ANTICHRIST

Ein surrealer, hoch symbolischer Albtraum von Lars von Trier

Die Frau (Charlotte Gainsbourg) und der Mann (Willem Dafoe) schlafen miteinander. Während sie sich immer weiter in Ekstase steigern, klettert ihr kleiner Sohn Nic (Storm Acheche Sahlstrøm) langsam auf das Fensterbrett des Wohnzimmers, hinter dessen Scheiben der Schnee fällt. Er stößt drei kleine Figuren um – die „drei Bettler“. Dann öffnet er langsam das Fenster und greift, während seine Eltern zum Höhepunkt kommen, nach den Schneeflocken und fällt in die Tiefe.

Nach der Beerdigung, bei der der Vater still weint, muß sich die Mutter in Behandlung begeben, da sie einen Nervenzusammenbruch erlitten hat. Der Mann, von Beruf Psychotherapeut, möchte die Behandlung selbst übernehmen, da er sich einerseits für einen besseren Therapeuten hält als jene, die das Krankenhaus stellt, zudem aber auch argumentiert, seine Frau besser zu kennen und deshalb tiefer in ihre Psyche eindringen zu können.

Er wendet eine Art Konfrontationstherapie an, erwähnt tief sitzende Ängste, die sie schon lange drangsalieren, bemüht sich, immer wieder auf das Unglück, das ihnen beiden widerfahren ist, zurück zu kommen und ihre Schuldgefühle zu bekämpfen. Die Frau sucht einerseits seine Nähe, auch die körperliche, weist ihn zugleich aber auch immer wieder von sich. Ihre Versuche, mit ihm zu schlafen, weist wiederum er zurück, da man nicht mit seinem Therapeuten intim werden dürfe. Doch schließlich schlafen die beiden wieder miteinander.

Die Frau kann ihre Ängste, die Trauer und die Schuldgefühle jedoch nicht überwinden.

Der Mann beschließt, sie sollten gemeinsam in die Wälder fahren. Dort, in einer Hütte, die sie „Eden“ nennen, hat die Frau einige Zeit mit Nic verbracht, als sie an ihrer Dissertation gearbeitet hat.

Im Wald verstärken sich die Angstzustände der Frau zunächst. Sie will das Gras, das die Hütte umgibt, nicht berühren, sie fürchtet den Wald.

Zusehends wird die Natur auch für den Mann bedrohlicher. In Massen prasseln Eicheln der das Haus umgebenden Bäume auf das Dach der Hütte, als er morgens aufwacht, ist seien Hand voller blutsaugender Insekten.

Es gelingt dem Mann nach und nach, die Angst der Frau vor der Natur zu bezwingen. Sie legt sich ins Gras, kann in den Wald gehen und die Natur immer mehr annehmen, gar genießen.

Auf seinen Streifzügen durch die umliegenden Wälder wird der Mann Zeuge seltsamer Begebenheiten: Ein Reh steht auf einer Lichtung, eine Totgeburt hängt halb aus dem Tier heraus. Bei anderer Gelegenheit trifft der Mann auf einem Fuchs, der seine eigenen Eingeweide frisst, sich dann zu ihm wendet und mit menschlicher Stimme sagt: „Chaos regiert!

Der Mann durchstöbert die Hütte und findet hier Teile der nie abgeschlossenen Dissertation der Frau. Sie beschäftigte sich mit Hexenverfolgung. Doch gespickt ist sie mit Bildern und Darstellungen von Folter, Scheiterhaufen und fürchterlichen Massakern an Frauen. Auf die Arbeit angesprochen, erklärt die Frau in teils wirren Worten, daß sie sich verachte und alle Frauen für böse halte. Seinen Einwänden gegen diese Sicht schenkt sie keine Beachtung oder Glauben.

Zwischen beiden tritt schleichend eine Entfremdung ein. Der Mann findet ein Foto, das andeutet, daß die Frau in jenen Wochen, die sie mit dem gemeinsamen Sohn in der Hütte verbracht hat, das Kind mißhandelt hat.

Immer häufiger macht sie ihm Vorwürfe, deren Gründe im Unklaren bleiben, sucht aber auch jetzt die körperliche Nähe. Sie schlafen miteinander und diese Akte der Vereinigung sind auch wieder von Lust und Ekstase erfüllt. Doch unterstellt sie ihm, daß er sie verlassen wolle. Diese Angst scheint tief bei ihr zu sitzen.

Während eines Liebesakts im Wald, am Fuß eines gewaltigen Baumes, greifen etliche Hände durch das Wurzelwerk, in dem sie liegen, nach den beiden.

