DIE GROSSE GEREIZTHEIT. WEGE AUS DER KOLLEKTIVEN ERREGUNG

Versuch über das Internet - eine interessante Studie mit zu naiven Lösungsvorschlägen

Wer es je mit dem Angriff eines Trolls im Netz, auf einer der „social-media“- oder der Kommentarspalte einer Rezensionsplattform zu tun hatte, wer jemals im Fokus eines „Shitstorms“  stand oder auch nur regelmäßig gewissen Seiten auf Facebook folgt und liest, was sich dort an Kommentaren sammelt, hat einen recht guten Eindruck davon, was Bernhard Pörksen mit dem Titel seines Buches DIE GROSSE GEREIZTHEIT meint. Entgrenzte Wut, Hetze, die Lust am Pöbeln und Beleidigen und eine Affinität zur Gewalt, zumindest zur rhetorischen Gewalt, sind mittlerweile alltäglich geworden. Pörksen bietet in seinem essayistisch gehaltenen Überblick zum Thema dem wenig Neues, der sich mit dem Phänomen schon länger auseinandersetzt, allerdings fasst er die beunruhigenden Entwicklungen gut und übersichtlich zusammen.

In fünf Überblickskapiteln und einem Schlußabschnitt, in welchem er versucht, „Wege aus der kollektiven Erregung“ – so der Untertitel des Bandes – aufzuzeigen, erläutert der Autor seinen Lesern Schlüsselphänomene jener Enthemmung, die seit geraumer Zeit im Internet zu beobachten sind. Sei es die Wahrheitskrise oder die Krise derer, die sich bisher als „Gatekeeper“ verstanden – klassische Journalisten, Redakteure und Ressortleiter, die Information filterten und durch Zeitungs- oder Nachrichteninformationen an ihre Leser weitergaben, sei es die Frage danach, wer spricht (respektive schreibt) und wodurch die Autorität sich herstellt, daß ihm geglaubt wird, oder sei es die Erscheinung sogenannter Bubbles, Blasen, in denen man durch die Auswahlalgorithmen der großen Suchmaschinen und Sozialmedien wie Facebook wie gefangen nur noch mit jenen Informationen gespeist wird, die das schon vorhandene eigene Weltbild wieder und wieder, repetitiv, bestätigen und sei es abschließend die Lust am Skandal, daran, wie wir Wesentliches und Unwesentliches ununterbrochen direkt nebeneinander stehen lassen und damit allem die gleiche Aufmerksamkeit widmen (oder Unwichtigem weitaus mehr Aufmerksamkeit widmen, als jenen Dingen, die herkömmlich Aufmerksamkeit generiert hätten) – Pörksen handelt diese Problemfelder anhand eingängiger, oft schon bekannter Beispiele ab, die jedoch veranschaulichen, womit wir es zu tun haben.

Wir erleben es selber alle naslang, wie Kontexte verschwinden und Meldungen vollkommen gleichwertig nebeneinander platziert werden, wir erleben das Phänomen, zwar mit etlichen Katzenvideos beglückt zu werden, dabei aber durchaus wichtige tagespolitische Ereignisse zu verpassen. Das sind noch harmlosere Beispiele, solange wir dabei nicht zu Schaden kommen. Anders – und unbekömmlich – wird es dann, wenn durch Unaufmerksamkeit oder entkontextualisierte Informationen Menschen, gerade solche, die nicht medial abgesichert sind, weil sie entweder über Reputation oder aber eine gewisse Form medialer Macht verfügen, Opfer regelrechter Treib- oder Hexenjagden werden. Was Dave Eggers in seinem Netzwerkroman THE CIRCLE (2013) noch als furchtbare Antiutopie schilderte, ist de facto längst Wirklichkeit geworden. Vollkommen Unschuldige können, manchmal ohne jedwedes Zutun oder gar ohne ihr Wissen darum, zur Zielscheibe im Netz werden.

Ein Netz, in dem ein jeder früher oder später nur noch die Bestätigung eigener Ansichten und dessen erfährt, was er sowieso schon glaubt, leistet Verschwörungstheorien und Fehlinformationen Vorschub, untergräbt die Glaubwürdigkeit von demokratischen Regierungen und führt zu die Gesellschaft zersetzenden Prozessen, die auf Dauer demokratiegefährdend werden können. Die verkürzten Botschaften der Tweets und SMS, derer sich auch der amtierende amerikanische Präsident gern bedient – neuerdings, um Kriege zu erklären – führt zu einem Anwachsen populistischer Meinungen, zugleich werden ausgewogene, nachdenkliche und auch ambivalente Meinungen und Ansichten wenn nicht gänzlich unterdrückt, so zumindest an den Rand geschoben, setzt sich das knackig Kurze doch erfahrungsgemäß leicht gegen das Komplizierte, Ausformulierte und Hintergründige durch. Das allerdings war auch in Zeiten ohne Internet schon der Fall. Das Netz begünstigt es aber und vor allem: Es beschleunigt ungemein.

Man folgt Pörksen bei seinen Beobachtungen und Anmerkungen und vor allem auch bei seinen Beispielen. Weniger mag man ihm in seinen im letzten Kapitel, dem Schlußteil, dargelegten Folgerungen, seinen Wegen aus der kollektiven Erregung, nachgehen. Die Idee einer „redaktionellen Gesellschaft“ mag ja eine gute sein – wie so viele gute Ideen setzt sie aber voraus, daß die „Gesellschaft“ überhaupt positiv gestimmt ist, also eine Verbesserung wünscht. Was aber, wenn sie kein Netz, kein Internet, kein soziales Netz will, das Hetze und Mobbing ächtet, das wesentliche Information von unwesentlicher Information trennt – was, wenn nicht nur bestimmte, möglicherweise vor allem populistische, Kreise daran interessiert sind, daß wir in komplett vereinzelten Filterblasen vor uns hindämmern und somit viel leichter zu beeinflussen sind, sondern wenn mittlerweile große Teile dieser Gesellschaft festgestellt haben, daß die Lust, die Hetze, Mobbing und Pöbelei, die vermeintliche Freiheit und Erleichterung, die die billige Befriedigung ganz niederer Instinkte und Triebe allzu große Lust verschafft? Was, wenn sich die Enthemmung längst als Triebabfuhr zur Routine entwickelt hat? Beängstigende Vorstellung und von Bernhard Pörksen so wahrscheinlich nicht bedacht.

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