligt sind, nicht mehr gelingen wird, Echtes von Falschem, Wahrheit von Fiktion (wenn man es denn so nennen will), glaubhaft zu unterscheiden. Und natürlich stellt ein Text wie dieser auch immer die Frage, ob diese Trennung noch eine Rolle spielt in einer Welt, die sich längst damit abgefunden zu haben scheint, dass sie digital in Weiten abdriftet, die realer wirken als das, was Jahrtausende lang als Realität betrachtet wurde. Vielleicht, so drängt sich hier irgendwann auf den letzten Seiten die Frage auf, vielleicht ist dies ja die nächste – und letztlich auch erhaltende – Evolutionsstufe: Wenn der Mensch mit all seiner Zerstörungskraft (und seinem Zerstörungswillen) diese Welt zu vernichten droht, ist es möglicherweise ganz vernünftig, wenn er in den Weiten des World Wide Web verschwindet und Wesen die Herrschaft übernehmen, die es scheinbar gar nicht gibt.

Doch sollte man vielleicht nicht zu viel in einen Roman wie diesen hineinlesen. Vielleicht übernimmt er sich sogar, wenn er so viele gegenwärtige Probleme und Thematiken zusammen zu rühren versucht. Es gelingt bis zu einem gewissen Punkt, keine Frage, doch zu guter Letzt folgt Klings Buch den Gesetzen des Genres. Und das bedeutet: Es ist ein Krimi und ein Krimi verlangt nach Auflösung und damit auch Er-Lösung. Und die wird auch hier geboten. Der Leser bleibt dennoch mit einem ausgesprochen mulmigen Gefühl zurück. Und das ist auch gut so.

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