WINTER´S BONE
Ein kleiner, authentischer und sehr ehrlicher Film, abseits des Glamours von Hollywood produziert
Die 17jährige Ree (Jennifer Lawrence) ist für ihre gesamte Familie verantwortlich, nachdem ihr Vater auf Kaution aus dem Knast gekommen und verschwunden, ihre Mutter psychisch schwer angeschlagen ist. Sie alle sind Teil einer Gemeinde in Missouri, in der niemand etwas besitzt außer ein paar Trailern oder heruntergekommenen Häusern auf einem Stück dreckigen Landes, wo sie ihr karges Dasein fristen. Fast jeder in dieser Gemeinschaft lebt von und für Crystal Meth, einer extrem schnell süchtig machenden Droge.
Eines Tages taucht der Kautionsbeamte auf und teilt Ree mit, daß ihr Vater das Haus und alle Habe als Kautionssicherheit verpfändet habe und er entweder bei seiner Verhandlung auftauchen solle, oder aber alles an den Staat fiele und sie und die Familie das Grundstück zu verlassen hätten.
Ree macht sich auf, den Vater zu finden, denn sie ist auch für ihre beiden kleineren Geschwister zuständig, denen sie praktisch der einzige verantwortungsvolle Mensch ist. Sie will ihnen irgendwie ein Zuhause bieten. Ihr Vater ist nicht aufzutreiben, sein Bruder, Rees Onkel Teardrop (John Hawkes), warnt sie davor, allzu tief nach ihm zu graben. Sie könne dabei ihre Nase nur in Angelegenheiten stecken, die sie nichts angingen, von denen zu wissen jedoch gefährlich sei. Ree sucht dennoch weiter und muß dazu auch den örtlichen Bandenchef, Thump Milton, kontaktieren, mit dem sie entfernt verwandt ist. Dieser warnt sie einmal mehr, sie solle nicht weiter suchen.
Der Termin rückt näher und verstreicht schließlich, der Vollzugsbeamte weist Ree darauf hin, daß sie nachweisen müsse, daß ihr Vater tot sei und also dem Termin nicht hätte nachkommen können, um Haus und Gut zu behalten.
Erneut versucht sie mehr über den Verbleib ihres Vaters herauszufinden und gerät dabei der Ehefrau Thumps Mareb (Dale Dickey) ins Gehege. Diese schlägt Ree mit ihren Schwestern übel zusammen, Thump und die anderen Männer der Sippe lassen keinen Zweifel daran, daß Ree nun sterben muß. Teardrop kann das schlimmste verhindern, Ree kehr nach hause zurück und wird von ihrer Freundin aufopferungsvoll gepflegt. Da taucht Mareb erneut bei ihr auf. Die ganze Gegend redet davon, daß die Miltons ihren Verwandten, den Dollys, nicht helfen. Nun bringt Mareb Ree in einem Boot in den Sumpf, zur Leiche des Vaters, der sie die Hände absägen muß, um zu beweisen, daß er es wirklich ist.
Ree kann so Haus und Grund retten und erhält vom Kautionsbeamten noch das restliche Geld, das zur Kaution hinterlegt worden war. Sie bietet Teardrop ihres Vaters Banjo an, er lehnt es ab, sagt, er wisse, wer die Mörder sei und fährt weg.
Selten wurde im jüngeren amerikanischen Kino die Realität derart bitter, hässlich und gnadenlos dargestellt, wie in diesem Film der Regisseurin Debra Granik. Neben der hervorragenden Jennifer Lawrence und dem ebenfalls sehr guten John Hawkes, geben eine ganze Reihe von Laiendarstellern diesem Drama authentischen Ausdruck. Man hat es hier ganz klar mit sogenanntem „White Trash“ zu tun – jenen, die in Amerika ganz unten angelangt sind, sich in einer halblegalen Zone befinden, um irgendwie den Kopf über Wasser zu halten. Oft eben mit der Herstellung und dem Vertrieb von Drogen. Eine archaische Welt, die nach archaischen Regeln funktioniert, welche nahezu alle von Männern gemacht werden. Teardrop sagt an einer Stelle zu Ree, sie dürfe, wenn sie es erführe, ihm niemals sagen, wer die Mörder seines Bruders, ihres Vaters waren, denn dann wüsste er, daß er der nächste sei. Nicht sagt er, deutet dies allerdings am Ende an, daß er ebenso dazu verpflichtet wäre, seinen Bruder zu rächen.