Die Frau liegt vor der Hütte im Gras und beobachtet, wie ein Vogelküken aus dem Nest fällt. Es liegt im Gras und wird augenblicklich von Insekten, Ameisen, Spinnen, überrannt. Es öffnet ein Auge und blickt in die Welt. Dann kommt die Krähe, schnappt das Küken und beginnt, es auf einem Ast des Baumes zu zerpflücken. Die Frau definiert Reh, Fuchs und Krähe als die „drei Bettler“, deren Auftauchen ein Zeichen eines nahenden Todes sei.

Während eines Vereinigungsakts schlägt sie ihm mit einem Holzscheit in die Hoden, die sie extrem quetscht. Der Mann wird ohnmächtig, doch sie sieht, daß er dennoch eine Erektion hat. Sie beginnt, ihn zu masturbieren, bis er ejakuliert. Doch statt Samenflüssigkeit, tritt Blut aus seinem Penis aus. Die Frau nimmt einen Schleifstein und treibt dessen Stange durch den Unterschenkel des Mannes. Den Schraubenschlüssel, mit dem sie die Mutter an der Wade auf der austretenden Stange befestigt, wirft sie weg.

Als der Mann wieder zu sich kommt und die Frau schlafend findet, versucht er zu fliehen. Er schleppt sich mit dem Schleifstein am Bein durch den Wald, kommt aber nicht sehr weit. Als er die Frau hinter sich rufen hört, versteckt er sich in einem Fuchsbau, wo er von der Krähe attackiert wird, die er erschlägt, die aber wieder zum Leben erwacht und ihn erneut angreift.

Schließlich findet die Frau ihn in seinem Versteck. Sie prügelt mit einem Spaten auf ihn ein, wodurch der Bau einstürzt und den Mann nahezu begräbt. Später versucht sie, ihn zu befreien. Sie bereut ihre Tat und schleppt ihn zurück zur Hütte. Sie will ihn von dem Stein befreien, doch kann sie das Werkzeug nicht mehr finden. Die beiden liegen erschöpft in der Hütte, er fragt sie, ob sie ihn nun töten wolle. Sie antwortet: „Noch nicht.„. Da aber die „drei Bettler“ sich immer deutlicher zeigten – nicht zuletzt als Sternenbilder am Himmel über dem Wald – stünde in baldiger Tod bevor.

Erneut versuchen die beiden, miteinander zu schlafen, doch der Mann ist zu erschöpft und seine Verletzungen sind zu stark. Während dieser Versuche hat die Frau Erinnerungsblitze, die zeigen, wie sie in jener Nacht, als ihr Sohn starb, gesehen hat, wie dieser auf das Fensterbrett kletterte und nichts unternahm, obwohl sie wusste, was passieren kann. Sie greift nach einer Schere und schneidet sich die Klitoris und die Schamlippen ab.

Im Laufe der Nacht treffen Reh, Fuchs und Krähe im Haus ein und beobachten die beiden. Der Mann vernimmt das Krächzen der Krähe unter dem Boden der Hütte und erhält dadurch ein Zeichen. Er zertrümmert die Dielen und findet so den Schraubschlüssel. Er befreit sich von dem Schleifstein, während die Frau mit der Schere wild auf ihn einsticht. Trotz der Verletzungen gelingt es ihm, sie zu bändigen. Er drückt sie gegen die Wand der Hütte und erwürgt sie langsam.

Vor der Hütte errichtet der Mann einen Scheiterhaufen und verbrennt auf diesem die Leiche seiner Frau.

Am nächsten Morgen macht der Mann sich auf den Weg zu seinem Auto, um den Wald zu verlassen. Mit einer behelfsmäßigen Krücke humpelt er durch den Wald und erreicht eine Lichtung. Er dreht sich um und sieht Fuchs, Reh und Krähe friedlich ihm nachblicken. Er lächelt und dreht sich um. Vor ihm bewegen sich unendlich viele gesichtslose Frauen auf ihn zu…

Die Figur des Antichrist ist eine höchst komplizierte, da sie, entgegen landläufiger Annahme, keinesfalls einfach den Teufel höchstpersönlich bezeichnet. Erstmals in der Offenbarung des Johannes erwähnt, umfasst der Antichrist all jene Elemente, die sich gegen den Gottessohn stellen. Dies gilt vor allem in jenem apokalyptischen Endzeitszenario, welches die Offenbarung des Johannes darstellt und wo der Antichrist vor der Wiederkunft des Messias auftritt. Er legt falsches Zeugnis ab, er verwirrt die Menschen mit Lügen und falschen Lehren über Gottes Schöpfung und Jesus als Gottes Sohn und Messias. Doch im Verlauf der christlichen und abendländischen Kulturgeschichte ist der Begriff in vielerlei Hinsicht und in den unterschiedlichsten Zusammenhängen – bis hinein in die Populärkultur – genutzt worden und hat sich entsprechend gewandelt und wurde auch erweitert um durchaus säkulare, nicht direkt religiöse Konnotationen. Mit diesem Begriff zu arbeiten, deutet entweder auf in höchstem Maße Triviales oder aber höchst Kompliziertes hin. Hat man es mit einem Film des dänischen Regisseurs Lars von Trier zu tun, sollte man eher von Letzterem ausgehen und sich grundlegend auf ein intellektuell, aber auch emotional  forderndes Werk einstellen.

