WHITE RIOT

Joe Thomas bietet ein enorm genaues Panorama des punkigen Londons der späten 70er Jahre

England in den 70er Jahren: Arbeitslosigkeit, Klassenkampf, Streiks, Polizeigewalt und das Aufkommen der Rechten. London in den 70er Jahren – kein wirtlicher Ort. Nach den Swingin´ Sixties, den psychedelischen Jahren und den Hippies übernahmen nun die raueren Gesellen. Punk kam auf und mischte sich bald mit Reggae – der Sound wurde politischer. The Clash, The Ruts, natürlich die Sex Pistols (die allerdings wenig ernst genommen wurden von denen, die es mit der Politik ernst meinten). Hakenkreuze nicht nur an den Revers der National Front (da sogar eher weniger), sondern an der Lederjacke von Sid Vicious. Aber hatte nicht schon Brian Jones, seines Zeichens Chef der Rolling Stones, in einer SS-Uniform posiert? Die Zeichen wurden schwerer lesbar.

Aber die Zeiten wurden so rau, dass es zugleich auch einfach war, sich zu positionieren. Labour war am Ende und mit Maggie Thatcher kam die Ultrarechte im Gewand der Tories ins Spiel. „There is no such thing as society“ – bei Sprüchen wie diesem wusste auch der letzte, woran er war. Manche wollten einen Bürgerkrieg heraufziehen sehen. In bestimmten Vierteln Londons musste man aufpassen, welche Hautfarbe man hatte und welche Kleidung man trug. Hackney bspw. Hier wuchs der 1977 geborene Autor Joe Thomas auf. Nach zehn Jahren im Ausland – er lebte lange in Brasilien und verarbeitete seine dortigen Erfahrungen in einer Serie von Romanen, deren einziger auf Deutsch erschienener Teil bisher BRAZILIAN PSYCHO ist – kehrte er nach London zurück.

Mit WHITE RIOT (2023; Dt. 2025) legt er nun den ersten Band einer Trilogie von (nominell) Kriminalromanen aus dem England der späten 70er und frühen 80er Jahre vor und kehrt damit in jenes London zurück, in welches er hineingeboren wurde. Thomas bedient sich dabei einer Technik, die aufmerksamen Lesern britischer Kriminalliteratur nicht unbekannt vorkommen dürfte: Wie sein Freund David Peace nutzt Thomas ein engmaschiges Netz aus Fakten und fiktional damit verwobenen Figuren und Geschichten; wie Peace bedient er sich eines manchmal fast telegrammartigen Stils; wie Peace lässt er sein Publikum durchaus im Stich und lässt es grübeln, wohin die ganze Chose, die er da bietet, eigentlich führen soll; wie Peace scheut er sich nicht, Verwirrung zu stiften und lose Enden lose herabbaumeln zu lassen.

Gerade durch die Verquickung von Fakten mit Fiktion ergibt sich ein hohes Maß an Authentizität. Hier sind es die Morde an Altab Ali im Jahr 1978 und jener (vermeintliche) an Colin Roach im Jahr 1983, die die Rahmenhandlung bilden. Beide waren dunkelhäutig – Ali kam aus Bangladesch, Roach war gebürtiger Brite – und beide starben unter gewaltsamen, in Roachs Fall gar mysteriösen Umständen. Ali wurde von drei Teenagern angegriffen und erstochen, Roach soll sich im Foyer einer Polizeiwache in Stoke Newington selbst erschossen haben. Der Coroner – in diesem Fall vor allem in der Bedeutung als Untersuchungsrichter – ließ keine unabhängige Untersuchung des Falles zu und sorgte somit dafür, dass Misstrauen zwischen der Linken und dem Staatsapparat entstand und sich zusehends vertiefte – und dazu beitrug, dass sich beide Seiten immer unversöhnlicher (und gewaltbereiter) gegenüberstanden.

Thomas nimmt diese beiden Fälle als Ausgangs- und Zielpunkte seines Romans, der als Kriminalroman annonciert wird, allerdings eher einem Politthriller gleicht. Auch darin im Übrigen Peace´ berühmten Red-Riding-Quartet ähnelnd. Wie jener am Fall des sogenannten Yorkshire Rippers ein Kaleidoskop aus Korruption, Rassismus und Sexismus in der britischen Polizei als Blaupause der britischen, vor allem der englischen Gesellschaft der 70er und 80er Jahre nutzte, so nutzt Thomas die Vorgänge um den Mord an Ali und die Umstände von Roach´ Tod, um davon zu erzählen, wie sich zunächst in kleinen, später in immer größer werdenden Gruppen Widerstand gegen einen immer stärker um sich greifenden Rassismus und Nationalismus regte.

Thomas führt einige Figuren ein – als Hauptprotagonisten könnte man DS Patrick Noble bezeichnen, der mehrere Undercover-Polizisten sowohl in die Reihen der National Front als auch denen der linksgerichteten Anti-Nazi-League einschleust, um erster Hand an Informationen über deren jeweilige Organisationen und Vorhaben zu gelangen – , die im weitesten Sinne mit den Vorgängen im Jahr 1978 verbunden sind, als es mit Unterstützung des Bündnisses Rock Against Racism, dem Bands wie eben The Clash oder The Ruts angehörten, zu Massenprotesten gegen den grassierenden Rassismus in den Behörden kam. Viele dieser Personen spielen dann, nach einem Sprung, den die Handlung etwa in der Mitte des Buchs um fünf Jahre macht, auch eine Rolle in den Vorgängen um den Tod von Colin Roach.

