EIN KIND ZU TÖTEN/¿QUIÉN PUEDE MATAR A UN NIÑO?

EIN KIND ZU TÖTEN ist surreal anmutender Eurohorror unter gleißender Mittelmeersonne

Der Engländer Tom (Lewis Fiander) und seine hochschwangere Frau Evelyn (Prunella Ransome) machen ohne ihre Kinder Urlaub in Südspanien. Tom will Evelyn eine Insel zeigen, auf der er Jahre zuvor gute Zeiten verbracht hat. Als sie die Insel erreichen, fällt ihnen zunächst nur auf, daß sie niemanden zu Gesicht bekommen, außer ein paar spielende Kinder an der Hafenmole. Erst nach und nach geht ihnen auf, daß sie keiner Erwachsenen ansichtig werden. Schließlich begegnet ihnen ein alter Mann, dem ein junges Mädchen folgt, das zuvor schon Evelyn begegnet ist. Nun werden sie und Tom Zeugen, wie das Mädchen dem Mann seinen Spazierstock entwendet und ihn damit nahezu totprügelt. Die Engländer begreifen, daß es hier keinesfalls mit rechten Dingen zugeht – es steht dem Ehepaar eine lange, lange Nacht bevor…

In der angelsächsischen Welt hatten Kinder immer ein schlechtes Standing, weshalb es nicht überraschen sollte, daß gerade die protestantisch bestimmten Länder schon im 18. Und 19. Jahrhundert literarisch immer mal wieder schreckliche Kinder hervorbrachten, Henry James schildert zwei vollkommen verdorbene Kinder in seinem Meisterwerk THE TURN OF THE SCREW (1898), das 1961 eine kongenialen Verfilmung fand; Richard Hughes 1929 veröffentlichter Roman A HIGH WIND TO JAMAICA berichtet ebenfalls von Kindern, die selbst vor Mord nicht zurückschrecken, William Goldings moderner Klassiker LORD OF THE FLIES (1954) erzählt, wie sehr gerade die lieben Kleinen der Zivilisation im Grunde abhold sind. Die Liste ließe sich fortsetzen, doch interessanter im vorliegenden Zusammenhang ist es, sich die schier endlose Liste von Filmen anzusehen, die mit genau diesem Sujet des „bösen“ Kindes spielen.

THE BAD SEED (1956) stellt dem Zuschauer ein „böse“ Mädchen vor, die – geneteisch determiniert – zur Serienmörderin wird; 1961 verfilmte William Wyler zum zweiten Mal Lillian Hellmans Bühnenstück THE CHILDREN`S HOUR, das von der Perfidie eines ebenso verlogenen wie verlorenen Mädchens erzählt. Ebenfalls 1961 entstand die bereits erwähnte Henry-James-Verfilmung THE INNOCENTS, die THE TURN OF THE SCREW auf die Leinwand brachte. Schon ein Jahr zuvor, 1960, war der britische VILLAGE OF THE DAMMED (1960) erschienen, am Ende der Dekade der ebenfalls in Großbritannien entstandene IF… (1968), in welchem Lindsay Anderson eine Jugendrevolte gnadenlos bis zum bitteren Ende durchspielte. Zeigten alle diese Filme das Kind als etwas Fremdes, auch durchaus Unheimliches, nur schwer Verständliches, gingen die 70er Jahre etwas reaktionärer zu Werke: THE EXORCIST (1973) und sein Nachfolger THE OMEN (1976) präsentierten Kinder und Jugendliche als entweder besessen oder gleich des Teufels, was durchaus als Reaktion auf die Jugendrevolten der 60er und frühen 70er Jahre betrachtet werden kann. Ebenfalls 1976 machte der spanische Film ¿QUIÉN PUEDE MATAR A UN NIÑO? (EIN KIND ZU TÖTEN…) auf eine andere Art und Weise Ernst mit den Erwachsenen fremden Kindern, machte Ernst mit Jugendrevolte und Kinderaufstand. Selten, vielleicht nie, waren Kinder bedrohlicher als in diesem Film – und nie hatte man so erstaunlich viel Verständnis dafür, zumindest, wenn man die ungekürzte Fassung des Films gesehen hat.