Von Trier, der zuvor mit ganz unterschiedlichen Filmen auf sich aufmerksam gemacht hatte, darunter den eher experimentellen DOGVILLE (2003) und MANDERLAY (2005), befand sich zur Zeit der Vorbereitung zu ANTICHRIST (2009) in einer schweren Depression, die ihm das Arbeiten nahezu unmöglich machte und, so zumindest sahen es etliche Kritiker, maßgeblichen EInfluß auf den Film gehabt haben soll. Zweifelsohne ist dies ein düsterer, nahezu dunkler Film, bedrückend sowohl inhaltlich, als auch formal und stilistisch. Von Trier, der in den 90er Jahren zum Katholizismus konvertierte, bringt Themen und Thesen zueinander, die auf komplizierte und komplexe Weise miteinander zusammenhängen und konfrontiert das Publikum mit einer ambivalenten, nie wirklich auf den Punkt zu bringenden Haltung, die durchaus auch religiöser Natur ist.

Ein Mann und eine Frau schlafen miteinander. Während des Aktes fällt ihr kleines Kind aus dem Fenster und stirbt. In Trauer gefangen, gelingt es der Frau nicht, sich ihrem Schmerz zu stellen und diesen zu überwinden. Der Mann – von Beruf Psychotherapeut – will sich selbst ihrer Heilung annehmen. Gemeinsam gehen sie in eine Waldhütte, die sie „Eden“ nennen und wo sie zuvor bereits gewesen sind, um sich hier dem Schmerz und den Schuldgefühlen zu stellen. Im Wald geschehen zusehends seltsamere und bedrohlichere Dinge, bis die Natur selbst sich feindselig und geradezu bösartig gegen die Menschen – zumindest gegen den Mann – wendet. Synchron verschiebt sich das Verhältnis von Frau und Mann. Sie befreit sich von ihm und seinen Versuchen, sie zu heilen. Auch überwindet sie ihre Ängste, die sie gegenüber dem Wald und der Wiese, die das Haus umgibt, hegt und verhält sich zunehmend aggressiv gegen den Mann. Als sie eine wirkliche Bedrohung für ihn wird – eine physische Bedrohung – tötet er sie, verbrennt sie auf einem Scheiterhaufen und will den Wald verlassen.

Schon der grobe Abriss dieser Handlung zeugt von tiefem Willen zur Allegorie, zur Metapher und vor allem zur Symbolik. Lars von Trier reichert seine Bilder vom ersten Moment an mit tief symbolischen, surrealen Details, Handlungen und Verweisen an. Da sind „die drei Bettler“, die zunächst als Figuren auftauchen, die vom Kind, kurz bevor es aus dem Fenster fällt, umgestoßen werden, dann in den Gestalten von Fuchs, Reh und Krähe, von der Frau als Vorboten eines kommenden Todes bezeichnet, erneut auftreten und schließlich als Sternbilder den Himmel über dem Wald erleuchten. Da ist der Wald als alter europäischer Projektionsraum. Viele Märchen nutzen ihn als Ort düsterer Handlungen, immer wieder kann er als Ort des Unbewußten gelesen werden, wo sich Ängste manifestieren, die wir sonst verdrängen und in den tiefsten Tiefen unserer Seelen weggeschlossen zu haben glauben. Beim Liebesakt in diesem Wald, an der Wurzel eines gewaltigen Baumes, greifen etliche Arme aus dem Wurzelwerk nach den Liebenden. Das Haus in diesem Wald „Eden“ zu nennen – also nach jenem Garten der Glückseligkeit, aus dem die Menschheit bekanntlich nach dem Genuß des Apfels vom Baum der Erkenntnis vertrieben wurde – ist ebenfalls zutiefst symbolisch zu verstehen. Die Doppelung von Sexualität und Tod, Eros und Thanatos unmittelbar aneinander zu knüpfen, wie in der ersten Szene, durchzieht den ganzen Film und grundiert ihn nicht nur, sondern definiert ihn. So ejakuliert aus dem manuell befriedigten Penis des bewußtlosen Mannes Blut statt Sperma. Und auch, daß die Frau einst an einer Dissertation zum Thema der Hexen in der europäischen (Kultur)Geschichte schrieb, ist im Kontext des Gesamtwerks symbolisch zu betrachten. Erst in der Gesamtanalyse des Films erklären sich diese Symbolismen. Man muß diesen Film sehr genau betrachten und bereit sein, sich den oftmals drastischen, ja ekelerregenden Bildern, die von Trier fast provokant präsentiert, auszusetzen und sie in sich aufzunehmen, um zu durchdringen, worum es dem Regisseur geht. Oder gehen mag.