Die junge Ree versucht verzweifelt, ihren jüngeren Geschwistern alles beizubringen, was man ihrer Meinung nach hier, in dieser kargen Gegend, den Ozarks, einem Hochplateau, recht unzugänglich, in dem jeder mit jedem verwandt zu sein scheint, zum Überleben braucht: Sie lehrt sie den Umgang mit Waffen ebenso wie das Töten, Ausnehmen und Zubereiten von Eichhörnchen (was in einer der eindringlichsten Szenen des Films recht anschaulich gezeigt wird). Ree ist dabei – und das macht den Film wahrlich außergewöhnlich – nicht unbedingt eine Sympathieträgerin. Sie wirkt auf ihre Weise ebenso abgeklärt und hinterlistig, wie alle, denen sie begegnet. Und jeder, dem sie begegnet – ob Mann oder Frau – ist auf seinen eigenen Vorteil bedacht. So wird zwar „die Familie“ gern und viel beschworen in dieser Gemeinschaft, zu bedeuten hat das allerdings nicht besonders viel.
Was auffällt und den Film ebenfalls besonders macht, ist das Verhältnis der Männer zu den Frauen. Die Männer in diesem Film wirken alle schwach (nicht psychisch – sie sind alle in der Lage, eine 17jährige zu verprügeln, aber sie sind nicht in der Lage, selbstverantwortlich zu handeln; und sie überlassen die Drecksarbeit ebenfalls lieber den Frauen). Rees Vater, den man nie sieht, haut ab und überläßt seine Familie ihrem Schicksal, Thump ist einfach das Urbild eines Südstaatenrockers, der es nicht nötig hat, sich die Finger schmutzig zu machen, das tun andere für ihn; Teardrop weiß zu genau, was ihm blüht, wenn er sich nicht still verhält, als daß er etwas tun könnte. Allerdings ist es Teardrop, der durch Rees Verhalten schließlich gezwungen wird, zu handeln und sich somit auch zu positionieren.
Die Männer, die der Film ausstellt, sind Hintergrundfiguren (und man hat sich dafür offensichtlich ein paar echte Originale gesucht), die schon in ihrer Physiognomie, in ihrem reinen Erscheinungsbild wie Figuren einer lange vergangenen Zeit wirken. Und sie alle sind reine Opportunisten, die immer erst schauen, was sich entwickelt, bevor einer von ihnen handelt. Die Welt, in der dieser Film spielt, wird von den Gesetzen dieser Männer bestimmt. Diese Gesetze, die viel von Ehre, Loyalität, Verrat und Freundschaft/Familie erzählen, wirken wie letzte Strohhalme einer Gesellschaft, die abgeschrieben, vergessen, ohne jeden Halt ist. Die, die innerhalb dieser Gesetze agieren und das Heft des Handelns in der Hand halten sind jedoch die Frauen. Ob Ree, ob Thumps Frau Mareb und ihre Schwestern, ob Rees Freundin, die sich gegen ihren ebenfalls vollkommen passiven Freund zu behaupten weiß – diese Frauen, ob man sie mag oder nicht, ob das, was sie tun, einem gefällt oder nicht, sind diejenigen, die diese Gesellschaft zusammenzuhalten in der Lage sind. Und ihr auch Sinn zu geben vermögen. Es gibt eine Szene, in der Ree ihre nahezu katatonische Mutter anfleht, ihr einmal, nur dieses eine Mal zu helfen, sie wisse nicht, wie sie mit dieser Herausforderung fertig werden solle. Doch die Mutter sitzt nur da, starrt und schweigt. Dieses Bild ist in diesem Film, der von diesen starken Frauen erzählt, umso bitterer und verstörender, enthält es doch die Möglichkeit, die die letzte, die undenkbare sein müsste: Das Scheitern dieser Frauen. Und darin das Scheitern letzter Hoffnungsschimmer.
Wollte man dem Film etwas vorhalten, so ist es das Ende, das dann doch sehr amerikanisch wirkt. Ree überlegt, zur Armee zu gehen, da eine Verpflichtung 40.000$ einbrächte, die die Familie gut gebrauchen könnte. Der Anwerber der Armee durchschaut dies jedoch und schickt Ree weg. Wir sehen sie, wie sie durch die Schule läuft und in den Klassenräumen werden uns lediglich zwei Arten von Unterricht präsentiert: Exerzieren und Babys Stillen. Die beiden Disziplinen, in denen all diese Jugendlichen einmal enden werden: Soldat werden oder Mutter. Wenn Ree also am Ende des Films zu ihren Geschwistern zurückkehrt und ihnen verspricht, zu bleiben und auf sie aufzupassen, suggeriert der Film in all dem Elend, das er zuvor 100 Minuten lang ausgestellt hat, so etwas wie Rettung oder Erlösung.
Und in diesem Punkt läßt er den Zuschauer dann seltsam unberührt zurück. Die Tragödie dieser Menschen ist überwältigend trist, Rees Bekenntnis wirkt da wie ein Anrennen gegen Windmühlen, das wir dennoch glauben sollen. Ein kleiner Wermutstropfen an Glaubwürdigkeit in einem ansonsten unfassbar authentischen Film.