Langsam vergeht dieser Tag, den der Film schildert, unter der sengenden Sonne Südspaniens. Blauer Himmel, die Konturen der Häuser, der Plätze, die Berge am Horizont der Insel treten überdeutlich hervor, friedlich liegt das kleine, weißgetünchte Dorf da, gleißend im Sonnenschein. Friedlich. Es fehlen nur die Erwachsenen. Wenn die ersten Kinder auftauchen, fällt zwar auf, daß sie nicht mit den Fremden kommunizieren, doch läßt sich das eben genau darauf zurückführen: Tom und Evelyn sind Fremde, dazu noch Ausländer. Die Sprachprobleme werden immer wieder thematisiert. Selbst, als Tom ein Funksprechgerät entdeckt, Evelyn, während sie in einem kleinen Lokal wartet, mehrmals angerufen wird und Tom einen dieser Anrufe schließlich entgegennimmt, wird die Situation nicht klarer. Erst als Tom dem Mädchen, welches auf den alten Mann eingedroschen hat, folgt und Zeuge dessen wird, was die Kinder fröhlich lachend mit einem Erwachsenen treiben, der halbtot kopfüber an einem Seil baumelt, erfasst er die Gefahr, in der er und seine Frau schweben. Für all dies läßt der Film sich viel Zeit und erzählt mit einer nahezu enervierenden Ruhe. Nichts hier passiert hektisch, die Kamera nimmt sich ebenfalls Zeit, die leeren Gassen, die niedergelegten Arbeitsmittel, die Interieurs der Räume zu erkunden und zu betrachten. Und wenn sie einer Aktion ansichtig wird, wie der oben beschriebenen, bricht sie auch dann nicht in Hektik aus, sondern gönnt sich allenfalls ein, zwei ungewöhnliche Einstellungen, um dann in ihren eher konventionellen Erzählstil und Rhythmus zurück zu gleiten. Nichts an ¿QUIÉN PUEDE MATAR A UN NIÑO? wirkt wirklich bedrohlich oder bewußt geheimnisvoll gehalten. Im Gegenteil stellt der Film diesen wunderbaren Sommertag geradezu werbewirksam aus. Und genau daraus resultiert der eher untergründige und schleichende Schrecken des Films. Selbst die Gewaltszenen sind nie übertrieben hart, eher schockiert den Betrachter was geschieht und daß es geschieht, als wie es geschieht. Die Kamera weidet sich nicht an detailliert dargebotener Gewalt, niemals wird der Film graphisch explizit. Es ist eine zurückhaltende, fast kühle Art, das Geschehen eher wie in einem Laborversuch zu verfolgen. Und das Grauen erwächst langsam, schleichend aus genau dieser Zurückhaltung.

Warum aber war der Film dann jahrzehntelang indiziert und nur schwer gekürzt zu erhalten? Einmal dürfte es die Tatsache sein, daß nie eine wirkliche Erklärung für das Geschehen geliefert wird. Wir sehen, wie sich Kinder gegenseitig in die Augen schauen, die Kamera fährt extrem nah an die ineinander versunkenen Augenpaare heran und es entsteht der Eindruck, als spränge da etwas über, von einem zum andern. Eine Art geistiger Infekt? Vielleicht, das bleibt dem Betrachter überlassen. Die deutsche Fassung wurde darauf getrimmt, daß der Zuschauer es mit Aliens zu tun habe, die die Kinder „so“ gemacht hätten. Die deutsche Fassung war aber auch um nahezu 7 Minuten gekürzt. Und diese Kürzungen betrafen weniger die (wenigen) Gewaltszenen, als vielmehr die Titelsequenz, die dem Vorspann unterlegt ist: Da werden uns in drastischen (und mittlerweile allseits bekannten) Bildern die Schrecken des Krieges gezeigt, dazu folgen Einblendungen zu den jeweiligen Todeszahlen der einzelnen Konflikte. Der Film geht dann dazu über die (geschätzten) Zahlen der toten Kinder unter den Gesamttodeszahlen einzublenden. Es sind oft mehr als die Hälfte aller Gemordeten. Eine Menge Kriege, die zwischen 1945 und 1976 stattfanden, wurden ausgelassen, man hätte die Zahlen also noch deutlich in die Höhe treiben können, doch kann man davon ausgehen, daß es Regisseur Narciso Ibáñez Serrador nicht darum ging, den Zuschauer schon während des Vorspanns zu vertreiben, sondern daß mit den genannten Kriegen und Konflikten sein Anliegen angemessen verdeutlicht wird. Nachdem die Kinder sich am Ende des Films einer weiteren institutionellen Macht entledigt haben, brechen sie auf zum Festland, wo es „noch Millionen Kinder gibt!“, wie ein Junge meint – und als Antwort erhält: „Und Millionen Erwachsene…“. Es herrscht bei den Kindern also durchaus ein Bewußtsein dessen, was in ihrer Macht liegt. Wozu sie fähig sind.