Die mit Digitalkameras gedrehten und in der Postproduktion auch digital nachbearbeiteten Bilder erzeugen einen Hyperrealismus, der mit der aller Realistik, jedweder historischen, sozialen oder gesellschaftlichen Beziehungen entbehrenden Handlung scharf kontrastiert. Dieser Hyperrealismus unterstützt natürlich auch die Drastik einiger Bilder. Und an entscheidenden Stellen sind diese Bilder wirklich sehr drastisch. Selbst- und Fremdverstümmelung, deutlich sichtbare sexuelle Handlungen, an Folter grenzende physische Angriffe – wären sie nicht in eine Allegorie eingebettet, wäre ihr Gehalt nicht so überdeutlich als surreal und metaphorisch zu erkennen, diese Bilder könnten einem Splatterfilm entstammen. So wurde ANTICHRIST auch schnell als dem Horrorgenre zugehörig abgekanzelt, vielleicht, um sich den tieferen Wahrheiten, die der Film bietet, nicht stellen zu müssen.

Man sollte möglicherweise jedwede Analyse mit dem Bekenntnis beginnen, diesen Film keinesfalls als Horrorfilm einzuordnen. Zumindest nicht als Genrefilm. Daß die Wirklichkeit, die Geschichte, auch die Kulturgeschichte, genug realen Horror bereithalten, um Regalkilometer mit entsprechender Literatur zu füllen, ist unstrittig. Im Grunde braucht es keine Geschichten des Über- und Unnatürlichen, keine mythischen Fabelwesen oder verrückte Serienmörder, um sich mit Angst zu infizieren. Der Horrorfilm ist ein ambivalentes Genre, da er zugleich unterdrückten Ängsten, auch Vorurteilen und Ressentiments, Ausdruck verleiht, dabei gelegentlich reaktionär erscheint, diese jedoch auch immer unterläuft, indem es sie in Frage stellt, manchmal denunziert oder in Zusammenhänge verwebt, die zunächst absurd erscheinen können. Darin unterscheidet sich dieses von anderen Genres, die sehr viel eindeutiger als konservativ, links, reaktionär oder progressiv zu identifizieren sind. Wenn man also einen Film wie ANTICHRIST als Horrorfilm deklarieren will, dann sollte man zumindest konstatieren, daß man es hier mit einem Metafilm zu tun hat, der sich die Regeln und Konventionen des Genres vielleicht zunutze macht, nicht aber, ohne sie gegen sich selbst zu wenden, wie dieser Film generell dekonstruktiv Wahrheiten und Gewissheiten unterläuft und in Frage stellt, ja geradezu verkehrt.

2000 Jahre Christentum haben ein patriarchales System hervorgebracht, das gerade einmal seit ca. 150 Jahren politisch und gesellschaftlich sowie kulturell in Frage gestellt wird. Das in diesem Glaubenssystem manifeste Männer- und Frauenbild schien nahezu zementiert. Am Anfang der Menschheitsgeschichte steht demnach die Vertreibung aus dem Garten Eden. Und es ist die Verführbarkeit der Frau einerseits, andererseits ihren Verführungskräften zuzuschreiben, daß es zu dieser Vertreibung kommt. Sie also ist schuldig, „böse“ im Sinne der (biblischen) Anklage, da sie die verbotene Frucht vom Baum der Erkenntnis entgegen nimmt. So ist die Frau von allem Anfang an mit der Sünde konnotiert. Die Geschichte des Christentums hält viele Beispiele bereit, wie Frauen, vor allem aufmüpfigen, zu begegnen ist und begegnet wurde. Eine der wesentlichen war die Hexenverbrennung. Natürlich erfassten die Hexenprozesse auch Männer, doch waren es in erster Linie Frauen, die sich mit Vorwürfen konfrontiert sahen, mit dem Teufel, Dämonen oder eben dem Antichrist paktiert zu haben. Dafür wurden sie gefoltert, ermordet und verbrannt. Die Hexe tritt in mannigfachen Varianten auf. Sie kommt in den Apokryphen vor, natürlich in Märchen und immer wieder auch in Stücken der Antike und der europäischen Literaturgeschichte, man denke nur an die drei Hexen in Shakespeares MACBETH.