Nebenher wird aber kenntnisreich auch die Entwicklung jener Szene geschildert, die allgemein als Punk bezeichnet wird und gerade in Großbritannien ausgesprochen politisch gewesen ist. Auch die – fließenden – Übergänge von den punkigen 70er Jahren in die von New Wave und sehr viel stärker dem Pop bestimmten 80er Jahre erzählt Thomas nebenbei mit. So produziert eine der hervorgehobenen Nebenfiguren nicht nur die Stiff Little Fingers, wodurch der im Hintergrund schwelende Nordirland-Konflikt – die Band kommt aus Belfast – ebenfalls thematisiert wird, wenn auch nur am Rande, sondern ist auch mit Paul Weller verbandelt, der nach dem Ende von The Jam – die wiederum an der Schnittstelle von Punk und der auch in den 70er Jahren noch relevanten Mod-Szene agierten – noch nicht wusste, wohin ihn seine künstlerische Reise führen würde, bevor er dann mit The Style Council prägend für den britischen Sound der frühen 80er Jahre werden sollte.

WHITE RIOT – der Titel basiert auf dem gleichnamigen Song von The Clash – ist also auch eine Schilderung jenes eingangs erwähnten Übergangs von den Swingin´ Sixties zu dem brodelnden London der 80er, als die unterschiedlichsten Szenen einander befruchteten, manchmal sogar dann, wenn sie sich gegenseitig verachteten. Thomas gibt tatsächlich, wie es auf dem Cover der Taschenbuchausgabe angedeutet wird, eine innige Liebeserklärung an London ab. Natürlich ist es nicht das London der Touristen, es sind nicht die Tower Bridge und Big Ben oder Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett, die hier besungen werden. Vielmehr ist es das London der Einkaufsstraßen und der manchmal recht schmierigen Imbissbuden, es ist das London der Hinterhöfe und Nebenstraßen, der indischen und pakistanischen Restaurants, der billigen Pubs, der Fish´n´Chips-Shops, die auch noch mitten in der Nacht fettigen Haddock und noch fettigere Pommes verkaufen; es ist das London der drittklassigen Bars, nicht das der teuren West-End-Clubs und der dort angesiedelten Theater und Musical-Bühnen. Es ist ein hartes, kaltes, auch ein brutales London, durch das man streifen kann, wenn man unerschrocken genug ist. Es ist eben ein punkiges London, wie es so nicht mehr existiert und welches der Autor, der jene Jahre ja gar nicht selbst erlebt hat, auf doch vortreffliche Art und Weise zum Leben erweckt.

Weniger gelingt ihm dies leider mit seinen Figuren. Die bleiben etwas blässlich und sind eher funktional, keine wirklich ausgefeilten, ausgereifte, somit literarische Charaktere. Zwar erfahren wir hier und da Hintergründe, vor allem aus dem Leben des Bezirksverordneten Jon, der sich stark dafür einsetzt, dass die Hintergründe der erwähnten Todesfälle und eines weiteren, den Thomas seiner Story hinzufügt, aufgeklärt werden. Doch wird seine Familie genau soweit in die Handlung eingeführt, dass die Leser*innen an den entscheidenden Stellen um die Figuren bangen können. Thomas nutzt diese privaten Hinweise, um die Gefahr zu vermitteln, die von den Schlägern der National Front und ihrer Vorfeldorganisationen (wenn man es denn so nennen will; man könnte auch einfach sagen: von den ihnen verbundenen Hooligans) ausgeht. Im weitesten Sinne – und da ähnelt Thomas´ Stil nicht nur sprachlich oder literarisch dem von David Peace – wird hier alles der Geschichte untergeordnet, wenig findet außerhalb des beschriebenen Kosmos aus Punk, Politik und Polizei statt. Auch werden hier erst sehr dünne Fäden zwischen den verschiedenen Handlungssträngen gewoben. Zwar heuert Noble irgendwann die Fotografin und Journalistin Susie, deren Freund Brian mit Paul Weller beschäftigt ist, als Informantin an, um auch aus der linksradikalen und der Hausbesetzer-Szene Informationen zu erhalten, doch kann man davon ausgehen, dass diese Verbindungen in den Nachfolgebänden intensiviert werden.

Überhaupt darf man gespannt sein, wie Joe Thomas seine Story weiterspinnt. Trotz der beschriebenen Kritikpunkte ist dies ein spannendes Projekt, dem man ähnlich entgegenfiebert, wie seinerzeit den einzelnen Bänden von Peace´ Red-Riding-Quartet. Denn Thomas gelingt es, London auf eine Art zu beschreiben, welche die Stadt zu einer Protagonistin dieser Geschichte(n) werden lässt. Woanders hätte als dies, hätte diese sehr britische, sehr englische Geschichte wohl nicht passieren können. Joe Thomas legt nicht weniger als ein grandioses Gesellschaftspanorama vor und erfüllt damit eine der edelsten Funktionen, die die Kriminalliteratur, zumindest die moderne, schon immer geboten hat.

 

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