Narciso Ibáñez Serrador hat im Aufbau, der Dramaturgie und dem Spannungsverlauf deutlich einen Thriller, vielleicht schon einen Horrorfilm gedreht. Als Horrorfilm wurde der Film beworben und sicherlich ist die geschilderte Situation eine für einen Horrorfilm typische. Der Vergleich mit Hitchcocks THE BIRDS (1963) wurde des öfteren gezogen. Nicht nur, daß einen der Vergleich von Kindern und Vögeln an sich schon seltsam anmutet, wird man ¿QUIÉN PUEDE MATAR A UN NIÑO? damit auch nicht gerecht. Es werden Erwartungen geweckt – vor allem, was Spannung betrifft – denen der spanische Film nicht gerecht werden kann. Und es auch nicht will, wenn man sich diese Bilder unvoreingenommen betrachtet. Dies ist kein wirklicher Unterhaltungsfilm (und funktioniert – das sei klar gesagt – nach heutigen Maßstäben sowieso nicht als solcher), denn die Eingangssequenz zermürbt den Betrachter an sich schon sehr. Die Atmosphäre des Films ist von allem Anfang an eine eher entfremdete. Dieses englische Ehepaar, dessen eigenes „Vergehen“ es ist, die eigenen Kinder offenbar nicht mit auf die Reise genommen zu haben, mehr aber noch, daß sie mehrfach über eine Abtreibung des Ungeborenen sprechen (wobei die sechs Wochen vor der Niederkunft auch 1976 nirgends in Europa zu machen gewesen wäre), kann sich sprachlich kaum verständlich machen, sie fühlen sich fremd und auch bedroht. So geraten sie in eine Fiesta und das die Nacht erhellende Feuerwerk wird weder als schön, noch farbenprächtig, sondern lediglich als laut und grell inszeniert. Evelyn bittet Tom schnell, sie zurück ins Hotel zu führen. Hinzu kommt der Zustand der Hochschwangerschaft, der sie eher watschelnd sich bewegen läßt und dadurch zu einer zunächst fast komisch wirkenden Figur macht. Die Begegnungen mit Einheimischen bleiben immer kurz und rein informativ, erst auf der Insel begegnen sie schließlich der Frau eines Fischers, die abgelegen auf der anderen Seite der Insel lebt und ausgesprochen freundlich zu dem Paar ist. Doch während sie die beiden bewirtet, tauchen zwei der Dorfkinder auf und blicken ihren offenbar noch nicht infizierten Genossen tief in die Augen. Als Tom und Evelyn mit dem Jeep die Flucht ergreifen und die Fischersfrau zurücklassen, zieht die sich von der Hütte entfernende Kamera auf und nimmt den hinter der kleinen Bucht aufragenden Felsen in den Blick, über den sich Massen von Kindern ergießen. Es sind Momente und Bilder wie dieser, aus denen sich der Schrecken des Films speist. Und es ist auch dieses Bild, welches am ehesten an Hitchcocks früheren Film gemahnt.

Aber ¿QUIÉN PUEDE MATAR A UN NIÑO? ist eher ein abstrakter Film, der sein hauptdarstellerisches Ehepaar einem Exempel gleich ihre Passion durchleben läßt. Eher als an ein Kommerzspektakel wie THE BIRDS, gemahnt der Film an solch abseitige Perlen des europäischen fantastischen Films wie den britischen THE WICKER MAN (1973). Dort findet sich eine ähnliche Atmosphäre der Entfremdung und Bedrohnis, eine ähnlich ausweglose Situation. Es wird Serrador nicht abzusprechen sein, daß sein Werk auch den historischen Zeitpunkt seines Entstehens widerspiegelt. Und das eher gewollt, denn ungewollt. Der Diktator Franco war seit einem Jahr tot und es hatte die Transition begonnen, jene Jahre, die Spanien geordnet aus der Diktatur in die Demokratie überführen sollte. Es war ein müdes, nahezu gelähmtes Land zum Zeitpunkt der Entstehung und Dreharbeiten des Werkes. Genau das kommt in den sonnendurchfluteten Bildern von ¿QUIÉN PUEDE MATAR A UN NIÑO? auf eine seltsam verträumte Art zum Ausdruck: Allegorisch liegt das Dorf in einer Art Dornröschenschlaf. Was erwacht, sind nicht die alten Kräfte, die haben es – schlimmstenfalls durch Ignoranz, wie sie die Engländer Tom und Evelyn symbolisieren – versaut. Sie hatten ihre Gelegenheit(en), ihre Utopien, ihre Ideen und Lebensstile zu verwirklichen und das – der Vorspann hat es ja überdeutlich gezeigt – hat immer das Opfer einer Zukunft gefordert. Die neuen Kräfte, die Kinder, formieren sich und brechen auf in eine Zukunft, unbelastet vom Gestern, von dem sie sich radikal befreien. Allerdings verharrt der Film da zumindest ganz in den Methoden des Gestern, denn offenbar muß auch diese Vergangenheit erst mit Gewalt zerstört werden, um „unbelastet“ in die Zukunft gehen zu können. Es sind also eher revolutionäre Methoden, denn psychologische Einsichten, die die Filmemacher hier antreiben und verbreiten.

¿QUIÉN PUEDE MATAR A UN NIÑO? ist ein hochinteressanter Film, der kaum taugt, um sich einfach unterhalten zu lassen. Es ist aber eine Wegmarke des spanischen Kinos, aber durchaus auch ein Beispiel dessen, was gern das „rote Jahrzehnt“ genannt wird – die 70er Jahre und ihr linkskulturelles Milieu. Einer Reminiszenz gleich scheint der Film noch einmal die Ängste, die Inhalte, Methoden und künstlerischen Verarbeitungsprozesse all dessen in jener uns fernen Zeit auszubreiten. Und das ist ein eher archivarisches Vergnügen.

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