Grundsätzlich kann man die These aufstellen, daß sich in der Figur der Hexe eine grundlegende Angst vor Frauen, vor dem Weiblichen schlechthin offenbart. Vielleicht kann man aber auch sagen, daß hier zudem etwas zum Ausdruck kommt, das weitaus komplizierter ist, als eine einfache Dichotomie von Mann und Frau. Denn die Machtfülle, die Hexen zugestanden wird, sowie die Tatsache, daß auch Männer in Hexenprozessen verurteilt wurden, wie auch der Fakt, daß es mit dem Hexer ein männliches Pendant gibt, deutet auf etwas Prinzipielles hin: Weiblichkeit und Männlichkeit sind nicht an Männer und Frauen gebunden, sondern umschreiben eben Prinzipien, die sowohl in Frauen wie auch in  Männern wirksam sind. Allerdings ist in diesem Zusammenhang wahrscheinlich auch festzuhalten, daß in patriarchalen Gesellschaften Frauen Männer weitaus besser verstehen (müssen), als Männer gegenüber Frauen dazu verpflichtet sind und waren. In gewisser Weise war für viele Frauen in der Geschichte das Verständnis männlicher Charakteristika, Bedürfnisse und Psychologie, letztlich auch die Übernahme männlicher Verhaltensweisen, dringend notwendig. Überlebensnotwendig. Demgegenüber konnten Männer das weibliche Prinzip in sich vergleichsweise einfach unterdrücken. Möglicherweise fürchten sie es sogar, was sich bspw. in immer noch weit verbreiteter Homophobie zeigt. In einschlägiger Literatur der letzten 70 Jahre – von Simone de Beauvoir und Doris Lessing über Julia Kristeva, Luce Irigaray, Toni Morrison, Judith Butler, bis zu jüngsten Veröffentlichungen von Frauen wie Svenja Flaßpöhler u.a. – ist dieser Gedankengang und seine kulturelle Wirkung nachzuvollziehen. Und mit diesen Schriften ist der Schritt aus einem religiösen Kontext in einen philosophischen und – wichtiger noch – psychologischen vollzogen. Genau in diesem Spannungsfeld sollte Lars von Triers Film ANTICHRIST verortet werden.

Der Mann, gespielt von Willem Defoe, der hier einmal mehr beweist, auf welch mutige Rollen er immer wieder zuzugreifen bereit ist, entspricht in seinem Verhalten einem  durchaus modernen Typus. Er ist sensibel, er ist bereit, eigene Verantwortung zu sehen und zu übernehmen, er ist seiner Frau gegenüber zu-ge-tan. Er ist aber eben auch ein Vertreter des männlichen Prinzips. Von Trier gibt seinen Figuren keine Namen, es gibt nur IHN und SIE. In diesem Konstrukt entspricht ER eben auch dem männlichen Prinzip: Rational, scheinbar vernunftgesteuert, anpackend. Und diesem Prinzip folgend nimmt er sich seiner Frau an. Er will sie heilen, will sie aus ihrer Depression herausführen, will ihr helfen, einen Ausweg aus Trauer und vermeintlicher Schuld zu finden. Damit ist er aber auch prinzipiell der Stärkere der beiden, er führt. Seine eigene Trauer zeigt er in einer kurzen Sequenz während der Beerdigung des Kindes, in der er weint. Doch danach scheint er von den Vorfällen nahezu unberührt, wenn nicht gar unbeteiligt an ihnen. Hier scheint es auf, das Prinzip von Signifikat und Signifikanten, sogar das Saussure´sche Supplement in einer binären Beziehung, in der der Signifikant immer vom Signifikat abhängig ist.

Die Frau – Charlotte Gainsbourg, die in ihrer Karriere immer bereit gewesen ist, extreme und extrem schwierige Rollen zu übernehmen, bietet hier eine wahre Tour de Force, eine schauspielerische Leistung, die ihresgleichen sucht, derart mutig und herausfordernd spielt sie diese junge Frau – steht entsprechend für das weibliche Prinzip. Zumindest scheint es so. Sie wird von ihren Gefühlen vollkommen überwältigt, geradezu über-mannt. Sie sucht Schuld bei sich und es gibt Hinweise im Film, daß sie Schuld auf sich geladen hat. Sie scheint irrational, zugleich aber – trotz ihrer Angst vor dem Wald und dem Gras – auch in seltsamer Verbindung mit der Natur. Nicht, daß diese ihr gehorchte, was das Hexen-Thema noch einmal zusätzlich befeuern würde, aber sie bewegt sich zusehends geschmeidiger in einer Natur, die scheinbar immer feindlicher wird, zumindest dem Mann gegenüber. So kann man – symbolisch – getrost von einer hohen Übereinstimmung des weiblichen Prinzips mit einem Naturprinzip sprechen. Eine Sichtweise, die sich vielfältig in den oben genannten literarischen Werken, vor allem bei Julia Kristeva, finden und überprüfen lässt.

Wie aber ist dann die Haltung dieser Natur hier zu lesen? In einer verstörenden Szene, in der der Mann im Unterholz auf den Fuchs stößt, der seine eigenen Eingeweide frisst, richtet das Tier das Wort an den Menschen und sagt:“Chaos regiert“. Das Chaos aber ist der Widerspruch zu Gottes Schöpfung, an die der Mann als Vertreter aufgeklärten Denkens, der er natürlich ist (sein will), als solche nicht glaubt. Und doch scheint alles in dieser Natur sich aufzulehnen: Das Reh springt mit seinem toten Kitz, welches halbgeboren aus dem Leib der Mutter hängt, durch den Wald, die Krähe frisst ihr eigenes Junges, nachdem dieses aus dem Nest fiel (gestoßen wurde?) und am Waldboden von Insekten  gefressen zu werden drohte. Mit toten Kindern als Symbolen einer grundlegenden Störung der natürlichen Ordnung wird man in diesem Film also immer wieder konfrontiert. Nebel steigt auf, die Eicheln der Bäume prasseln mit einer Gewalt auf das Dach des Hauses, als wollten sie dieses gleichsam einreißen, vernichten. Die Natur selbst wird zum Symbol des Chaos, ja, des Bösen.

Einer der radikalsten Denker der europäischen Aufklärung, Donatien Alphonse François, Comte de Sade, kurz: der Marquis de Sade, sah in der Natur das Böse schlechthin. In ihrer Willkürlichkeit, mit der sie Leben spendete und nahm, der Heftigkeit ihres Ausbruchs, aber auch der Unbedingtheit, mit der sie auf Abläufe, bspw. der Reproduktion, besteht, galt sie ihm als unberechenbar und zwingend zugleich und damit als  Antichrist. Oftmals äußerte er seinen Hass gegen die Natur als Erscheinung. Denn ihr scheinbares Chaos, welches sie beherrscht und durch sie zum Ausdruck kommt, steht Gottes Schöpfungsplan entgegen. Dieser Schöpfungsplan und sein enges, auch konventionelles moralisches Korsett, fesselt den Menschen aber und hindert ihn an seiner freien Entfaltung, was in de Sades Fall hieß: Der Entfaltung seiner Lüste und Triebe. Nun sind die Theorien des Marquis sicherlich nicht bis in die letzten Winkel durchdacht und leiden oft an ihrer Widersprüchlichkeit. So sah er im Bekenntnis zum Bösen den freien Willen am Werke. Der Mensch muß sich entscheiden, doch in seiner Entscheidung muß er sich Gottes und dessen immer schon vorgefertigter Pläne erwehren, indem er ihn lästert. So gerät der Mensch in ein Spannungsfeld zwischen Gut und Böse, de Sade lässt ihm aber nur im Bösen die Äußerung des freien Willens. In Bezug auf ANTICHRIST als Film könnte man also die Behauptung aufstellen, daß hier ein Mann und eine Frau in genau dieses Spannungsfeld geraten und darin verloren zu gehen drohen. Zugleich findet aber auch eine Emanzipation statt. Die Frau findet ihren Weg zur Natur, damit zum Bösen  – sie behauptet an einer Stelle des Films, daß alle Frauen böse seien, was dem christlichen Urbild entspräche – und, bliebe man bei de Sades These, damit auch zu sich selbst, zum eigenen freien ich.

Viel von de Sades Naturbild scheint in von Triers Film aufzuscheinen. Allerdings schlägt er, von Trier, das weibliche Prinzip ebenfalls der Natur zu. Womit es zum Bild, zum Symbol des Antichristen wird. ANTICHRIST wurde nicht von ungefähr massiv Frauenfeindlichkeit vorgeworfen. Eine Sichtweise, der man zuneigen kann, allerdings verharrt man damit auf halber Strecke in der Analyse dieses Werkes. Denn das Christliche – sicher, ein Glaubenssystem – wird hier mit dem rationalen männlichen Prinzip kurzgeschlossen. Auf den Umwegen des Humanismus, der Reformation und schließlich der Aufklärung, trug es auf seine Weise, eben weil es zutiefst patriarchal geprägt ist, zu rationalen Prinzipien bei[1].  So sollte man das, was in dem Begriff „Anti-Christ“ in Bezug auf den Film auf das Christliche verweist, als das männliche Prinzip als Ordnungsprinzip deuten. Und dieser Deutung verweigert sich im Film nicht nur zunehmend die Natur, sondern eben auch SIE, die Frau. Es sind männliche, rationale Ordnungssysteme, die die Welt in Schemata und Klassifikationen ein- und zerteilen. Und diese Ordnungssysteme sind zugleich Machtsysteme, indem sie die Welt erklärbar und dadurch beherrschbar machen. Sich Untertan machen. Was aber, wenn diese Ordnungen eine grundsätzliche Täuschung sind? Was, wenn das eigentliche Ordnungsprinzip der Welt das Chaos, das vermeintlich „Böse“  ist?

Lars von Trier wäre aber natürlich nicht Lars von Trier, wenn er den Zuschauer so einfach davon kommen ließe. ANTICHRIST ist ebenso wenig ein feministisches Werk, wie er frauenfeindlich ist. Viel mehr ist es ein Werk, das Fragen aufwirft, indem es sie zuende denkt. Und nichts hier ist letztlich stringent. Chaos regiert – überall, also auch in den Köpfen. Denn diese Frau leidet auch unter der Angst, daß ihr Mann sie verlassen will. Deshalb martert sie ihn, zerquetscht ihm die Hoden und bohrt ihm die Achse eines Schleifsteins durch die Wade, um anschließend den Schlüssel, mit dem die Schrauben zu lösen wären, fortzuwerfen. Sie kettet ihn symbolisch an sich. Nicht nur deuten Fotos, die der Mann in ihren Unterlagen findet, darauf hin, daß sie das gemeinsame Kind möglicherweise in jener Zeit, da sie allein mit ihm im Wald war, dadurch malträtiert hat, indem sie ihm die Schuhe bewusst falsch herum angezogen hat, sondern subjektive Rückblenden legen nahe, daß sie beim Liebesakt mit ihrem Mann den Jungen auf seinem Weg zum Fenster beobachtet hat und das Unglück somit hat kommen sehen – und geschehen lassen. Wobei wir als Zuschauer nicht sicher sein können, ob dies nachträgliche, imaginierte Bilder sind, Ein-bild-ungen, die Schuld transportieren und vergegenwärtigen sollen. Schuld, die sonst nie fassbar wäre, oder aber doch wirkliche Erinnerungen daran, wie sie, die Frau, hat geschehen lassen, was nie hätte  geschehen dürfen? Von Trier geht durchaus das Wagnis ein, dieser Frau wirklich Böses zu unterstellen, was ihr Mann, aufgrund seiner Profession, natürlich als psychische Disposition betrachten würde. Im Kontext der oben dargelegten Thesen wäre diese Schuld, wäre das „Böse“ allerdings auch als absolute Differenz, Geschlechterdifferenz, zu betrachten. Da, wo Frauen mit einer an sich „bösen“ Natur in Verbindung stehen, ist männliches Verständnis nicht mehr möglich. Das männliche Ordnungsprinzip käme an sein absolutes Ende, die Sprache versagte und die einzige Möglichkeit der Welterkennung wäre die Welterfahrung als unumkehrbarer Prozeß. Eine für viele Männer fürchterliche Vorstellung, eine tiefliegende Angst, an der gerührt wird, denn dieser Prozeß wäre vor allem von Kontrollverlust bestimmt. Dieses Gefühl des Kontrollverlusts steigert der Film noch dadurch, daß es ja die Therapieversuche des Mannes sind, die die Frau überhaupt erst „befreien“ und sich emanzipieren lassen, indem er sie an die Natur, die sie zunächst fürchtet, heranführt.

Chaos regiert – und so findet das Chaos im Kopf der Frau seinen Höhepunkt nicht nur in den Angriffen auf ihn, sondern vor allem in der Selbstverstümmelung. In einer wahrlich furchteinflößenden Einstellung schneidet sie sich die Schamlippen und die Klitoris ab. Damit ist einerseits die Ordnung wieder hergestellt, denn nun haben beide verstümmelte Genitalien, doch zugleich ist das Chaos damit perfekt, ist die Ordnung der Dinge maßgeblich und nachhaltig gestört. Wenn der Liebesakt zu Beginn des Films, der fast pornographisch inszeniert wird, zugleich „schuld“ ist am Tod des Kindes, weil diesem in diesen Momenten nicht die gebührende Aufmerksamkeit zuteil wurde, wenn also die reine Lust das Leben auslöscht, das ja erst durch den Akt geschaffen wird – eine Denkfigur, die sich auch bei de Sade findet, der seine Figuren bspw. in der PHILOSOPHIE IM BOUDOIR gern Analverkehr betreiben lässt, um möglichst viel Samen zu verschwenden, der damit seiner eigentliche Bestimmung, der Befruchtung, entzogen ist – dann wird hier auf fast perfide Weise die katholische Sexuallehre einerseits bestätigt, andererseits desavouiert. Mit der Zerstörung der Sexualorgane ist Reproduktion nicht mehr möglich, sind sowohl die natürliche Ordnung, als auch Gottes Plan endgültig durchkreuzt. ANTICHRIST ist voller solcher Anspielungen und Ambivalenzen und genau darin, keine wirkliche Haltung, keine eindeutige Position des Films ausmachen zu können, liegt für viele Zuschauer wahrscheinlich ein massives Problem. Ein Film, der von der Bearbeitung eines Traumas handelt und dabei traumatisch wirkt – ja, möglicherweise ist das ein wahrer Horror-Film.

Lars von Trier nimmt moralische und konventionelle Regeln hier ausgesprochen ernst, konfrontiert sie mit einem (post)modernen Welt- und Geschlechterbild einerseits und einem nahezu archaischen Verständnis von Natur und der Natur dessen, was gern „das Böse“ genannt wird, andererseits. Die Ordnung der Dinge wieder herzustellen, obliegt schließlich dem Manne. Das Mittel, das er nach all seinen Versuchen, seine Frau wieder „ganz“ zu machen, sie zu „reparieren“, sie zu „heilen“, nach all seinem Verständnis und Leiden an ihr und ihrem „Zustand“, nutzt, ist das Mittel der Gewalt. Sicher, sie geht auf ihn los, sie mißhandelt und verletzt ihn schwer – und dafür wird sie sterben müssen. Er erwürgt sie. Und verbrennt dann ihren Leichnam auf einem Scheiterhaufen (sic!). Da sie selbst es war, die das Eintreffen der „drei Bettler“ als Zeichen des herannahenden Todes definiert hat, da Fuchs, Reh und Krähe – letztere zu diesem Zeitpunkt bereits zweimal von den Toten auferstanden – in dieser Funktion erscheinen, ist es eine Frage des „Wer stirbt?“ Die Stärke des Mannes, seine Gewaltfähigkeit, das ihm zugrunde liegende Prinzip, das sich entgegen all seiner Sensibilität und Rationalität Bahn bricht, gewinnt. Die Frau zu verbrennen, ihren Körper letztgültig auszulöschen, die Beweise zu vernichten – die Beweise ihrer Existenz, nicht die eines Verbrechens, denn zu diesem Zeitpunkt sind wir und der Film längst restlos in der Allegorie angelangt – ist die angestrebte Wiederherstellung eines Ordnungsprinzips. Die Welt kann weiter in ihren Bahnen laufen, wie wir (Männer) sie uns vorstellen. Das Chaos ist besiegt und mit ihm die weibliche Auflehnung. Bleibt die Frage, ob man(n) vielleicht einem Trugschluß erliegt, denn die „drei Bettler“ haben sich ans Firmament erhoben, sie überstrahlen die Hemisphäre, ihr Licht schenkt Helligkeit. Und kündet vom Tod.

Und so unterläuft von Trier Im Epilog auch die scheinbar so eindeutige Perspektive wiederhergestellter Ordnung. Der Mann, schwer gezeichnet, kämpft sich mit einer notdürftigen Krücke durch den Wald, er will zurück zum Auto, das ihn und seine Frau hier hin, in diesen Wald, gebracht hat. Ein Blick zurück lässt ihn noch einmal die „drei Bettler“ am Waldesrand erblicken, was ein Lächeln auf sein Gesicht zaubert. Einverständnis? Wohl kaum. Denn als er die Hügel der vor ihm liegenden Lichtung überschaut, bewegen sich Dutzende, Hunderte, gar Tausende gesichtslose Frauen auf ihn zu. Der Geschichte, auch und gerade der unterdrückten, der verdrängten, und den Opfern von Jahrtausenden, kann DER MANN nicht entkommen. Und auch das ist eine düstere, bedrohliche Perspektive. Es ist die Perspektive eines männlichen Filmemachers.

Nimmt man Lars von Trier in seinen Ausführungen zu seinen Neurosen, seiner Hysterie und seinen Depressionen ernst, lässt ANTICHRIST keinen Ausweg mehr zu. Fest ineinander verbissen ringen weibliches und männliches Prinzip miteinander, besten- und schlimmstenfalls bis in alle Ewigkeit. Die Natur selbst wird uns weder schützen, noch wirklich Kenntnis von uns nehmen. Wir werden zerrieben in den Mühlsteinen unserer selbst geschaffenen Konventionen, Moralvorstellungen, Korsette und Ordnungen. Als Gesellschaft, aber eben auch als einzelne(r). Es bleibt Künstlern wie Lars von Trier überlassen, diese Reibung, diese Zerstörung des eigenen Ich zu dokumentieren und zu transformieren. Zumindest das bleibt uns, als Hoffnung, als Strohhalm: Die Kunst.

[1] Zu diesem Themenkomplex sei verwiesen auf Max Webers DIE PROTESTANTISCHE ETHIK UND DER GEIST DES KAPITALISMUS. Erschienen 1904.

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